„Soziale Gerechtigkeit muss mehr Gewicht in der europäischen Gesetzgebung bekommen“

Interview

Im Interview mit Dr. Christine Pütz kommentiert Terry Reintke, Vorsitzende der Grünen/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament, die Ergebnisse der Studie «Selbstverständlich Europäisch?! Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger im Kontext von Krise und Transformation» und plädiert für ein verlässliches und solidarisches Engagement Deutschlands. ► Zu allen Inhalten der «Selbstverständlich europäisch?!» Studie.

Terry Reintke steht vor einem Industriegebiet und blickt in die Kamera

Christine Pütz: Die Heinrich-Böll-Stiftung hat in Kooperation mit Das Progressive Zentrum zum fünften Mal in Folge eine Umfrage zum Selbstbild der deutschen Bevölkerung über die Rolle Deutschlands in der EU veröffentlicht. Noch deutlicher als im letzten Jahr wünscht sich demnach eine Mehrheit der Befragten eine aktivere Rolle Deutschlands in der EU. Du bist Co-Vorsitzende der Grünen/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament, die aus 17 nationalen Delegationen besteht. Wird dieser Wunsch von deinen europäischen Kolleginnen und Kollegen geteilt?

Terry Reintke: Die Stärke unserer Fraktion ist, dass sie die Vielfalt Europas mit ganz unterschiedlichen Politik-Traditionen und nationalen Kontexten abbildet und unter einem Dach vereint. Gemeinsam kämpfen wir für eine ehrgeizige Klimagesetzgebung, Freiheits- und Grundrechte und soziale Gerechtigkeit in der EU. Und natürlich möchten wir, dass Deutschland bei diesen Zielen auch eine aktivere Rolle einnimmt. Bei allem Einsatz für unsere Ziele ist aber auch immer klar: Deutschland muss hier als verantwortungsvoller verlässlicher Partner in europäischer Solidarität und mit der gebotenen Sensibilität für die Sorgen anderer gemeinsame Lösungen finden.

Gender Pay Gap, Mindestlöhne, Klimagesetzgebung, Sanktionen. Ich sehe auch, was wir schon alles in Brüssel geschafft haben, seit die Ampelregierung im Amt ist.

Die Bundesregierung steht vor enormen Herausforderungen. Sie muss kurzfristiges Krisenmanagement und langfristige Zukunftsgestaltung miteinander verbinden. Dreiviertel der Bürgerinnen und Bürger sind der Meinung, dass die Bundesregierung ihrem im Koalitionsvertrag formulierten Gestaltungsanspruch in der Europapolitik bisher nicht gerecht wird. Wie schaust du als Mitglied des Europäischen Parlaments, das in der Regel eine treibende Kraft ist, wenn es um Politikgestaltung und Reformen in der EU geht, auf die deutsche Europapolitik?

Ich sehe, was wir schon alles in Brüssel geschafft haben, seit die Ampel-Regierung im Amt ist. Vieles verläuft ja auch geräuschlos, das nimmt man in der Öffentlichkeit vielleicht nicht immer so wahr. Zum Beispiel die Richtlinie zur Lohntransparenz gegen den Gender Pay Gap, die neuen einheitlichen Regeln zur Festsetzung von Mindestlöhnen, und natürlich die Erfolge bei der Klimagesetzgebung. Dann die Einigkeit bei den Sanktionen gegen Russland, der Einsatz für Rechtsstaatlichkeit und Grundfreiheiten. Da dürfen wir jetzt nicht lockerlassen. In Brüssel wird aber auch sehr deutlich wahrgenommen, wer konstruktiv ist und vorangeht und wer aussitzt oder sogar ausbremst. Ich höre zurzeit oft die Frage, wie es sein kann, dass der Kanzler der SPD es zulässt, bei Sozial- und Klimathemen von der FDP in Brüssel vorgeführt zu werden.   

Angesichts der enormen Herausforderungen, vor denen Europa steht, trägt Deutschland als größter Mitgliedstaat eine besondere Verantwortung, die - wie du bereits beschrieben hast -  mit hohen Erwartungen vieler EU-Partner einhergeht. Welche Rolle aber sollte Deutschland in der EU einnehmen? Im Koalitionsvertrag ist von einem „dienenden Verständnis für die EU als Ganzes“ die Rede. Kann die Bundesregierung diesem Anspruch überhaupt gerecht werden? Deutschland verfolgt in Brüssel, wie andere Mitgliedsstaaten auch, seine eigenen Interessen – wie zuletzt die Last-Minute-Blockade des eigentlich ausverhandelten Verbots von Verbrennungsmotoren in neuen Autos ab 2035 verdeutlicht.

