Zum ersten Mal in der Geschichte wird Kolumbien von einem linken Präsidenten regiert. Die Menschen setzen große Hoffnungen auf einen sozialen Wandel. Doch die Herausforderungen sind enorm.

Über 100.000 Menschen kamen zu Gustavo Petros Amtseinführung am 7. August, die einem regelrechtem Volksfest glich. Seit Tagen waren überall in der Hauptstadt Bogotá Bühnen aufgebaut worden, damit die Bürger*innen nicht nur auf der Plaza Bolívar, dem Hauptplatz vor dem Parlament, sondern in der ganzen Stadt vor Leinwänden und inmitten von Kulturveranstaltungen der Zeremonie beiwohnen konnten. Kolumbien soll, nach Vorstellungen des Präsidenten, eine „Weltmacht für den Schutz des Lebens“ werden. Dafür versprach er in seiner Rede, die immer wieder von frenetischem Beifall begleitet wurde, umfassende Maßnahmen für einen sozialen Wandel.
Die Erwartungen sind groß, die Herausforderungen ebenfalls. Die Armut sank 2021 gegenüber dem Vorjahr zwar von 43 auf 39 Prozent, liegt damit aber immer noch über den 36 Prozent in 2019 vor der Pandemie. Nach Schätzungen soll die galoppierende Inflation bis Jahresende weiter auf 9,7 Prozent ansteigen. Die kolumbianische Zentralbank hat daher inmitten von globalen Rezessionsängsten, der Sorge um den starken Dollarkurs und einer gestiegenen Auslandsverschuldung den Leitzins kürzlich auf 9 Prozent angehoben.
Eine Steuer- und Agrarreform im Kampf gegen den Hunger
Zu den Prioritäten der neuen Regierung gehört zunächst eine Steuerreform, mit der Petro sein Regierungsprogramm finanzieren möchte. Knapp 11 Mrd. Euro sollen so in die Staatskasse fließen. Die untere und Mittelklasse sollen dabei nicht stärker belastet werden, Petro setzt stattdessen auf höhere Steuern bzw. einen Abbau von Freibeträgen für Reiche sowie Großunternehmen aus dem fossilen Energiesektor. Außerdem plant er eine Erhöhung der Grundsteuer auf brachliegende, landwirtschaftlich ungenutzte Flächen, ein besseres Katastersystem zur steuerlichen Erfassung von Grund und Boden sowie Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung. Dadurch sollen eine Reihe der im Wahlkampf versprochenen Sozialprogramme, insbesondere für Rentner*innen und alleinerziehende Mütter sowie gegen den Hunger finanziert werden.
Mit einer Agrarreform soll die landwirtschaftliche Produktion gestärkt und durch höhere Zölle die nationale Produktion gefördert werden. Petro verspricht, dass es unter seiner Regierung neben einer Ausweitung der Agrarproduktion zu einer Reindustrialisierung des Landes kommen werde. Außerdem soll der Tourismus gefördert werden. Neue Lizenzen zur Suche nach Öl- und Gasfeldern sollen dagegen nicht mehr vergeben werden, während die bisher bestehenden Vorkommen insbesondere für den nationalen Konsum genutzt werden sollen.
„Nein zu Fracking, nein zu Glyphosat“
Die neue Umweltministerin, Susana Muhamad, verkündete bereits vor einem Monat, dass es unter der Regierung Petros weder Fracking zur Ausbeutung von Ölreserven noch das Versprühen von Glyphosat aus der Luft zur Vernichtung von Koka-Feldern geben wird. Die designierte Gesundheitsministerin Carolina Corcho bekräftigte dies noch einmal wenige Tage vor der Amtsübergabe.
Als eine ihrer ersten Entscheidungen hat der Senat für die Ratifizierung des Escazú-Abkommens gestimmt – einem völkerrechtlichen Vertrag über den Zugang zu Informationen über die Beteiligung der Öffentlichkeit und über die juristische Prüfung in Umweltangelegenheiten. Demnächst soll ein Gesetzesentwurf zum Fracking-Verbot in den Kongress eingebracht werden. Dafür haben in den letzten Jahren zahlreiche Umweltgruppen gekämpft. Mittels regionaler Konsultationsprozesse soll außerdem die ländliche Bevölkerung stärker in politische Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Die designierte Umweltministerin hat in den letzten Wochen bereits den Austausch mit zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen gesucht.
Kolumbien auf dem Weg zum „umfassenden Frieden“?
Petro kündigte unter dem politischen Schlagwort eines „totalen Friedens“ an, neue Verhandlungen mit der verbliebenen Guerillagruppe ELN aufnehmen zu wollen. Nachdem Chiles Präsident Boric kürzlich bei einem Besuch der designierten Vizepräsidentin Francia Márquez sein Land als möglichen Verhandlungsort angeboten hatte, äußerte Petro seinen Wunsch, Kuba dafür zu gewinnen. In dem Karibikstaat fanden bereits die Verhandlungen mit der FARC statt sowie Gespräche mit der ELN, bevor Präsident Duque diese 2019 beendete.
