Die hässliche Fratze der Geschichte

Interview

Irina Scherbakowa hat beim inzwischen vom russischen Regime verbotenen Netzwerk Memorial International das Bildungsprogramm geleitet. Im Interview erklärt sie, wie sich der 9. Mai als Gedenktag unter Putin verändert hat. 

Illustration von Warvara Grankova

Schon seit zwei Monaten reden Expert:innen davon, dass Putin den Krieg in der Ukraine gern am 9. Mai beendet hätte – am „Tag des Sieges“, wie dieser Tag in Russland heute offiziell heißt.  Schon vor diesem Tag werden in Moskau Straßen abgesperrt, verwandelt sich das Stadtzentrum in einen Truppenübungsplatz für Panzer und anderes Kriegsgerät. Jagdflugzeuge malen die russische Fahne in den Himmel.  Was ist aus dem Gedenktag an den Zweiten Weltkrieg im heutigen Russland geworden?

Von Kind an habe ich erlebt, wie man diesen Tag beging. Bis zu meinem 16. Geburtstag war das kein Feiertag - im Jahre 1965 wurde ich Sechzehn und man beging diesen Tag erneut (siehe unten) mit einer Militärparade. Doch nie zuvor wurden zum 9. Mai derartige historische Analogien zur Gegenwart gezogen wie heute. Nicht einmal, als die UdSSR oder die Russische Föderation zugleich neue Kriege führten: In Afghanistan oder in Tschetschenien. Diesem 9. Mai wird im Jahre 2022 unter nie zuvor da gewesenen Umständen gedacht.

Denn gerade jetzt wird damit ein für die russische Bevölkerung außerordentlich wichtiges Datum aus der kollektiven Geschichte gestrichen. Und wir werden sehr viel Zeit brauchen, um den wirklichen Sinn dieses Datums zurückzugewinnen. Für mich ist das ein extrem trauriger Moment. Denn nur dieser Feiertag wurde in unserer Familie immer begangen, mit Ausnahme von ganz persönlichen wie Geburtstagen. Denn mein Vater wurde im Krieg schwer verletzt. Zu diesem Tag reiste er immer nach Kiew, um ihn mit Freunden zu feiern. Er stammte selbst aus der Ukraine, aus Dnjepropetrowsk, gerade von dort aus begab er sich am 22. Juni 1941 an die Front. Im Alter von 19 Jahren wurde er zum Kriegsbeschädigten. Und erst heute denke ich zum ersten Mal in meinem Leben darüber nach, was das für ein Glück war, dass er diesen 9. Mai erlebt hat.

Bei dem, was wir heute in Russland sehen, handelt es sich um den Versuch, diesem Tag, diesem 9. Mai, einen ganz anderen Sinn zu verleihen, und damit um einen historischen Wendepunkt, den wir sehr ernst nehmen müssen. 

Die Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist mit Blick auf den 9. Mai  bereits heute absichtlich umgeschrieben worden. Dabei beobachten wir, dass die Machthaber in Russland nicht nur die Bindungen innerhalb der alten Sowjetunion zu zerreißen versuchen (die schon längst zerrissen sind), sondern auch versuchen, die Geschichte dieses Krieges völlig von der Weltgeschichte abzulösen, ihn ganz und gar in einen Mythos zu verwandeln und dabei den Sinn dieses Tages völlig zu verändern.

Manche lesen dieses Interview vielleicht erst nach dem 9. Mai. Wir aber sprechen einige Tage davor miteinander und wissen schon heute, dass die Russische Föderation zu dieser Parade erstmals keinerlei Gäste aus dem Ausland einladen wird. Das wird eine Show für die eigenen Leute vor dem Hintergrund des vom russischen Regime gegen die Ukraine entfesselten Krieges. Wird sich die offizielle Rhetorik bei dieser Parade damit im Jahre 2022 verändern?