Deutschland ist der Mitgliedstaat, der mit am meisten vom EU-Binnenmarkt und einer starken europäischen Integration profitiert. Insofern verteidigt Deutschland immer auch seine eigenen Interessen, wenn es im gemeinschaftlichen Interesse der europäischen Integration entscheidet und handelt. Das heißt: Partikularinteressen mit der Brechstange gegen vorab getroffene Vereinbarungen durchzusetzen, ist nicht im europäischen Sinne und schadet damit auch dem deutschen Interesse.     

Deutschland muss versuchen, früh Kompromisse zu schmieden.

Eine Mehrheit der Befragten hat sich für Reformen ausgesprochen, allen voran die Abschaffung des Vetorechts im Europäischen Rat, um die EU handlungsfähiger und fit für die Erweiterung zu machen. Auch die Grünen sind für die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen. Viele der kleinen Mitgliedstaaten haben allerdings große Bedenken, weil es ihr politisches Gewicht enorm schwächen würde. Wie sollte Deutschland mit diesen Bedenken umgehen?

Ich hoffe, dass wir hier bald vorankommen. Das wird aber nur gehen, wenn wir die kleineren Mitgliedstaaten glaubhaft mit an Bord nehmen. Deutschland muss eigene Positionen früh kommunizieren, gleichzeitig Bedürfnisse und Befindlichkeiten der kleineren Mitgliedstaaten aufnehmen und versuchen, früh Kompromisse zu schmieden. Ich denke, dazu ist die Mehrheit der kleineren Staaten auch bereit, weil auch sie unzufrieden mit der derzeitigen Situation sind. Wenn es etwa darum geht, Russlands Kriegstreiber Putin mit der gebotenen Geschlossenheit die Stirn zu bieten, darf es keine Erpressung durch einzelne Mitglieder geben. Denn darum geht es hierbei: Dass einzelne Länder nicht mehr die gesamte Union in Geiselhaft nehmen können.

Wir müssen immer wieder aufzeigen, wie sehr Deutschland vom europäischen Binnenmarkt und der EU profitiert.

Die Studie erscheint dieses Jahr zum fünften Mal in Folge. In der Langzeitperspektive fällt auf, dass der Glaube an den wirtschaftlichen Nutzen der EU tendenziell abnimmt, die Erwartung an die Handlungs- und Lösungsfähigkeit der EU aber weiterhin hoch bleibt. Was bedeutet diese Diskrepanz und wie sollte die Politik damit umgehen?

Die Europäische Union wird offensichtlich - und völlig zu Recht - als Gemeinschaft wahrgenommen, die gemeinsame Lösungen herbeiführt, die für die Gesamtheit der Europäer*innen mehr Nutzen bringen als nationale Einzellösungen. Das ist der Fall bei Herausforderungen, die die gesamte EU betreffen, etwa in der Corona-Krise. Wir haben uns zum Beispiel auf einen europäischen Impfpass geeinigt oder gemeinsam Impfstoffe beschafft. Jetzt, beim russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und bei der Klimakrise, sehen die Bürger*innen ganz deutlich: Diese Herausforderungen können wir in Europa nur gemeinsam bewältigen. Für uns heißt das: Wir müssen immer wieder aufzeigen, wie sehr Deutschland vom europäischen Binnenmarkt und der EU profitiert.

Die Europäische Union ist auf einem Wohlstandsversprechen gegründet. Wir müssen das für alle glaubhaft umsetzen.

Die Ergebnisse der Umfrage machen deutlich, dass die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger gerade in den Themenfeldern mehr Europa wollen, in denen die Unsicherheit derzeit besonders hoch ist: Energieversorgung, Verteidigungsfähigkeit, ebenso wie Inflationsbekämpfung und soziale Sicherheit. Die Umfrage hat wie in den Vorjahren auch gezeigt, dass vor allem ökonomisch vulnerablere Gruppen den Nutzen Europas in Frage stellen. Sie zweifeln offensichtlich daran, dass sich Europa positiv auf ihre eigene Lebensrealität auswirkt. Wie kann Europa sein Versprechen von Wohlstand für alle erneuern und den sozialen Zusammenhalt stärken?

