„Einmischung erwünscht“: Heinrich Böll und seine PEN-Präsidentschaft 1970 bis 1974

Hintergrund

Vor 50 Jahren erschien in der New York Times ein Artikel Heinrich Bölls mit dem Titel "A Plea for Meddling" (dt.: Einmischung erwünscht). Böll plädierte darin, sich in allen Ländern der Welt einzumischen, wenn es darum geht, politischen Gefangenen zu helfen und ihre Freilassung zu erwirken. Der Text ist über die Jahre zu einem besonderen Dokument für das weltweite Menschenrechts-Engagement geworden. Bölls Forderungen gelten heute noch. Auch deshalb hat die Heinrich-Böll-Stiftung bei ihrer Gründung ein Zitat aus dem Artikel zum Motto ihrer Arbeit erhoben: "Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben."

Zeichnung von Heinrich Böll vor einem grünen Hintergrund

Vor 50 Jahren, am 18. Februar 1973, erschien der Text „Einmischung erwünscht“ in englischer Sprache in der New York Times unter dem Titel „A Plea for Meddling“. Mit diesem Text widersprach Böll der Auffassung, dass die weltweite Entspannung, die sich in den florierenden Wirtschaftsbeziehungen der Machtblöcke in Ost und West bemerkbar machte, positive Auswirkungen auf die Einhaltung der Menschenrechte hätte. Böll benennt in diesem Text Systeme und Staaten, Organisationen und Institutionen, Täter und Opfer. Die zunehmende Verfolgung von Schriftstellern und Intellektuellen in aller Welt provozierte Böll zu der Forderung, das „heuchlerische Konzept“ der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten aufzugeben. Dass diese Forderung von der Politik als idealistische Träumerei abgetan werden würde, war Böll bewusst. Dennoch hielt er an seiner Vorstellung fest:

 

„Wir Autoren sind die geborenen Einmischer, wir mischen uns ein […]. Das klingt idealistisch, ist es aber nicht. Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben“.

 

Herbert Mitgang, ein Mitherausgeber der New York Times, hatte über den amerikanischen PEN-Club Kontakt mit Heinrich Böll, der damals Präsident des Internationalen PEN war, aufgenommen, um ihn um einen Essay über den weltweiten Zustand der Menschenrechte für seine Zeitung zu bitten.

Böll und der PEN

Heinrich Böll war schon unmittelbar nach dem Krieg im Mai 1945 bewusst, dass aus einer nationalsozialistischen Diktatur „über Nacht“ keine demokratische Gesellschaft entstehen kann. Misstrauisch beobachtete er die Entwicklungen der Adenauer-Regierung. Er war entsetzt über den laschen Umgang mit Kriegsverbrechern, die Bevorzugung der Aktionäre bei der Währungsreform und das fehlende Bewusstsein für eine Aufarbeitung der Vergangenheit. Als unbekannter Schriftsteller hatte er nicht das Forum, gesellschaftlich relevante Themen mit Essays oder Artikeln in Literatur- und Kulturzeitschriften zum Faktor öffentlicher Meinungsbildung zu machen. Böll formulierte stattdessen fernab von der „routinepolitischen Sprache“ der Politik in seinen Erzählungen und vor allem in seinen Satiren seine Kritik an den unbefriedigenden Entwicklungen in der Gesellschaft. So gesehen kann „Einmischung erwünscht“ als eine Formel für Bölls schriftstellerisches Selbstverständnis gelesen werden. „Einmischung“ war in der Nachkriegszeit nicht in allen Gesellschaftsgruppen eine selbstverständliche und unabdingbare Voraussetzung einer funktionierenden Demokratie, sondern wurde eher als Querulantentum abgetan. Für Böll war „Einmischung“ aber seit jeher ein Impuls für das Schreiben, da er vorgefundene Strukturen hinterfragen und zur Diskussion stellen wollte, um eine Veränderung zu bewirken.

Heinrich Böll wurde im Mai 1955 auf der Generalversammlung in Darmstadt mit neun weiteren Kandidaten in den Deutschen PEN-Club gewählt. In den 1950er und 1960er Jahren knüpfte er bei seinen Besuchen ins Ausland (Frankreich, Niederlande, Polen, Sowjetunion, Griechenland und Israel) Kontakte zu Autoren und Intellektuellen und versuchte im Rahmen seiner privaten Möglichkeiten, in Not geratenen Schriftstellerkollegen zu helfen. Vor allem Bölls Aufenthalt in Prag im August 1968 während der Invasion, seine Berichterstattung darüber und die Sorge um seine Schriftstellerkollegen machten ihn zu einer glaubwürdigen Instanz. In einem Interview mit Wolfgang Ignée, das unter dem Titel „Reist Böll für Deutschland? Kulturpolitik im Meinungsstreit“ am 26. April 1971 in der Stuttgarter Zeitung erschien, spricht er ausführlich über seine Auslandskontakte und die überschaubaren Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Repressalien gegenüber den Schriftstellerkollegen.