Klar ist schon eines dass wir jetzt zusammen den letzten Akt jener Vision vom 9. Mai erleben, die uns bis zu diesem Moment mit den einst zur Sowjetunion gehörenden Ländern, ja mit ganz Europa, vereinte. Mit dieser Vision ist Schluss. In allen Ländern der einstigen UdSSR wird man die Geschichte des zweiten Weltkrieges neu interpretieren und umdeuten. In Kasachstan wird es keine Paraden geben. Und dass es keine in Kiew geben wird, ist sowieso klar.

Die Meldungen, die wir jetzt über die Bombardierungen entlang des Dnjepr hören, in Charkow, darüber wie Mariupol erniedrigt wird. Das alles erinnert zu sehr an die Meldungen aus jenem schrecklichen Krieg. Mein Vater wurde im Donbass verwundet. Der Name dieser geographischen Region klingt heute für mich wie eine schreckliche Erinnerung an jenen Krieg. Und ich will gar nicht darüber reden, dass in dem heutigen Krieg gegen die Ukraine einige Menschen umgekommen sind, die in jenem damaligen Krieg überlebt hatten, nämlich in Konzentrationslagern. Und der jetzige Krieg hat ihre Leben und ihre Welt mit sich fortgenommen. Das ist eine besonders hässliche Fratze der Geschichte.

Ehrlich gesagt ist es gar nicht so wichtig, wie man dieses Ereignis inszenieren wird, was für Panzer und Raketen über den Roten Platz fahren werden, und nicht einmal die auf der Tribüne ausgesprochenen Worte werden besonders wichtig sein. Ich bin gespannt, ob ich Recht habe: aber wahrscheinlich werden diese Reden nicht einmal besonders lang sein. Man wird verkünden: wir haben immer gesiegt, wir werden auch dieses Mal siegen und bis zum Ende aushalten. Das Volk unterstützt uns und dies bedeutet unseren Sieg. Wir sind immer von Feinden umzingelt gewesen und wir müssen bis zum siegreichen Ende kämpfen.

Das alles steht übrigens schon jetzt auf den so genannten Feiertagsplakaten geschrieben, die man in Russland vor dem 9. Mai anschlägt. Auf einem dieser Plakate steht: „Sieg von 1945-2022“. Was für ein erschreckendes Signal!

Man kann Russland wohl nur schwer verstehen, ohne die Bedeutung dieses Tages zu kennen, des 9. Mai. Gehen Sie doch bitte ein wenig mehr zurück in der Geschichte dieses Tages.

Die erste Parade im Jahre 1945 führte man nicht am 9. Mai sondern am 24. Juni durch. Über den Roten Platz schritten sowjetische Soldaten, fast wie eine Bronzearmee,  alle gleich groß (So hieß es in einer der ersten Anordnungen, dass sie nicht größer als 176 cm und nicht älter als 30 Jahre sein sollten - Anmerkung der Redaktion). Diese Idealsoldaten schleuderten die Regimentsfahnen der besiegten Divisionen ans Mausoleum, praktisch dem darauf stehenden Stalin zu Füßen. Dabei hat der Kriegsteilnehmer und Sowjetschriftsteller Viktor Astafjew beschrieben, wie die im Jahre 1945 aus dem Krieg heimkehrenden Soldaten wirklich aussahen – das waren verwundete, unter ihren Behinderungen leidende, total traumatisierte Menschen.

Allerdings trug sogar diese Show-Parade für die einfachen Menschen einen wichtigen Symbolcharakter. Es ist eine Wochenschau erhalten, in der man dabei in die Gesichter der Moskauer blicken kann. Und es wird klar, dass diese Parade sie daran erinnerte, wie schwer auszuhalten dieser von ihnen gewonnene Krieg gewesen war. Damit hatte es sich aber auch. Das blieb damals die einzige Parade. Unter den Bedingungen jener Jahre hielt Stalin das Kriegsgedenken in Form einer Parade für überflüssig.

