Russische Energieexporte in die EU: Erlöse stützen die Bereitschaft zum Krieg

Interview

Olena Pavlenko, Expertin für Energiesicherheit und Vorstand der Dixi-Group, dem führenden ukrainischen Think-Tank für Energiepolitik, kommentiert die Implikationen eines Embargos auf russische Brennstoffe in Europa und die Perspektiven für einen Ersatz von Öl und Gas durch erneuerbare Energien. Mit ihr sprach Alyona Vyshnytska.

Ein Rohr mit einer Aufschrift

Macht ein Embargo für russische fossile Brennstoffe in Europa Sinn, wenn Russland sie weiterhin auf anderen Märkten verkauft?

Ja, das macht es. Der europäische Markt ist sehr groß, und es ist bei weitem der größte Markt, auf dem die Russische Föderation ihr Öl und Gas verkauft.

"Wenn Russland den europäischen Markt verliert, wird es auch etwa die Hälfte seiner Exporte einbüßen. Russland wird nicht in der Lage sein, gleichwertige Abnehmer zu finden. Zudem sieht die ganze Welt, wie Russland Europa mit Gas erpresst. Das ist ein schwerer Schlag für die Reputation Russlands als Lieferant. Auch dies wird zu einer weiteren Verringerung der Importe aus Russland auch auf anderen Märkten führen", glaubt die Expertin.

"Russland nutzt seinen Vorteil als Energielieferant, um seine eigenen politischen Ziele zu erreichen. Als die Gaspreise in der EU im vergangenen Jahr auf 2.000 Dollar pro 1.000 Kubikmeter stiegen, mussten die Mitgliedsstaaten ihre Bevölkerung subventionieren. Diese Krise wurde größtenteils von Russland verursacht - mit einem Anteil von bis zu 40 Prozent am europäischen Markt ist es ein Leichtes, die Preise zu beeinflussen. So haben die Russen die Preise in der Europäischen Union manipuliert, um Druck auf die EU für den Start von Nord Stream 2 auszuüben", erklärt Olena Pavlenko.

"Für andere ist dies auch ein Signal, dass Russland kein zuverlässiger Partner ist. Es kann Gas, Öl und Erdölprodukte auf die gleiche Weise gegen sie einsetzen. Ich glaube, dass China und andere Länder in Anbetracht dessen versuchen werden, den Anteil der russischen Importe niedrig zu halten, um in Zukunft nicht in ähnliche Fallen zu tappen", so die Expertin.

Russlands "Ressourcenfluch"

Länder, die reich an natürlichen Ressourcen sind, sollten logischerweise die reichsten, bequemsten und komfortabelsten für ihre Bürger sein - denn sie haben viel Geld. In der Praxis ist jedoch meist das Gegenteil der Fall.

"Von einigen Ausnahmen abgesehen sind diese Länder in der Regel korrupt und werden zumeist von autoritären Regimen regiert. Großes Geld führt zu großer Korruption, die einfachen Bürger dieser Länder bleiben arm, und das Geld gehört der Führung. Dies wird als "Ressourcenfluch" bezeichnet. Auch Russland leidet darunter, aber die dortige Führung bereichert sich nicht nur selbst, sondern verwirklicht auch ihre eigenen imperialen Ambitionen: Sie finanziert Kriege im Ausland", erklärt Olena.

Indem Europa die Augen vor dem autoritären Charakter seiner Handelspartner verschließe, zahle es am Ende doppelt. Vereinfacht könne man den Mechanismus so beschreiben: Russland verkauft Gas an, sagen wir, Deutschland, und erhält dafür Geld; das Geld wird für die Produktion von Waffen und Panzern ausgegeben; die Panzer gehen in den Krieg in Syrien; und Flüchtlinge fliehen aus Syrien nach Deutschland. Dann muss Deutschland das Flüchtlingsproblem lösen. Dieser Kreislauf könne von Europa selbst durchbrochen werden, indem es die Handelsbedingungen mit diesen Ländern ändert.

Olena Pavlenko blickt in die Kamera
Olena Pavlenko ist Expertin für Energiesicherheit.

Ist ein vollständiges Embargo für russische Rohstoffe in ganz Europa realistisch?

Einige Länder in Europa sind stärker von russischem Brennstoff abhängig als andere. Zu diesen Ländern gehört beispielsweise Deutschland, dessen Gasimporte zu etwa 40-50 % aus Russland stammen.

"Das ist schwierig für Deutschland. Es muss sich schnell umorientieren. Für Bulgarien und Ungarn kann dies ebenso schwierig sein. Aber das ist eine Frage der politischen Entscheidung. Manchmal muss man heute finanzielle Einbußen hinnehmen, um morgen einen Krieg im eigenen Land zu verhindern. Die Menschen mögen finanzielle Verluste missbilligen, was die Popularität der Politiker beeinträchtigen kann. Es ist jedoch ihre Aufgabe, zu erklären, warum eine solche Entscheidung notwendig ist und auf den Verbrauch von russischem Gas verzichtet werden muss. Bislang ist dies nicht der Fall, vielleicht gibt es in Deutschland immer noch einen starken Einfluss der Wirtschaft auf politische Entscheidungen. Das ist es, was Russland ausnutzt", sagt Olena Pavlenko.