Böll engagierte sich zeitlebens für die Interessen der Schriftsteller in der Bundesrepublik, wie zum Beispiel bei der Gründung des Verbandes Deutscher Schriftsteller (VS). So hielt er bei der Gründungsversammlung des Verbandes am 8. Juni 1969 eine Rede mit dem Titel „Ende der Bescheidenheit“, in der er sich für bessere Arbeitsbedingungen, angemessene finanzielle Entlohnung und Absicherung von Autoren und Schriftstellern einsetzte. Außerdem sprach er auf der Kundgebung von Amnesty International am 11. Januar 1970 in Wuppertal über politische Gefangene und sorgte sich um deren Familien:

 

„Es gilt als unfein, sich in die Innenpolitik anderer Länder einzumischen, sie gar zu kritisieren. Ich glaube aber, dass es eine Integrität der Innenpolitik in diesem Sinne schon lange nicht mehr gibt. Die Schutzwälle müssen übersprungen und durchbrochen werden, und Amnesty International hat damit begonnen, nicht nur zu berichten, sondern auch politischen Gefangenen und deren Familien oder Hinterbliebenen beizustehen.“

 

Für Böll waren Menschenrechte nicht verhandelbar, und er war bereit, nichts unversucht zu lassen, um ihm bekannte Fälle von inhaftierten oder drangsalierten Menschen und ihren Familien zu helfen.

Bölls Reputation in gesellschaftspolitischen und moralischen Angelegenheiten und sein Engagement führten letztlich zu dem Wunsch einiger Schriftstellerkollegen, er möge sich doch für die Präsidentschaft des westdeutschen PEN bewerben. So war es lediglich eine Frage der Zeit, bis Böll seine Kandidatur zum Präsidenten des westdeutschen PEN anmeldete und am 17. April 1970 zum Präsidenten gewählt wurde.

Besonderes Augenmerk legte Böll auf die Grundsätze des Internationalen PEN bzw. deren Charta. Nach dieser kenne die Literatur keine Grenzen und muss auch in Zeiten innenpolitischer oder internationaler Erschütterungen eine allen Menschen gemeinsame Währung bleiben.

Dementsprechend steht der PEN für den Grundsatz eines ungehinderten Gedankenaustauschs innerhalb einer jeden Nation und zwischen allen Nationen. So seien seine Mitglieder verpflichtet, jeder Art der Unterdrückung der freien Meinungsäußerung entgegenzutreten. Denn der PEN steht auf dem Standpunkt, dass der notwendige Fortschritt in der Welt hin zu einer höher organisierten politischen und wirtschaftlichen Ordnung eine freie Kritik gegenüber Regierungen, Verwaltungen und Institutionen zwingend erforderlich macht; das schließe die Presse aber auch ein.

Bereits vor seiner Wahl hatte er sich schon bereit erklärt, einen Vortrag über den Inhalt der PEN-Charta zu halten. In einem Brief vom 6. Juni 1970 an den niederländischen PEN-Generalsekretär Otto Dijk äußerte er sich explizit zur PEN-Charta:

 

„Ich glaube, es hat wenig Sinn, bei unserem Treffen in Holland die Tatsache zu verschweigen, dass unsere Kollegen in den verschiedenen PEN’s der sozialistischen Länder die Charta eigentlich nicht mehr einhalten, und wir sollten darüber reden, ob man von ihnen verlangen kann, sie einzuhalten, ob man sich diplomatisch oder rigoros ihnen gegenüber verhält. Ich bin gern bereit, ein kurzes Referat über dieses Thema zu halten, und finde Ihren Gedanken, die PEN-Charta zum Gegenstand der Tagung zu machen, sehr gut“.

 

Das kurze Referat, das unter dem Titel „Wir dürfen kein Veteranenclub sein“ in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung vom 26. September 1970 veröffentlicht wurde, hielt Böll am 18. September 1970 auf dem Deutsch-Niederländischen PEN-Treffen in Arnheim.

