Der lange Sommer in 2023: Warum müssen wir über die Proteste in Serbien sprechen?

Analyse

Zehntausende Menschen gehen in Serbien seit 15 Wochen hintereinander auf die Straße. Die Proteste richten sich gegen das vorherrschende Klima der Gewalt in der Gesellschaft, das von den regierenden Politikern, regierungsfreundlichen Medien und Boulevardzeitungen ständig normalisiert und gefördert wurde.

Eine Straße in Serbien voller Demonstrierender

Der perfekte Sturm

Im Mai kam es in Belgrad zu Protesten als Reaktion auf zwei schreckliche Massenerschießungen, die sich innerhalb von zwei Tagen ereigneten. Am 3. Mai tötete ein 13-jähriger in der Belgrader Grundschule „Vladislav Ribnikar“ neun seiner Mitschüler*innen und einen Schulwärter und verletzte sechs weitere Kinder und eine Lehrerin. Noch immer unter Schock und Entsetzen wurde Serbien am nächsten Tag mit einer neuen Tragödie konfrontiert, als ein 21-Jähriger in Dörfern in der Nähe von Mladenovac und Smederevo acht Menschen tötete und 14 verwundete, zumeist Jugendliche.

Der Schock und das Entsetzen lösten die aufgestaute Wut der Bürger*innen aus und vereinten alle Teile der Gesellschaft zu groß angelegten Protesten. Sie richten sich gegen den chronischen Mangel an politischer Verantwortlichkeit und das vorherrschende Klima der Gewalt in der Gesellschaft, das von den regierenden Politikern, regierungsfreundlichen Medien und Boulevardzeitungen ständig normalisiert und gefördert wurde. Die politische Opposition, hauptsächlich von der liberalen und linken Seite des ideologischen Spektrums, schloss sich den Bürger*innenprotesten ohne Parteifahnen oder -symbole an und brachte ihre Forderungen im serbischen Parlament vor.

Der Ausbruch der Proteste kommt nicht überraschend, da es bereits zuvor zahlreiche Fälle von Bürger*innenprotesten gegeben hat. Warum also sind diese Proteste mitten in der Sommerferienzeit wichtig und aufsehenerregend?

Die Größe spielt eine Rolle, ebenso wie die Beständigkeit

Eines der ersten Dinge, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, ist das Ausmaß der Proteste, sowohl im Hinblick auf die Größe der Proteste in Belgrad als auch auf die Tatsache, dass sich Menschen in fast 40 Städten und Gemeinden in ganz Serbien beteiligten. Eine endlose Kolonne von Bürger*innen ging am 8. Mai zum ersten Mal auf die Straßen Belgrads und marschierte in völliger Stille von der Nationalversammlung zum Regierungsgebäude, wo ihre Forderungen verlesen wurden. Gelegentlich waren Aufrufe zu Rücktritten zu hören. In der darauf folgenden Woche versammelten sich weiter Zehntausende Menschen zu Massenprotesten, blockierten die Autobahn auf der vielbefahrenen Brücke „Gazela“ in einer zwei Kilometer langen Kolonne von Demonstrant*innen, die im ströhmenden Regen vor dem serbischen Rundfunk verlangten, dass der öffentlich-rechtliche Sender über die Proteste und ihre Forderungen berichtet. Sie umkreisten den Sitz des Präsidenten der Republik und protestierten vor dem Gebäude des regierungsnahen Fernsehsenders Pink, um die Streichung seiner berüchtigten Reality-Shows mit gewaltverherrlichenden und bösartigen Inhalten zu fordern.

Die anfängliche Reaktion von Präsident Vučić und seiner Regierungspartei zielte darauf ab, die Macht und das Potenzial der Bürger*innenrevolte herunterzuspielen. Dabei reichten die Techniken von täglichen Ansprachen über regierungsnahe Medien zur Diskreditierung der Demonstrant*innen,  über die Verschleierung der Ausmaße der Kundgebungen (durch die Verbreitung falscher Informationen und der erheblichen Herabstufung der Zahl der Demonstrant*innen), bis hin zur Organisation regierungsfreundlicher Gegenkundgebungen.