Ab 1947 gab es am 9. Mai dann nicht mehr frei, er wurde ein ganz normaler Arbeitstag. Es heißt, einige Generäle hätten Stalin vorgeschlagen ihre Erinnerungen an den Krieg zu schreiben, so lange die Spuren der wichtigsten Schlachten noch frisch waren, angefangen mit der Schlacht um Moskau. Aber Stalin habe gesagt: „Es ist noch zu früh, an all das zu erinnern“. Und wenn wir uns die noch zu Stalins Lebzeiten gedrehten Kriegsfilme ansehen, zum Beispiel den „Fall Berlins“, dann merken wir, dass sie nicht vom realen Krieg handeln. Entweder rühmen sie einfach Stalins Rolle oder sie gehören zum Genre der Komödien, in denen der Krieg als siegreicher Spaziergang dargestellt wird.  Über den wirklichen Krieg wollte der Staat überhaupt nicht reden.

Warum?

Die Millionen als Behinderte zurückgekehrter Frontsoldaten:innen waren mit ihren Erinnerungen an den echten Krieg damals eine für den Staat gefährliche Klasse. Wer wusste denn schon, wozu die Wahrheit über den Krieg noch führen konnte? Und so verwandelte sich der 9. Mai von einem Feiertag in einen häuslichen Tag des Gedenkens an eine Tragödie für das Volk. Nach der Arbeit kamen die Leute einfach zusammen um auf die Gefallenen zu trinken.

Nach Stalins Tod aber begann die Auferstehung – der wahren Erinnerung an den Krieg. Die überlebenden Frontsoldaten:innen begannen ihre Geschichten zu erzählen. Und das war das eigentliche Thema des Chruschtschowschen Tauwetters. Über die Lager durfte man noch nicht reden, über den Krieg aber schon. Wir kennen nur eine Erzählung über den GULAG, die in den 1960er Jahren veröffentlicht werden konnte, nämlich Alexander Solschenizyns „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ in der Zeitschrift „Novy Mir“.

Möglich wurde das vielleicht deshalb, weil der Iwan Denissowitsch in der Erzählung ebenfalls ein Frontsoldat ist, den man zu Lagerhaft verurteilt hat, weil er in Gefangenschaft geraten war (seine Anklage lautete, er habe sich den Deutschen absichtlich ergeben). Anfang der 1960er Jahre wird die Tragödie des Menschen im Krieg zum vorrangigen Thema, es geht dabei nicht um die Schlachten sondern eben um den einzelnen Menschen im Krieg. Der taucht dann in der Literatur und im Kino auf.

Aber schon unter Leonid Breschnew kehren die Militärparaden wieder zurück. Warum denn das?

Schon zu Beginn der Breschnew-Ära geriet das Land in eine ideologische Krise. Schon damals reagierten die Leute skeptisch auf das Programm zum Aufbau des Kommunismus. In der UdSSR bildete sich ein Ideologievakuum heraus. Weil man Stalin seinen Nimbus genommen und ihn aus dem Mausoleum entfernt hatte, weil Lenins hundertster Geburtstag schon nicht mehr funktionierte, begannen in der UdSSR gewisse neue Entwicklungen, unter anderem in den nicht von Russen dominierten Unionsrepubliken. 

Die schreckliche Macht des Zentrums ließ nach, ein Hauch von Freiheit wehte  und jene zentrifugalen Kräfte wirkten, von denen wir alle wissen, wozu sie 1991 führten. Da mussten sich die Machthaber irgendetwas Einigendes ausdenken. Und was war es, das alle in der UdSSR einte? Natürlich das Gedenken an den Krieg. Zumal  bereits Chruschtschow eine Formel dafür gefunden hatte, auf dem 20. Parteitag (auf dem er Stalins Verbrechen enthüllte): dass nämlich nicht Stalin den Krieg gewonnen hatte sondern das Sowjetvolk. Schon als ich zur Schule ging, hielt ich diese Formel parat – obwohl es bei uns Repressionen gegeben hatte und was sonst noch alles für Missstände, hatten wir uns zusammengeschlossen und alle zusammen den Faschismus besiegt.