 

„Was sich aus der Charta keinesfalls herauslesen lässt, ist die Interpretation des PEN als eines ausschließlich geselligen Clubs, der Gemütlichkeit und Schulterklopferei zu pflegen habe – und nicht einmal sie, die Geselligkeit, wird ja gepflegt. Liest man die Charta genau, so enthält sie […] viel Aufforderung zur politischen Aktivität und Wachsamkeit. […] Wenn ich noch einmal die Summierung des Einflusspotentials jedes einzelnen PEN-Mitgliedes avisiere – und Ihnen vorschlage, sich anzuschauen, wie wenig mit diesem Potential angefangen wird –, ich glaube, diese Differenz ist einer der Gründe für unser aller Unbehagen.“

 

Am 17. April 1970 wurde Böll zum Präsidenten des westdeutschen PEN-Zentrums gewählt. Zu seinen ersten Amtshandlungen zählen ein Distanzierungsstatement zu den Oberammergauer Passionsspielen, die wegen ihrer antisemitischen Tendenzen immer wieder heftiger Kritik ausgesetzt waren, eine Auseinandersetzung mit dem Saarländischen Rundfunk bezüglich der fristlosen Kündigung des Literaturredakteurs Arnfrid Astel und eine intensivere Beschäftigung mit Ulrich Sonnemanns justizkritischer Studie „Der bundesdeutsche Dreyfus-Skandal“, die 1970 von der bayerischen Justiz verboten wurde. Gemeinsam mit dem Verband deutscher Schriftsteller organisierte der PEN am 26. September 1970, während der Frankfurter Buchmesse eine Lesung aus neuen Werken einiger tschechoslowakischer Autoren, die wegen der Repressionen in ihrem eigenen Lande nicht zur Buchmesse kommen konnten. Böll äußerte in seiner kurzen Einleitungsrede, die unter dem Titel „Gesichtskosmetik der Großmächte ein teurer Spaß!“ in Luzerner Neueste Nachrichten vom 28. November 1970 veröffentlicht wurde, dass man sich nicht neutral und passiv gegenüber Menschenrechtsverletzungen verhalten sollte, sondern überall dort, wo Intellektuelle gefährdet sind, zu intervenieren:

 

„Inzwischen hat man ein schönes Wort gefunden für das, was in der Tschechoslowakei vor sich geht: Normalisierung. Das ist nur ein anderes Wort für Ruhe und Ordnung, und die ruhigsten und ordentlichsten Menschen sind die, die sauber gewaschen mit einem schneeweißen Totenhemd bekleidet im Sarge liegen. Die Normalisierung gleicht einem verordneten Erstickungsprozess, und Ost und West können einander beruhigt in die gewahrten Gesichter sehen.“

 

Am 19. April 1971 konstatierte Die Welt anlässlich der Jahrestagung des deutschen PEN-Club im April 1971 in Nürnberg unter der Überschrift „Ende der Teestunden-Ära“, dass der PEN-Club politischer geworden sei und zitiert Heinrich Böll mit den Worten „Wenn man die PEN-Charta liest, muss man feststellen, dass der PEN-Club gar nicht politisch genug sein kann.“ Auf dieser Versammlung wurde beschlossen, einen ständigen justizkritischen Ausschuss zu wählen, der die Entwicklung der Rechtsprechung mit politischen Inhalten oder Hintergründen begleiten soll. „Anlaß für diesen Beschluss waren konkrete Mißstände aus dem Bereich der rechtspolitischen Praxis in jüngster Zeit. Es wurde erinnert an sehr unterschiedliche, den Verdacht der Rechtsbeugung erweckende Behandlung einer Reihe von Fällen. Einerseits empört die PEN-Mitglieder die Abwürgung der Justizkritik im Fall Sonnemann-Strauß, die Abweisung der Haftbeschwerde Beate Klarsfelds, das zum Racheakt ausgeartete Urteil gegen Fritz Teufel, der formaljuristische Schutz für die reaktionären Angriffe eines Kurt Ziesel gegen Autoren wie Luise Rinser, Bernt Engelmann und Günter Grass. Andererseits richtete sich die Kritik der Versammlung gegen die unbegreifliche Großmut der Justiz gegenüber Gewaltverbrechern und Schreibtischtätern der NS,“ so die Süddeutsche Zeitung vom 19. April 1971.