Einer der Gründe für vorsichtigen Optimismus ist eine recht gut koordinierte Reaktion der Oppositionsparteien, die wiederum zu einer größeren Unterstützung für sie führte. Als Reaktion auf den vorherrschenden Wunsch, die Proteste bürgerlich zu halten, leisteten die Oppositionspolitiker*innen organisatorische Unterstützung in technischer Hinsicht und ließen gleichzeitig Raum für die Stimme ausgewählter parteiunabhängiger Redner*innen. Eine ganze Reihe von Redner*innen hat verschiedene Skandale des Regimes, seine versäumte institutionelle Reaktion und politische Verantwortungslosigkeit angeprangert und eine gemeinsame Botschaft gegen die anhaltende politische Gewalt geschickt.

Laut dem Journalisten Aleksandar Gubaš, einem der wenigen vertrauenswürdigen Chronisten der serbischen Proteste, fanden vier der sieben größten Kundgebungen seit 1990 nach den Mai-Ereignissen statt. Der dritte und fünfte Protest unter dem Namen "Serbien gegen Gewalt ", an denen jeweils etwa 55 – 60.000 Menschen teilnahmen, waren die zweitgrößten politischen Versammlungen seit den Demonstrationen vom 5. Oktober 2000. Noch wichtiger ist, dass ihr Mobilisierungspotenzial, mit dem sie die Straßen Belgrads erobern konnten, seit 2000 beispiellos ist. Mindestens fünfmal stärker als das von Aleksandar Vučić bei seinen repräsentativsten Kundgebungen und nur mit den Belgrader Protesten vergleichbar, die 1996/97 durch den Wahldiebstahl ausgelöst wurden, wie Gubaš betonte. Die Massenproteste halten auch in den heißen Sommermonaten an, wenn auch mit einer geringeren Beteiligung in der serbischen Hauptstadt, aber immer noch mit etwa fünfmal mehr Teilnehmenden als bei den Protesten im Sommer von 2019, die "1 von 5 Millionen" genannt wurden.

Der Funke der Bürgerenergie breitet sich im ganzen Land aus

Trotz Sommerferien, heftiger Gewitter und den Bemühungen der Regierungspartei, die Proteste zu untergraben, hielten diese nicht nur an, sondern weiteten sich sogar auf eine Reihe von Städten in ganz Serbien aus. Seit Mai haben mehr als 170 Proteste unterschiedlicher Größe in fast 40 Städten und Gemeinden stattgefunden. So fanden allein in der Woche vom 17. bis zum 22. Juli insgesamt 21 Proteste statt. Die Bedeutung ihrer Ausweitung auf kleinere Städte und Gemeinden kann nur im Zusammenhang mit dem politischen Druck verstanden werden, dem die Bürger*innen in kleineren Gemeinden ausgesetzt sind, wenn sie sich der regierenden Partei widersetzen oder an Protesten teilnehmen, wie Bürgervereinigungen und Nichtregierungsorganisationen berichten.

Diejenigen, die mutig genug sind, Stellung zu beziehen, riskieren zumindest, zur Zielscheibe einer gut funktionierenden Maschinerie für orchestrierte Angriffe und Verleumdungskampagnen zu werden, die von der Regierungspartei eingesetzt werden, um Kritiker des Regimes zu diskreditieren und einzuschüchtern. Ein jüngstes Beispiel ist eine solche Kampagne, die sich gegen den Studenten Pavle Cicvarić und seine Familie richtete. Er ist einer der Redner beim Protest "Serbien gegen Gewalt" in Belgrad, die vom Minister für öffentliche Verwaltung und lokale Selbstverwaltung Aleksandar Martinović inmitten einer Parlamentssitzung offen angegriffen wurden, während der Präsident des Parlaments in beschämender Weise schwieg.

Tief verwurzelte Unzufriedenheit – Es gibt keine Blasen mehr, in denen man sich verstecken kann

Die verheerenden Tragödien setzten eine tief verwurzelte Unzufriedenheit der Bürger*innen im ganzen Land frei. Sie sind frustriert über die jahrzehntelangen demokratischen Rückfälle, über die Zerstörung demokratischer Institutionen und Prozesse und verschiedene Versuche, die Macht in den Händen von Präsident Vučić und der regierenden Serbischen Fortschrittspartei, die Mitglied der Europäischen Volkspartei ist, zu festigen. Die Menschen lassen sich nicht länger täuschen, denn die Mehrheit der serbischen Bürger*innen ist der Meinung, dass die Demokratie des Landes zutiefst mangelhaft ist, während ein Viertel es überhaupt nicht als Demokratie ansieht, wie eine aktuelle Meinungsumfrage ergab.

