Grüner Wasserstoff als Ersatz für russisches Gas: Wird Lateinamerika Europas neuer Energiepartner?

Analyse

Vor dem Hintergrund von Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine muss sich Europa nach neuen Wegen umsehen, um seine Energieversorgung zu sichern. Grüner Wasserstoff könnte dabei als neuer Brennstoff eine zentrale Rolle spielen. Lateinamerika hat deswegen das Potenzial, Europas neuer Energiepartner zu werden. Die laufenden Handelsgespräche über ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur können Raum für solche Verhandlungen bieten. Rebecca Bertram erklärt in diesem Artikel warum.

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Während fossiles Gas als Brückentreibstoff gilt, könnte Wasserstoff in Zukunft an Bedeutung gewinnen.

Seit Russland Ende Februar in die Ukraine einmarschierte, ist in Europa nichts mehr wie es war. Jahrelang haben politische Entscheidungsträger/innen in Europa die unterschwelligen Drohungen aus Russland ignoriert und es versäumt, ihre Industrie und ihren Energiesektor auf diese nun allgegenwärtige und harsche Realität vorzubereiten. Russland hatte vielen als stets äußerst zuverlässiger Energielieferant gegolten, selbst in Zeiten politischer Differenzen, wie etwa während des Kalten Krieges.

Der verheerende Krieg in der Ukraine hat den Europäer/innen die wahren geopolitischen Absichten Russlands vor Augen geführt, und der politische Druck wächst, diese Bestrebungen nicht länger zu finanzieren. Zum ersten Mal seit der Ölkrise in den 1970er Jahren prüfen die Länder Europas ernsthaft, wie sie ihre Energieabhängigkeit von Russland rasch verringern können. In diesem Zuge hat die Europäische Kommission vorgeschlagen, drastische Maßnahmen zu ergreifen und die Gasimporte aus Russland bis Ende 2022 um zwei Drittel zu reduzieren und sie bis 2027 ganz einzustellen.

Für den europäischen Gassektor hat dies zwei wichtige Konsequenzen: Einerseits wird die schrittweise Abkehr von russischen Gasimporten der dringend benötigten Energiewende weg von fossilen Brennstoffen Auftrieb verleihen – eine positive Entwicklung also. Andererseits wird Europa seine Gasimporte diversifizieren und Gas zum Beispiel aus Regionen wie Norwegen, Katar und den Vereinigten Staaten beziehen müssen. Allerdings hat Norwegen bereits seine Kapazitätsgrenze erreicht, und zusätzliches Gas aus anderen Ländern dürfte die Situation mittelfristig nicht wesentlich entschärfen. Die Vereinigten Staaten sind zwar bestrebt, ihr Flüssigerdgas nach Europa zu verschiffen, doch ist unklar, ob die derzeit 26 LNG-Terminals in der Europäischen Union ausreichend ausgerüstet sind, um die gedrosselten Gaslieferungen aus Russland schnell zu überbrücken.

Tätigung von klugen Infrastrukturinvestitionen

Da fossiles Gas von vielen bestenfalls als Brückenkraftstoff auf dem Weg zu einer saubereren Wirtschaft betrachtet wird, sind politische Entscheidungsträger/innen in ganz Europa bestrebt, schnellstmöglich kluge Infrastrukturinvestitionen zu tätigen, damit ihre Länder für eine Ära nach dem fossilem Gas gerüstet sind. Viele Energieexpert/innen sind der Meinung, dass Wasserstoff ein wichtiger Kraftstoff der Zukunft sein wird, insbesondere Wasserstoff, der aus erneuerbaren Energien hergestellt wird – der sogenannte grüne Wasserstoff. Ein Vorteil ist, dass Wasserstoff in vielen chemischen Prozessen zum Einsatz kommen kann, die mit fossilem Gas betrieben werden, und dass er durch die bestehenden Pipelines in Europa fließen könnte.

Leider ist es jedoch unwahrscheinlich, dass Europa über die nötigen Kapazitäten für erneuerbare Energien verfügt, um die schätzungsweise 100 Millionen Tonnen grünen Wasserstoffs zu produzieren, die es bis Mitte dieses Jahrhunderts benötigen wird. Die für die Produktion von grünem Wasserstoff benötigte erneuerbare Energie ist in anderen Teilen der Welt oft billiger verfügbar. Könnte Lateinamerika somit ein zuverlässiger Exporteur von grünem Wasserstoff werden?

Entwicklung von Wasserstoff-Roadmaps

Lateinamerika erfüllt das erste Kriterium, große Mengen an Strom aus erneuerbaren Energien für die Wasserstoffproduktion zu erzeugen. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Erneuerbare Energien (IRENA) erzeugt die Region derzeit mehr als ein Viertel ihrer Primärenergie – das Doppelte des weltweiten Durchschnitts – aus erneuerbaren Energien. Elf lateinamerikanische Länder haben entweder bereits Wasserstoff-Roadmaps entwickelt oder sind gerade dabei, diese zu erstellen. Chile wird oft als Vorreiter in Sachen grüner Wasserstoff genannt. Das Land will bis zum Jahr 2030 den wettbewerbsfähigsten grünen Wasserstoff der Welt produzieren.