Für Böll war es wichtig, dass jedem schreibenden PEN-Mitglied dessen gesellschaftspolitische Verantwortung in einer Welt bewusstwerden sollte, die in zwei politische und weltanschauliche Lager gespalten war, dazu das Problem der Rassendiskriminierung und die materielle Not in den Entwicklungsländern kannte. In seinem Beitrag „Warum schreiben wir?“ äußerte sich Böll auf dem Kongress des Internationalen PEN vom 7. bis 12. Mai 1971 im damals jugoslawischen, heute slowenischen Piran:

 

„Es gibt keine Autorschaft ohne gesellschaftliche Wirkung, auch wenn der Autor selbst es leugnet. Meines Erachtens wird er selbst einfach nicht gefragt. Jede veröffentlichte Zeile, auch eine mit Schreibmaschine oder mit der Hand lediglich unter Freunden herumgereichte, ist eine gesellschaftliche Aktion, weil sie gegenwärtig ist, und die Gegenwart ist das, was von uns gefordert wird. […] Was die Literatur benötigt, ist Gesicht, Material und Aktualität. Sie braucht keine Freiheit, sie ist Freiheit. Man kann ihr die Freiheit, veröffentlicht, gedruckt zu werden, entziehen, aber Anwesenheit hängt nicht von der offiziellen Veröffentlichung ab. […] Es existieren viele Einschränkungen, auch in Gesellschaften ohne Zensur, etwa kommerzielle Einschränkungen. Die Konzentration im Verlagswesen hat eine Art kommerzieller Zensur zur Folge. Auch in einer Gesellschaft ohne eine offizielle Zensur wird es ein Autor merken, wenn er Grenzen – Grenzen ohne Namen – ohne Pass überschreitet. Er merkt es, wenn er zu weit geht, weil man auf ihn schießen wird; wie weit er gehen darf oder wie weit er hätte gehen dürfen, das kann niemand vorhersagen. Er muss zu weit gehen, um herauszufinden, wie weit er gehen kann.“

 

Bei diesem Treffen zeigte sich Heinrich Böll und sein diplomatisches Geschick bei einem deutsch-deutschen Thema und in einem Streit zwischen den PEN-Zentren aus Israel und dem Libanon. In den Berichten über diese Tagung wurde Heinrich Böll zum ersten Mal als Kandidat für das Amt des Präsidenten des Internationalen PEN genannt. Diese Tagung veranlasste den österreichischen Schriftsteller und Literaturkritiker Robert Neumann einen Bericht zu verfassen, der am 21. Mai 1971 in der Zeit unter dem Titel „Mein Kandidat: H. Böll“ erschien. Das holländische Zentrum nominierte Heinrich Böll als Kandidaten für die internationale Präsidentschaft, und mehrere Zentren (Österreich, USA, Bundesrepublik Deutschland und DDR) unterstützen diesen Vorschlag. Die ›eigentliche‹ Wahl des neuen Präsidenten musste nach den Statuten auf dem PEN-Kongress in Dublin am 13. September 1971 stattfinden. Nach der Auszählung der Voten von insgesamt 45 Ländern fiel die Wahl zugunsten Heinrich Bölls mit 22 zu 19 Stimmen aus (bei vier ungültigen Stimmen). Helmut M. Braem berichtet für die Stuttgarter Zeitung am 14. September 1971:

 

„Die Wahl Heinrich Bölls ist zwar vor allem auf sein großes Ansehen, das er in vielen Ländern besitzt, zurückzuführen; aber es wird bei Gesprächen der Teilnehmer auch immer hervorgehoben, dass die Wahl Bölls eine politische Bedeutung hat. [...] Nach Ansicht Kamnitzers [Präsident des PEN-Zentrums der DDR] garantiere Böll an der Spitze des Internationalen PEN für eine literarische Weltgemeinschaft, die sich über ideologische Grenzen hinwegsetze.“

 

In seiner Rede „Die internationale Nation“ hob Böll heraus, dass der PEN unabhängig von politischen und diplomatischen Vereinbarungen agieren werde. Es ging ihm in dieser Rede um Internationalität und nicht um Neutralität.

 