Eine andere Umfrage unterstreicht die überwältigende Enttäuschung über die Leistung von Vučić und der derzeitigen Regierung, deren Ergebnisse von weniger als einem Fünftel der Bürger als gut bewertet werden. Während Vučić mit dem BIP des Landes prahlt und das Parlament umfangreiche internationale Kredite, vor allem aus China und bestimmten arabischen Ländern, genehmigt, berichtet CRTA, das Zentrum für Forschung, Transparenz und Verantwortlichkeit, dass die von Vučić vorgestellten neuen Wirtschaftsmaßnahmen nicht mehr auf überwältigende Unterstützung stoßen, nicht einmal bei den Anhänger*innen des Regimes.   

Schock, Trauer und Wut über die Massenerschießungen haben alle Risse im System offenbart. Während Premierministerin Ana Brnabić wiederholt beteuert hat, dass "das System nicht versagt hat", sahen sich Eltern im ganzen Land mit der schrecklichen Realität konfrontiert - Kinder sind nicht einmal in ihren Schulen sicher und können es auch nicht sein. Se leben in einer tief gespaltenen, misstrauischen Gesellschaft, in der Gewalt und Diskriminierung den öffentlichen Raum beherrschen, nicht nur in regimefreundlichen Medien und Boulevardzeitungen, sondern sogar innerhalb der Institutionen durch Verleumdungskampagnen im Plenum des Parlaments. Die Auswirkungen einer solchen Atmosphäre spiegeln sich in allen Bereichen der Gesellschaft wider, wie die erschreckende Statistik von 22 Fällen von Frauenmord in den ersten sieben Monaten des Jahres 2023 zeigt.

Die Proteste offenbaren die Folgen der Stabilokratie, die sich in der gesamten Gesellschaft ausgebreitet hat. Es gibt keine sicheren Blasen mehr, in denen sich Unpolitische verstecken können. Die Unterstützung für diese Proteste hat es geschafft, sowohl politische Barrieren als auch Medienblasen zu überwinden. Fast zwei Drittel der Unentschlossenen und jede*r fünfte Anhänger*in der Regierungsparteien, unterstützen die Proteste und ihre Forderungen, die zu einer Verringerung der Gewalt beitragen könnten, wie CRTA berichtet.

Forderungen nach einer institutionellen Antwort

Bei den anhaltenden Protesten wurde eine Liste konkreter Forderungen aufgestellt, die eine politische Rechenschaftspflicht und eine institutionelle Reaktion auf den derzeitigen Zustand der serbischen Gesellschaft verlangen. Diese Forderungen könnten leicht in die Praxis umgesetzt werden, wenn der politische Wille vorhanden wäre. Zusammen mit dem Druck einer vereinten Zivilgesellschaft und der Unterstützung von Abgeordneten der Opposition gelang es den Protesten, das serbische Parlament zumindest einen Schritt näher an die aktive Rolle heranzuführen, die ein oberstes Vertretungsorgan bei der Erfüllung der Forderungen der Bürger*innen haben sollte. Doch der Weg zur Wiedererlangung der Macht der Bürger*innen und des Parlaments ist dornig und wird von der regierenden Mehrheit behindert.

Die Demonstrant*nnen fordern die Entlassung von drei Ministern wegen ihrer Verantwortung für den Zusammenbruch des Systems und ihrer unzureichenden Reaktion, von denen nur der Bildungsminister Branko Ružić unter dem Druck der Öffentlichkeit zurücktrat. Die anderen Forderungen wurden ignoriert. Darunter die nach der Ablösung des Innenministers Bratislav Gašić und des Leiters des Geheimdienstes Aleksandar Vulin. Gegen Vulin wurde vor kurzem vom US-Amt zur Kontrolle von Auslandsvermögen Sanktionen verhängt, wegen Förderung der Korruption in den Regierungsinstitutionen, seiner Verwicklung in das grenzüberschreitende organisierte Verbrechen, wegen illegaler Drogengeschäfte und des Missbrauchs öffentlicher Ämter zur Förderung bösartiger Aktivitäten Russlands. Die Forderung nach dem Rücktritt der Mitglieder des Rates der Regulierungsbehörde für elektronische Medien (REM) führte zu nur einem Rücktritt.