Das Potenzial und das Interesse an der Produktion von grünem Wasserstoff sind jedoch in den einzelnen lateinamerikanischen Ländern sehr ungleich verteilt. Insgesamt ist Wasserstoff vor allem in den großen Volkswirtschaften der Region von Interesse. Die Internationale Energieagentur (IEA) schätzt, dass 90 Prozent der gesamten Wasserstoffnachfrage in Lateinamerika von nur einer Handvoll Länder ausgeht: Argentinien, Brasilien, Mexiko, Chile und Kolumbien. Hier wird er hauptsächlich als Rohstoff für Raffinerien und die chemische Industrie verwendet. In Zukunft wird sich die Produktion von grünem Wasserstoff im industriellen Maßstab am ehesten in Küstenregionen mit einem großen Angebot an erneuerbaren Energien und einer nahegelegenen Hafeninfrastruktur entwickeln.

Grüner Wasserstoff für die Schwerindustrie

In Lateinamerika gibt es verschiedene Sektoren, die in besonderer Weise von einer Wasserstoffrevolution profitieren könnten – allen voran der Verkehrssektor, der den Bestrebungen des Kontinents, die Kohlenstoffemissionen zu reduzieren, ein Dorn im Auge ist. Schließlich ist er für 35 Prozent aller Kohlenstoffemissionen verantwortlich, während die Bemühungen um eine Elektrifizierung des Sektors nur langsam in Gang kommen. Auch die Schwerindustrie könnte grünen Wasserstoff verwenden, doch bliebe die Nutzung wahrscheinlich auf die wirtschaftlichen Lokomotiven des Kontinents beschränkt: Mexiko und Brasilien. Nicht zuletzt könnte grüner Wasserstoff als Ersatz für Diesel im gut ausgebauten Bergbausektor des Kontinents oder als wichtige einheimische Brennstoffquelle dienen, die die Region zunehmend energieunabhängig machen würde.

Trotz dieser offensichtlichen Vorteile rückt der grüne Wasserstoff nur langsam in den Fokus der lateinamerikanischen Energiepolitik. Da die Länder der Region jedoch traditionell politischen Impulsen aus Europa und entsprechenden Investitionen gegenüber aufgeschlossen sind, ist es an der Zeit, diese Diskussionen in die laufenden Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Mercosur (Mercado Común del Sur), bestehend aus Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay, aufzunehmen.

Eine integrative, partizipative Planung von Großprojekten für grünen Wasserstoff ist für den Schutz der Menschenrechte unentbehrlich und kann einen gegenseitigen Nutzen für Hirtengemeinschaften und die Gesellschaft insgesamt hervorbringen. Bislang jedoch werden viele solcher Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien in den Trockengebieten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas ohne angemessene Konsultation von Hirtengemeinschaften entwickelt, die das Land seit jeher als Weidefläche für ihr Vieh nutzen.

Neue Dynamik und Dringlichkeit in Gesprächen

Investitionen in Technologie und Infrastruktur sowie der Aufbau strategischer Energiepartnerschaften brauchen Zeit, und Europa wäre gut beraten, eher früher als später Gespräche mit Lateinamerika aufzunehmen. Globale Lieferkettenprobleme aufgrund der anhaltenden Corona-Pandemie und Russlands Krieg in der Ukraine verleihen diesen Gesprächen eine neue Dynamik und Dringlichkeit. Bei diesen Verhandlungen sollte Europa nicht nur die Vorteile der Produktion von grünem Wasserstoff für die lateinamerikanische Wirtschaft hervorheben, sondern auch erste Investitionen in die erforderliche Pipeline- und Schiffsinfrastruktur tätigen. Die Ausstattung von Schiffen mit der notwendigen Ausrüstung für den Transport von grünem Wasserstoff über große Entfernungen ist schwierig, da Wasserstoff bei einer konstanten Temperatur von -253 gehalten werden muss. Derzeit verkehrt nur ein einziges solches Schiff zwischen Japan und Australien.

Es wäre jedoch ein Fehler, die Debatte allein auf wirtschaftliche Vorteile und die Energiesicherheit Europas zu beschränken. Parallel zu den herkömmlichen Handelsgesprächen muss Europa auch einfordern, dass der für seinen Energiemarkt produzierte grüne Wasserstoff strengen Umwelt- und Sozialstandards genügt.

Bei der Aufgabe, nach dem Ende der Energieabhängigkeit von Russland die Versorgung mit grüner Energie zu gewährleisten, steht Europa an einem Scheideweg. Grüner Wasserstoff wird vermutlich der zentrale Kraftstoff des Jahrhunderts werden, und Europa wird große Mengen davon importieren müssen. Es ist wichtig, heute in die Sicherung der Versorgung mit diesem Brennstoff zu investieren und gleichzeitig auf die Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards zu pochen. Angesichts des lateinamerikanischen Produktionspotenzials könnte der Kontinent ein neuer strategischer Energiepartner für Europa werden. Die Debatten über eine solche Strategie zur Produktion von kohlenstoffarmem Wasserstoff sollten nicht weiter aufgeschoben werden.


Dieser Beitrag erschien im Juni 2022 zuerst auf der Energy Transition Webseite der Heinrich-Böll-Stiftung.

Hier können Sie das englische Original und weitere Beiträge der Autorin nachlesen.