„Wenn Sie mich fragen, ob PEN eine politische Dimension hat, so möchte ich Sie einfach auf die Charta hinweisen. Dort finden Sie alles. Die Frage der politischen Dimension bringt uns auf die Frage der Resolutionen. Wir alle sind ihrer müde geworden, manchmal langweilen sie uns sogar, denn wir haben das Gefühl, dass wir einfach unser schlechtes Gewissen erleichtern, indem wir einen Text aufsetzen und an die betreffende Regierung oder Person senden. Ich glaube, wir neigen dazu, unseren möglichen Einfluss entweder zu unter- oder zu überschätzen. Es ist hauptsächlich die Frage, den richtigen Moment zu finden, und wenn jede sechste oder siebente Resolution, zur richtigen Zeit und an der richtigen Stelle überreicht, jemandem ein paar Monate Gefängnis erspart, jeder, der einmal gefangen war, wird wissen, was das bedeutet. Ich vermute nicht nur, ich weiß: Menschen sind durch Resolutionen gerettet worden, nicht nur vor dem Gefängnis, auch vor dem Tod. Um Resolutionen wirksam zu machen, müssen wir uns vor Augen halten, was der eigentliche Geist des PEN ist: sein internationaler Charakter. International zu sein bedeutet, unabhängig von den politischen oder diplomatischen Übereinkünften der großen Mächte zu handeln. Wenn große Mächte und Nationen sich einig werden, sich nicht in ihre Innenpolitik einzumischen, so ist dabei eine Art von permanenter Erpressung im Gange. Alle haben irgendwo ein schlechtes Gewissen, das man leicht dazu ausnützen kann, sie unter dem Vorwand der Höflichkeit zum Schweigen zu veranlassen. Der Internationale PEN sollte diese Art von Erpressung nicht mitmachen. Es ist leicht für Politiker, den Schriftstellerorganisationen ihre Wirkungslosigkeit vorzuwerfen, wenn sie, die die Macht haben, sie nicht dazu benutzen, Menschlichkeit zu mehr als einer bloßen Phrase zu machen. Und was für politische Mächte gilt, das gilt auch für ökonomische. Ich habe noch nie davon gehört, dass ein Stahlkonzern einen Preisnachlass für die Freilassung eines Schriftstellers im Gefängnis angeboten hätte – oder, was genauso notwendig wäre – für die Freilassung eines gefangenen Busschaffners.“

Gegen die Auswüchse der freien Presse

Wie schwierig es sein kann, der PEN-Charta Wirkung zu verschaffen, erlebte Böll im Januar 1972. Ein Punkt der Charta lautet, dass die Mitglieder des PEN sich verpflichten,

 

„Auswüchsen einer freien Presse, wie wahrheitswidrigen Veröffentlichungen, vorsätzlicher Lügenhaftigkeit und Entstellung von Tatsachen, unternommen zu politischen und persönlichen Zwecken, entgegenzuarbeiten“.

 

Mit diesem Passus der Charta setzte sich Böll schon länger auseinander, und er erstrebte eine öffentliche Debatte über die Machtkonzentration des Springer-Verlags und über die Methoden der Manipulation. Anlass war eine Titelgeschichte der Bild-Zeitung vom 23. Dezember 1971, die dazu führte, dass sich Böll im Spiegel vom 10. Januar 1972 zum ersten Mal zum Thema Terrorismus äußerte. Unter dem Titel „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ argumentierte er nicht für die Gruppe um Andreas Baader und Ulrike Meinhof, sondern gegen die Berichterstattung der Bild-Zeitung, die in Bölls Wahrnehmung zur Lynchjustiz auffordere. Ihm war bewusst, dass er mit diesem Text polarisieren würde, und erwartungsgemäß äußerten sich am nächsten Tag die Springer-Zeitungen Bild und Welt  zu Heinrich Bölls Artikel. Aber schon kurz nach der Veröffentlichung wurde deutlich, dass der Artikel, der eindeutig gegen die Bild–Zeitung gerichtet war, in einen für Ulrike Meinhof umgedeutet wurde und die öffentliche Wahrnehmung Heinrich Bölls im Jahr 1972 besonders und die nächsten Jahre stark prägte.

Am gleichen Tag der Spiegel-Veröffentlichung äußerte sich Böll als Präsident des internationalen PEN im Politik-Magazin Panorama über die Verurteilung des sowjetischen Schriftstellers und Dissidenten Vladimir Bukowski. Er könne, so argumentierte er in der Sendung, ohne sich mit dem Internationalen PEN und ihren Gremien abzusprechen, keine öffentlichen Stellungnahmen abgeben. Auch müsste zuerst geprüft werden, ob auf anderen Wegen Bukowskis Situation verbessert werden könne. Das Erscheinen des Spiegel-Artikels und Bölls Fernsehauftritt am gleichen Tag war zwar ein bloßer Zufall, sollte aber im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung zu dem Narrativ zusammengeführt werden, Böll setze sich zwar für die Verteidigung der Terroristen ein, versage hingegen den Dissidenten in der Sowjetunion jegliche Form der Unterstützung. Am 16. Januar 1972 forderte Hans Habe unter dem Titel „Treten Sie ab, Herr Böll“ in der Welt am Sonntag:

 