Der neue Außenminister Álvaro Leyva und der designierte Friedenshochkommissar Danilo Rueda sollen in den nächsten Wochen nach Kuba reisen, wo sich die Kommandanten der ELN aufhalten. Während Kolumbiens Ex-Präsident Santos mit der FARC mehrere Jahre unter der Prämisse „Nichts ist vereinbart, bis alles vereinbart ist“ verhandelt habe, könne mit der ELN graduell das umgesetzt werden, was in den Verhandlungen nach und nach vereinbart werde, so Leyva zu einem möglichen Fahrplan für die Friedensgespräche mit der ELN. Deren Kommandant Antonio García hat bereits Bereitschaft für Gespräche signalisiert. Fraglich ist, wie die neue Regierung mit den anderen bewaffneten Gruppen, darunter den FARC-Dissident*innen sowie dem mächtigen Drogenkartell „Clan del Golfo“, umgehen wird. Dieses hatte in den letzten Wochen seine Angriffe auf Angehörige der Polizei verstärkt. Auch die Gewalt illegaler Gruppen gegen soziale und Umweltaktivist*innen im Land bleibt weiterhin hoch.
Aufnahme von diplomatischen Beziehungen mit Venezuela erwartet
Mit dem Nachbarland Venezuela, dessen Territorium als Rückzugsgebiet für die ELN und FARC-Dissident*innen dient, möchte Petro zügig die diplomatischen Beziehungen wiederaufnehmen. Dafür möchten beide Länder als ersten Schritt wieder Botschafter*innen entsenden. Außerdem kündigte Petro an, die wirtschaftlichen Beziehungen in der Grenzregion verbessern zu wollen. Abzuwarten bleibt, wie die neue Regierung mit den mehr als 2,4 Millionen venezolanischen Migrant*innen umgehen wird, die teils legal, teils illegal in Kolumbien leben.
Bei der Frage einer neuen Drogenpolitik im Kampf gegen die nach UN-Angaben im Jahr 2021 bestehenden 234.000 Hektar Koka-Anbaufläche, die eine jährliche Produktion von rund 972 Tonnen Kokain ermöglichten, werden die USA eine entscheidende Rolle spielen. Obwohl die Regierung Duque im vergangenen Jahr ca. 103.100 Hektar zerstörte, reduzierte sich die Anbaufläche lediglich um knapp fünf Prozent gegenüber dem Vorjahr, als 245.000 Hektar von den UN gemessen wurden.
Wie lange wird die Unterstützung halten?
Nach dem knappen Wahlsieg konnte Petro eine Mehrheit der Parteien im Kongress für seine Regierungskoalition gewinnen. Eine Regierungsbeteiligung gibt den Parteien u. a. Aussicht auf die Postenvergabe im Kongress, dem Kabinett sowie den rund 190 staatlichen Behörden, in denen nach einem Regierungswechsel zahlreiche Stellen neubesetzt werden. Mit den bisher designierten Minister*innen gelang Petro der politische Spagat, einerseits einen politischen Konsens unter der Mehrheit der Parteien sicherzustellen und andererseits die Anhänger*innen seines Parteienbündnisses zufriedenzustellen.
Zu Petros ersten Personalentscheidungen zählte, die Leitungen der UN-Botschaft, der nationalen Opferbehörde sowie der Behörde zur Landrückgabe mit Vertreter*innen indigener Gruppen verschiedener Teile des Landes zu besetzen. Vizepräsidentin Francia Márquez, die vor der Amtsübergabe eine internationale Reise zu den linken Präsidenten in Chile, Argentinien und Bolivien sowie zu Lula als linken Präsidentschaftskandidaten in Brasilien unternahm, wird außerdem Ministerin für das neu aufzubauende Ministerium für Frauen und Gleichstellung. Im Falle eines Wahlsiegs Lulas würden nun mit Kolumbien neben Mexiko, Argentinien, Chile und Peru die sechs wirtschaftlich mächtigsten Länder Lateinamerikas von linken Regierungen regiert.
Eine besondere Herausforderung wird allerdings im politischen Umgang mit Armee und Polizei bestehen, insbesondere nach den sozialen Protesten und der Polizeigewalt gegen Demonstrierende im Frühjahr 2021. So hat Petro etwa angekündigt, die Polizei nicht mehr dem Verteidigungsministerium zu unterstellen, sondern einem neu zu gründenden „Ministerium für Frieden, Zusammenleben und Sicherheit“. Dieser Prozess wird allerdings Zeit in Anspruch nehmen. Außerdem soll der designierte Verteidigungsminister Iván Velásquez, der als Ermittlungsrichter am Obersten Strafgericht viele Jahre die Strafprozesse gegen kolumbianische Politiker*innen mit Verbindungen zu Paramilitärs leitete und der UN-Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala vorstand, Reformen zum Kampf gegen Korruption in der Armee anstoßen und die in der Kritik stehende Aufstandsbekämpfungseinheit ESMAD reformieren.
Die Menschen, die sich nach der Pandemie und den sozialen Protesten einen sozialen Wandel erhoffen, setzen große Erwartungen in die neue Regierung. In den nächsten 100 Tagen wird diese zeigen müssen, ob sie den Erwartungen und Herausforderungen gewachsen ist und erste Fortschritte vorweisen kann.