Und so webte die Breschnew-Ära ein neues Paradigma um dieses Datum des 9. Mai herum. Im Jahre 1967 weiht man das gigantische Denkmal „Die Mutter Heimat ruft“ ein, auf dem Mamajew-Grabhügel in Wolgograd (einem Massengrab, in dem um die fünfunddreißigtausend Verteidiger Stalingrads ruhen). Die Errichtung dieses Denkmals wurde nicht einhellig begrüßt. Sogar Generäle sprachen sich dagegen aus, mit dem Argument, dass der Mamajew-Grabhügel an sich schon ein Denkmal sei. Und in der „Literaturnaja Gaseta“ erschien damals ein Artikel mit der Überschrift: „Wie groß ist die Mutter Heimat?“. Viele Stimmen sagten: Wir brauchen keine solchen Monumente. Das Geschehene steht als Tragödie über derartigem Monumentalklimbim.

Aber der Trend zu Denkmälern und Paraden nahm zu. Die Erinnerung an den realen Krieg verblasste und wurde von der monumental präsentierten Erinnerung an den Sieg verdrängt. Doch etwas von den eigenen Erinnerungen blieb in den Köpfen des Volkes dennoch parallel zur staatlichen übrig. Wiederum sehen wir das an der sowjetischen Literatur und Poesie.

Ein Resultat der neueren Tendenz aber wurde ein schreckliches soziales Phänomen, das wichtigste am Ende der Breschnew Ära: der Alkoholismus. Die Folge war eine grauenhafte Zunahme von häuslicher Gewalt.  Mir scheint, dass es sich dabei um eine direkte Folge der nicht verarbeiteten Kriegstraumata handelte, um ein Resultat der staatlichen Erinnerungspolitik in Bezug auf den Krieg. Niemanden interessierten die Veteranen:innen. Niemand wollte ihnen zuhören, und sie tranken schrecklich. Später, in den 1980er Jahren, passierte dasselbe mit den Rückkehrern aus dem Afghanistankrieg. Der Alkohol und die später auftauchenden Drogen dienten als einzige Heilmittel gegen die Kriegstraumata und verursachten schreckliche Gewalt gegen Frauen und Kinder.

Das heißt, noch unter Breschnew verwandelt sich der 9. Mai von einem Tag des Gedenkens an den Krieg und seine Opfer in den „Tag des Sieges“. Hat das dazu geführt, dass heute der Slogan „Nie wieder Krieg!“ sich umkehrte in „Das können wir nochmal“? Ging dies mit der Bedeutung des Wortes „Sieg“ einher?

Gerade unter Breschnew nahmen die Machthaber den Kampf damit, wie das Volk über den Krieg redete, wieder auf. Da gab es zum Beispiel den Versuch, den Frontsoldaten:inen Bemerkungen über den Anfang des Krieges zu verbieten, über  die damaligen schrecklichen Verluste und über die Rückzüge unserer Armee  – nach all der Siegesgewissheit noch vor Beginn des Krieges.

Leider gibt es auf letztere heute einen schrecklichen Widerhall. Auch damals, 1941, hieß es: wir als UdSSR werden auf dem fremden Territorium sofort mit geringen Verlusten siegen. Aber schon im Herbst 1941 befanden sich 3,5 Millionen unserer Soldaten:innen in Gefangenschaft. Darüber durfte man nicht sprechen. Das wurde in der Breschnewzeit aus der Erinnerung verdrängt.

Eines müssen wir begreifen: das Bewusstsein der heutigen Machthaber in Russland ist ein Produkt jener Erinnerungen an den Sieg, die man ihnen während ihrer Schulzeit in den 1970er Jahren eingebläut hat. Diesem Breschnewschen Siegesmythos begegne ich heute in Russland wieder, aber in einer verstärkten, pervertierten Variante.