„Böll, eine Mischung aus Albert Schweitzer, Schwejk und Fritz Teufel, spielt die Rolle des Biedermanns, teils des Brandstifters. […] Es sei ‚dringlich‘ geworden, sagte Böll in London, dass der PEN zur Umweltverschmutzung Stellung nehme. Aber von der intellektuellen Umweltverschmutzung der Sowjets will Moskaus westlicher Liebling, der sich, wie die Amerikaner sagen würden, als ‚Goodie-Goodie‘ ausgibt, als ein Hans-Wohltäter-in-allen-Gassen, nichts wissen. […] Sibirien ist eine kalte Zone, sie lässt ihn kalt. Doch kann der Präsident auch anderes. Ein paar Tränen hat er schon übrig, der zum westlichen Popanz hinaufgelobte Bestseller-Autor, und diese vergießt er im Monopol-Nachrichtenmagazin für Ulrike Meinhof. […] Der internationale Präsident vertritt die Freiheit der Terroristin Meinhof. Die Freiheit des Intellektuellen Bukowski vertritt er nicht. […] Faschismus wäre es, wenn Präsident Böll auf seinem Posten verharrte.“

 

Die Auseinandersetzungen zu diesem Thema nicht nur in der Presse, sondern auf vielen gesellschaftlichen Ebenen und sogar im Deutschen Bundestag schienen für Böll mit ein Grund dafür zu sein, nicht mehr als Präsident des bundesdeutschen PEN zu kandidieren. Die Jahresversammlung des PEN-Zentrums in Dortmund vom 6. bis 8. April 1972 war für ihn die letzte als Präsident. Der Kölner Stadt-Anzeiger vom 10. April 1972 zitierte Böll:

 

„Er hat ausdrücklich betont, dass er nicht zurücktrete; ‚ich kandidiere bloß nicht mehr‘. Aber es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass es nicht nur wegen Arbeitsüberlastung durch seine Tätigkeit als internationaler PEN-Präsident, sondern auch wegen der Vorfälle in den letzten Wochen und Monaten nicht mehr kandidierte.“

 

Böll engagierte sich aber weiterhin im deutschen PEN. Als Präsident des Internationalen PEN organisierte er die turnusmäßige Jahrestagung, die vom 13. bis 18. November 1972 in der Akademie der Künste in Berlin stattfand. Diese Tagung sollte 1972 in Manila (Philippinen) stattfinden, wurde aber wegen der dortigen Naturkatastrophen durch die philippinische Regierung abgesagt. Böll wandte sich an Bundeskanzler Brandt mit der Bitte um Unterstützung der kurzfristig durch das Präsidium des Internationalen PEN nach West-Berlin verlegten Tagung. Willy Brandt antwortete ihm am 24. August 1972:

 

„Ich antworte erst heute, weil zunächst ein Ergebnis der Bemühungen von Herrn Bundesminister Genscher und des Landes Berlin abzuwarten waren. Wie Herr Genscher mir jetzt mitteilt, werden das Bundesministerium des Inneren und das Land Berlin gemeinsam einen Zuschuss von bis zu etwa 150.000 DM leisten.“

 

Der besondere Status von West-Berlin stellte als Tagungsort ein Problem für die beiden deutschen PEN-Zentren dar. Gerne hätte Heinrich Böll mit beiden deutschen PEN-Zentren die Veranstaltungen in Ost- und West-Berlin organisiert, aber, so die Frankfurter Rundschau vom 29. September 1972, „das wurde uns leider abgesagt“. Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Umsetzung eines Beschlusses, die eine enge Kooperation des vom niederländischen PEN-Zentrum gegründeten „Foundation PEN Emergency Fund“ und dem „Writers in Prison“-Komitee des Internationalen PEN vorsah. Mit diesen Fonds war man in der Lage, finanzielle Unterstützung verfolgter oder inhaftierter Autoren und ihrer Familien, im Sinne einer direkten und praktischen internationalen Solidarität, zu leisten.

„Die Lautstärke ist nicht vorgeschrieben“

Am 19. Januar 1973 reagierte Heinrich Böll in Die Zeit auf einen offenen Brief von Eugen Kogon mit dem Titel „Protestieren – lieber laut oder leise? Von der nützlichsten Form moralischen Wirkens“:

 