Wir müssen das sehr ernst nehmen, soziale Gerechtigkeit muss mehr Gewicht in unserer Europa-Politik und in der europäischen Gesetzgebung bekommen. Die Corona-Krise und davor noch die Finanz- und Wirtschaftskrise haben soziale Ungleichheiten verstärkt, viele Menschen kämpfen um ihr finanzielles Auskommen. Das ist der Punkt, an dem wir ansetzen müssen. Die Europäische Union ist auf einem Wohlstandsversprechen gegründet. Wir müssen das für alle glaubhaft umsetzen. Wir müssen endlich auf europäischer Ebene eine soziale Erzählung finden und einlösen, die auch praktisch bei den Menschen ankommt. Wir haben zum Beispiel neue Regeln zu Mindestlohn und Mindesteinkommen verabschiedet, das ist ein wichtiger Schritt nach vorn, das reicht aber nicht. Wenn es etwa um die Klimagesetzgebung geht, muss die soziale Dimension mitgedacht werden. Deshalb fordern wir einen EU-Investitionsfonds, der Privathaushalten beim Stemmen von Hausdämmung, Solarpanels oder Wärmepumpen hilft, außerdem kleineren und mittleren Unternehmen bei der Umstellung auf erneuerbare Energien.

Die Grüne Transformation muss jetzt vorangetrieben werden.

Die Bürgerinnen und Bürger sprechen sich wie bereits in den Vorjahren mit großer Mehrheit für gemeinsame Investitionen in Zukunftsthemen aus. Eine Mehrheit von 56 Prozent unterstützt zudem konkret einen EU-Investitionsfonds zur Förderung einer grünen klimaneutralen Industrie in Europa. Welches sollten aus deiner Sicht die nächsten Schritte in Richtung Zukunftsinvestitionen sein?

Die Grüne Transformation muss jetzt vorangetrieben werden, wenn wir die Pariser Klimaziele noch einigermaßen erreichen wollen. Wir müssen auf erneuerbare Energien setzen und Unternehmen dabei unterstützen, klimaneutral zu produzieren. Große energieintensive Industrieunternehmen wie etwa ThyssenKrupp rechnen für die Zukunft fest mit grünem Wasserstoff. Die Industrie ist also bereit, aber sie muss auch unterstützt werden. Und zwar überall - nicht nur in Deutschland, auch in Italien oder Polen. Die USA machen es vor und gewähren Unternehmen, die klimaneutral produzieren, massive Steuernachlässe. Wenn wir nicht wollen, dass die europäische Industrie auf absehbare Zeit museumsreif ist, weil alle innovativen Unternehmen abgewandert sind, dann müssen wir jetzt massiv in erneuerbare Energien und klimaneutrale Technologien investieren. Wir müssen - analog zum Corona-Fonds - einen gemeinsamen europäischen Investitionsfonds schaffen.

Beim russischen Angriffskrieg geht es auch um die Verteidigung unserer modernen demokratischen Gesellschaftsordnung.

Eine letzte Frage zum Abschluss: Du setzt dich stark für Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenrechte ein. Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine steht Europa vor neuen Herausforderungen. Wie können wir verhindern, dass Demokratiefragen den neuen Imperativen der europäischen Sicherheit und den dafür nötigen Allianzen in der EU untergeordnet werden.

Beim russischen Angriffskrieg auf die Ukraine geht es doch darum: Gewaltsam will Putin sein autoritäres System seinem souveränen Nachbarstaat überstülpen, weil dieser sich für die Öffnung Richtung EU und damit für das Modell der wertebasierten freiheitlichen Demokratie nach westlichem Vorbild entschieden hat. Es geht hier also auch um die Verteidigung unserer modernen demokratischen Gesellschaftsordnung, die auf Rechtsstaatlichkeit, Grundrechten und Grundfreiheiten gebaut ist. Wenn die europäische Solidarität gegen Putins Angriffskrieg nun dazu führt, dass die Aushöhlung des demokratischen Rechtsstaates geduldet wird, ist das der größte Fehler, den wir begehen können.