Die Abkehr von den russischen Energiequellen wird nicht einfach sein, glaubt die Expertin. Viele Fonds, darunter die Weltbank und der IWF, finanzieren heute keine Projekte mit fossilen Brennstoffen mehr. Daher orientieren sich Bergbauunternehmen neu und entwickeln erneuerbare Energiequellen.

"Viele Länder, die früher in der Lage waren, russisches Gas durch die Steigerung ihrer eigenen Produktion schnell zu ersetzen, brauchen jetzt mehr Zeit, um ihre Förderprojekte wieder in Gang zu bringen. Norwegen und die Niederlande wollen ihre Produktion erhöhen, und Katar plant dies auch. Ich vermute, dass Russland mit der Zeit vollständig vom Markt verschwinden wird, aber das braucht Zeit", so Olena.

Kann ein vollständiges Embargo Russlands Krieg gegen die Ukraine stoppen?

Die Expertin ist überzeugt, dass Russland interne Probleme bekäme, wenn ein Embargo schnell verhängt würde. Einfach gesagt, es werden keine Mittel im Staatshaushalt vorhanden sein.

"Die Regierung wird sich mehr mit internen als mit externen Problemen befassen müssen. Wenn die Unzufriedenheit in der russischen Bevölkerung wächst und Putins Ansehen schnell sinkt, werden die Behörden nach Möglichkeiten suchen, die Bevölkerung zu beruhigen, anstatt die Produktion neuer Panzer zu finanzieren", sagt Olena Pavlenko

Wie hängt die Frage der Gasimporte aus Russland mit dem Klimaschutz zusammen?

Angesichts der Ziele zur Dekarbonisierung kann es weder für die EU noch für die Ukraine darum gehen, die Krise nur durch den Wechsel der Bezugsquelle zu lösen. Die Strategie des Ausstiegs aus fossilen Brennstoffen bedeutet, dass wir nach Wegen suchen müssen, um den Öl- und Gasverbrauch schrittweise zu senken. So klingt beispielsweise der vom ukrainischen Energieministerium angekündigte Plan, den Gasverbrauch während des Wiederaufbaus der Ukraine auf das Niveau der Eigenproduktion des Landes zu senken, ehrgeizig.

"Wir plädieren für eine gleichzeitige Reduzierung des Verbrauchs von Öl, Gas und Erdölprodukten. Öl ist leicht zu ersetzen; es gibt viele Länder, die die russischen Quoten "aufheben" werden, und das wird ein harter Schlag sein, weil Russland die größten Gewinne aus dem Öl erzielt. Bei Gas ist dies schwieriger, da mehr Investitionen erforderlich sind, um die Produktion in anderen Ländern zu steigern. Gleichzeitig scheint dies eine gute Gelegenheit zu sein, allen Ländern einen Anstoß zu geben und darüber nachzudenken, wie man Gas durch andere Quellen ersetzen kann", erklärt Olena.

Ist es möglich, innerhalb dieses Zeitrahmens ein System aus erneuerbaren Energiequellen aufzubauen?

Kurzfristig sei das schwierig, meint die Energiepolitikerin.

"Ich glaube an ein Szenario, in dem wir fossile Brennstoffe durch erneuerbare Energiequellen ersetzen werden - ich weiß nur nicht, wann es umgesetzt wird und wie viel mehr Geld und technische Möglichkeiten dafür nötig sind. Ich sehe noch keine technischen Lösungen, um die gesamte Energieerzeugung in der Ukraine in den nächsten fünf Jahren auf erneuerbare Energiequellen umzustellen", sagt Olena.

In anderen Sektoren sei derzeit noch unklar, wie man ohne fossile Brennstoffe auskommen könne - zum Beispiel in der Armee. "Bislang gibt es im militärischen Bereich keine Technologien, die einen Verzicht auf Erdölprodukte möglich machen könnten. Es wird wahrscheinlich mehr als ein Jahr dauern, um neue Technologien zu entwickeln und ihre Produktion zu starten. Es wird Lösungen geben, aber es ist schwer zu sagen, wann genau", so Olena Pavlenko weiter.

Was sollten Deutschland und die Europäische Union tun, um nicht mehr von Russland abhängig zu sein?

"Deutschland muss jetzt aufhören, nach russischer Energie wie nach einem Strohhalm zu greifen. Deutschland muss öffentlich erklären, wie es sich ohne russisches Gas entwickeln wird. Es muss einen klaren Plan geben. Wenn Deutschland ein Beispiel für viele andere Länder geben könnte, wie man fossile Brennstoffe durch andere Quellen ersetzen kann, wäre das großartig. Meiner Meinung nach wäre das der stärkste Schritt, um die Ukraine zu unterstützen, um eine Führungsrolle in Europa zu übernehmen und um Russland zu stoppen. Deshalb liegen viele große Hoffnungen auf Deutschland", fügt die Expertin hinzu.