„Das Problem der Lautstärke ist nebensächlich, wenn man sich zur Einmischung entschließt und Ausspielung ablehnt. Es ist die Charta, die Verfassung des PEN, die zur Einmischung verpflichtet, und ich sehe keine andere Möglichkeit der Glaubwürdigkeit, als im eigenen Lager mit der Einmischung zu beginnen. Dann ist keine Aufrechnung […] mehr möglich. Das wäre der Sinn des Internationalen Komitees ‚Writers in Prison‘ im PEN. Zugegeben: ein Fernziel. Nicht utopisch, aber fern. Ich hoffe, dass meine Kollegen und Freunde in den sozialistischen Ländern eines Tages ausführen, was sie längst begriffen haben: Dass ihre und unsere Freiheit […] tatsächlich unteilbar ist, dass sie dann zunächst ihren Kollegen in der UDSSR und in der CSSR beistehen müssen, in einer Weise, die wir hier vielleicht nicht bestimmen können. Die auf die Dauer sinnlose, fast schon automatische Prozedur, dass die einen sich für Sozialisten in Brasilien, die anderen sich für Inhaftierte in der UDSSR äußern, ist nicht mehr wert als die von Politikern geübte internationale heuchlerische Praxis der Nichteinmischung. […] Die Charta des PEN würde jedes potentielle sowjetische Mitglied des PEN verpflichten, sich für Solschenizyn, Bukowski und andere zu verwenden. Die Lautstärke ist nicht vorgeschrieben.“

 

Im gleichen Sinne äußerte er sich, wie gesagt, in dem Essay „Einmischung erwünscht“, der am 18. Februar 1973 in der New York Times veröffentlicht wurde:

 

„Wir Autoren sind die geborenen Einmischer, wir mischen uns ein in die Rechtsprechung und Kulturpolitik der Sowjetunion, der CSSR, Spaniens, Indonesiens, Brasiliens und Portugals […]. Wir werden uns auch in die Volksrepublik China einmischen, in Kuba und in Mexiko. Das klingt idealistisch, ist es aber nicht. Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben. Unsere tschechischen Freunde, die keinen Zentimeter nachgeben, sind keine Idealisten, es sind Realisten, denn sie wissen sehr wohl, dass geistiges Terrain noch schneller und endgültiger besetzt ist als geographisches.“

 

Im Mai 1974 verabschiedete sich Böll aus der Funktion des Internationalen Präsidenten; er wurde aber zu einem der Vizepräsidenten des Internationalen PEN gewählt. In seiner Abschiedsrede, die unter dem Titel „Ein gutes Modell“ in der Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. Mai 1974 veröffentlicht wurde, resümierte er:

 

„Nun ein paar Worte zum PEN-Club. Sie wissen, dass ich langatmige Erklärungen scheue – dass sie mir nicht liegen. Ich will hier auch keine Bilanz ziehen, so etwas wie einen Rechenschaftsbericht ablegen, das mögen andere versuchen. Beschränken wir uns also darauf, festzustellen, was uns nicht gelungen ist. Es ist nicht gelungen – was eigentlich Aufgabe einer internationalen Schriftstellerorganisation mit einer eindeutigen Charta wäre –, publizistisch eine auch nur halbwegs gerechte Proportion zwischen den verfolgten, zensurierten, unterdrückten Kollegen innerhalb der verschiedenen politischen Systeme herzustellen.“

„Eine Literatur des schlechten Gewissens“

Bölls letzte Teilnahme einer Tagung des internationalen PEN-Club war vom 15. bis 20. Dezember 1974 in Jerusalem mit dem Thema: „Kulturelles Erbe und die schöpferische Kraft in der Literatur unserer Zeit“. Heinrich Böll hielt als Vizepräsident in Anwesenheit von Staatspräsident Efraim Katzir und Ministerpräsident Izchak Rabin die Eröffnungsrede der Veranstaltung mit dem Titel „Ich bin ein Deutscher“. Er begann seine Rede:

 

„Wenn man für unser Jahrhundert einmal einen Namen suchen wird, wird man es wahrscheinlich das Jahrhundert der Vertriebenen und der Gefangenen nennen, und wenn man dann anfangen wird, die Vertriebenen und Gefangenen – weltweit versteht sich – in ihrer Zahl zu erfassen, wird man auf eine Anzahl von Menschen kommen, mit denen man ganze Kontinente hätte bevölkern können. Wahrlich ein Jahrhundert der Rekorde.“

 

Böll erwähnte in seiner Rede, dass Völkerwanderung immer auch Völkerverdrängung war; somit wurde indirekt die arabische Frage und das Existenzproblem Israels bereits am ersten Abend zum Tagungs-Thema:

 