Der Forderung, eine Parlamentssitzung einzuberufen, um die Lage des Landes nach den beiden tragischen Ereignissen zu erörtern, wurde nachgekommen, allerdings mit erheblichen Verzögerungen. Nach mehrfachen Aufforderungen und Druck seitens der Zivilgesellschaft und der Opposition berief Parlamentspräsident Vladimir Orlić eine Plenarsitzung des Parlaments mit vier Tagesordnungspunkten ein, die den Forderungen der Proteste entsprachen. Die Marathon-Diskussionen über diese Punkte, die sich über mehr als 20 Tage hinzogen, waren geprägt von hitzigen Debatten, Obstruktionen, starken Politisierungen sowie Verleumdungskampagnen, die darauf abzielten, die Opposition und die Demonstrant*innen zu delegitimieren. Die parlamentarische Mehrheit und insbesondere die Serbische Fortschrittspartei haben einmal mehr gezeigt, dass sie nicht bereit sind, die parlamentarischen Mechanismen effektiv zu nutzen und eine sinnvolle und substanzielle parlamentarische Aufsicht und Kontrolle auszuüben.

Die übrigen Forderungen der Demonstrant*innen blieben bisher völlig unberücksichtigt, darunter die Forderung nach Schließung von Boulevardzeitungen und berüchtigten Tageszeitungen, die gefälschte Nachrichten veröffentlichen, Desinformationen verbreiten und gegen den journalistischen Kodex verstoßen, die Forderung nach Entzug der nationalen Sendelizenzen von Sendern wie TV Pink und TV Happy, die für die Manipulation ihrer Zuschauer*innen und die Förderung von Gewalt und Aggression bekannt sind, die Streichung von Reality-Shows und aller Programme, die Gewalt und Aggression fördern, die in Medien mit nationalen Sendelizenzen ausgestrahlt werden, und die Ablösung des Vorstands des serbischen Rundfunks (RTS).

Auf der Suche nach einem Epilog

Es überrascht nicht, dass die Parlamentssitzung ohne ein nennenswertes Ergebnis beendet wurde. Der fehlende politische Wille der regierenden Mehrheit, sich wirklich mit den Forderungen der Bürger*innen zu befassen, war von Anfang an offensichtlich.

Die Mehrheit im Parlament beschloss, das Misstrauensvotum gegen Minister Gašić nicht zu unterstützen. Die Einsetzung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der das einzige produktive Ergebnis dieser Parlamentssitzung zu sein schien, wurde durch die Handlungen der regierenden Mehrheit zum Scheitern verurteilt, noch bevor er seine Arbeit aufnehmen konnte. Nach massivem Druck durch regierungsnahe Medien, Versuchen von Abgeordneten und politischen Analytiker*innen, diesen parlamentarischen Aufsichtsmechanismus zu diskreditieren, und irreführenden Interpretationen der Rolle und der Aufgaben des Ausschusses, die die Untersuchung der Tragödien gefährden könnten (einschließlich eines politisierten Appells der Familien der Opfer gegen den parlamentarischen Untersuchungsausschuss), verhinderte das Parlament den Untersuchungsausschuss abrupt mit einer beispiellosen Presseerklärung. Die kurze Lebensdauer des Untersuchungsausschusses ist ein weiteres Beispiel für die allergische Reaktion der regierenden Mehrheit auf politischen Pluralismus und politische Rechenschaftspflicht. Sie verstößt gegen parlamentarische Regeln und Verfahren und behindert die wirksame Nutzung der parlamentarischen Mechanismen. Trotzdem kämpfen die Opposition und die Zivilgesellschaft weiter für eine institutionelle Antwort.

Während die regierende Mehrheit offensichtlich hofft, dass die Sommerferien dazu beitragen werden, die Bürger*innen und die Flamme ihrer Proteste abzukühlen, lassen das Ausmaß und die Hartnäckigkeit der Proteste sowie die Klarheit der Protestforderungen Raum für vorsichtigen Optimismus, dass der lange Sommer eher dazu dienen wird, die Batterien der Bürger*innen wieder aufzuladen.

 

Erstveröffentlichung 8. August 2023 in englischer Sprache: The Long Summer of 2023: Why do we need to talk about the protests in Serbia? Heinrich-Böll-Stiftung Belgrad.