„Und es gibt da noch eine grausame Voraussetzung, dass der, der die Vertreibung und die Angst vor ihr kennt, in den grausamen Zwang gerät, andere zu vertreiben, auf der Suche nach einer neuen Heimat andere in jenen Zustand versetzt, dem er gerade entgangen ist. Völkerwanderung, das klingt so freundlich, weil Wandern und Wanderung so friedliche Wörter, Worte sind. In Wahrheit war Völkerwanderung immer auch Völkerverdrängung, das ging nie ohne Gewalt, da wurde verschleppt, mitgeschleppt, zurückgelassen, klimatisch-geologische oder politische Verschiebungen waren immer die Ursache – und dieser Traum der Völker, die aus Nacht und Nebel des Nordens in die südliche Sonne wollten. Und was brachten die Verdrängten, die andere verdrängten, mit: ihren Gott, ihre Götter, ihre Götzen und ihre Sprache.“

 

Insbesondere diese Passage wurde von israelischer Seite seinerzeit übelgenommen und in Glossen, etwa in der Zeitung Yediot Acharonoth unter dem Titel „Auch du, Brutus?“, kommentiert; man glaubte darin eine versteckte Kritik an der israelischen Siedlungspolitik erkennen zu können, wenn nicht mehr. Erich Gottgetreu, Redakteur der Israel-Nachrichten, schrieb am 10. Januar 1975 einen offenen Brief an Heinrich Böll unter dem Titel „Sind wir Israelis ‚Vertreiber‘ geworden“. In diesem offenen Brief geht es vor allem um die Passage der Böll-Rede, in dem Böll die Völkerwanderung immer auch für eine Völkerverdrängung ansieht und der damit implizierten Frage der „zionistischen Schuld oder Unschuld an dem bisher ungelösten arabisch-palästinensischen Flüchtlingsproblem“ wie Erich Gottgetreu in einem Begleitbrief zwei Tage später erläuterte. Am 7. Februar 1975 erschien in den Israel-Nachrichten Heinrich Bölls Antwort auf den offenen Brief. Eingeleitet wurde der Leserbrief durch eine Erläuterung der Umstände von Bölls Rede. :

 

„Als ich die von Ihnen zitierte Formulierung hinschrieb und später in Jerusalem aussprach, habe ich tatsächlich gar nicht an Israel gedacht; was ich finden wollte, als ich die Rede schrieb, war eine Formulierung, die das grausame Gesetz hätte decken können, das alle Völkervertreibungen, Völkerwanderungen und Völkerbewegungen innewohnt; eine Formulierung, die auch die Tragik solcher Bewegungen angedeutet hätte, ohne die Frage der Schuld anzusprechen. Nun aber ist ja durch Ihren Brief und andere Reaktionen dieses Zitat direkt auf Israel bezogen worden, und ich will nun nicht der Problematik ausweichen, indem ich einfach sage, ich hätte es nicht so ‚gemeint‘. Ich hab’s nicht so gemeint, und doch bekommt es jetzt diese Bedeutung, die Sie und andere dem Zitat geben, und ich will also diese Bedeutung akzeptieren. […] Ich würde mir nie anmaßen, Konflikte und Spannungen, die im Lande selbst, in Israel ausgesprochen und ausgetragen werden, als Ausländer an- oder auszusprechen. Das gleiche gilt für die arabischen Länder; ich wünschte mir nur, dass es auch dort dieses von Ihnen angesprochene ‚Leiden‘ an den Umständen gäbe und eine Literatur des schlechten Gewissens“.

 

Am 9. Februar 1975 schrieb Erich Gottgetreu an Heinrich Böll, dass der Vortrag von Heinrich Böll, die Erwiderung auf den kontroversen Absatz und Bölls Replik der Klärung des schmerzlichen Themas gedient hat und dass dies wichtig genug sei.

Heinrich Böll engagierte sich bis zu seinem Lebensende, wenn auch nicht in verantwortlicher Position, für die Arbeit des Internationalen PEN und vor allem für das Komitee „Writers in Prison“. In einem Nachruf zu Heinrich Bölls Tod 1985 formulierte der damalige Präsident des Internationalen PEN, der schwedische Schriftsteller Per Wästberg:

 

„Als Präsident des PEN war er sehr engagiert, gleichzeitig war er in haarsträubender Weise in Verwaltungsangelegenheiten ahnungslos. Er hörte Diskussionen mit unerhörter Geduld zu und war frei von jener Egozentrik, die man bei Schriftstellern häufig findet. [...] Einige Jahrzehnte lang war Heinrich Böll die deutlichste und warnendste Stimme seines Landes. 'Einmischung erwünscht' heißt einer seiner Texte. Er weigerte sich, außerhalb zu stehen, er mischte sich ein und nahm Stellung mit seiner unermüdlichen, sacht brennenden Energie, die bis zuletzt anhielt.“