Doch dieses offizielle Kriegs- und Siegesgedenken ging den Leuten in der UdSSR auch auf die Nerven. Es ist bezeichnend, dass die beständige Erinnerung an den Sieg mit dem Beginn der Perestroika verschwand. Man sprach einfach nicht mehr darüber. Stattdessen war nun von den bisher verschwiegenen Dingen die Rede – vom Kriegsanfang, vom Hitler-Stalin-Pakt. Und jene Länder, die in jenem Krieg besonders gelitten hatten, die Ukraine, Polen, die baltischen Staaten, begannen nun von ihrem eigenen Krieg zu erzählen, von ihrer eigenen Tragödie. Und zu Beginn der 1990er Jahre begannen sogar Diskussionen darüber, ob es denn überhaupt notwendig gewesen sei zu kämpfen, und warum mit einem derart hohen Einsatz. Zwischen 1991 und 1995 wurden in Russland keine Paraden mehr durchgeführt, nun aber schon aus ganz anderen Gründen als unter Stalin.

Und Sie haben Recht, der Slogan „Nie wieder Krieg!“ genoss bei den Leuten große Popularität. Eine heuchlerische, denn die UdSSR führte ja Krieg in Afghanistan. Aber dennoch lag darin ein gewisses Pathos  – ein Nein zum Krieg.

Deshalb ist das, was am Vorabend dieses 9. Mai geschieht, besonders schrecklich. Wie Begriffe verdreht werden, die man aus der Geschichte des Zweiten Weltkrieges und aus der Geschichte des Kampfes gegen den Faschismus entlehnt hat. Da wird alles auf den Kopf gestellt. Was bedeutet Entnazifizierung? Was bedeutet Faschismus? Anstelle der Apotheose des Friedens tritt nun die Apotheose des Krieges. Worte wie „Faschismus“ und „Nazismus“ sind im Bewusstsein der russischen Bevölkerung mit jener großen Tragödie ganz emotional verbunden. Und für viele Menschen ist es etwas sehr Ernstes und ruft ganz bestimmte Assoziationen hervor, wenn man jemanden des Faschismus bezichtigt. Davon macht die russische Propaganda jetzt Gebrauch. Und so kommt es zu einem schrecklichen Verbrechen, zur Verdrehung des Sinnes dieser Begriffe. Russlands Machthaber haben diesen Prozess angestoßen.

Die erste Parade im neuen Russland fand im Jahre 1995 unter Boris Jelzin statt. Vor dem Hintergrund eines wiederum verbrecherischen Krieges, den Russland in Tschetschenien führte. Haben diese beiden Ereignisse miteinander zu tun?

Die Rückkehr der Paraden im Jahre 1995 verbinde ich nicht nur mit Tschetschenien. Sondern auch mit der Wiederauferstehung eines bestimmten Wortschatzes. Schon wie man in manchen Reportagen aus Grosny über jenen Krieg berichtete, wies auf das Entstehen einer gefährlichen Tendenz hin. Dies zum einen. Und zum anderen war da die Suche nach Unterstützung in einem bestimmten Elektorat.

Wir wissen: Im Jahre 1996 hätten bei den Wahlen auch die Kommunisten siegen können. Jelzin musste seinen Wähler:innen, ehemaligen Sowjetmenschen, irgend etwas sie Einendes anbieten, sie ihre Gemeinsamkeiten empfinden lassen, um sie von den Kommunisten auf seine Seite zu ziehen. Die Erinnerung an den Krieg passte da am besten. Und von nun an eskalierte alles. Eine Parade nach der anderen. Danach der 9. Mai als arbeitsfreier Feiertag. Immer öfter tauchte jene aus der Breschnew Zeit stammende offizielle Erinnerung auf: an den Sieg, nicht aber an seinen Preis.

Die Frage nach dem Preis hat im heutigen Kriegsdiskurs überhaupt keinen Platz mehr. Zum noch schrecklicheren Hinweis darauf, was geschehen könnte, wurde das Jahr 2005, als der Staat erneut Stalin als Symbol für den 9. Mai anbot (in Form von Denkmälern und Porträts).

Den Leuten fällt es immer schwer, sich negative Szenarien vorzustellen. Und ehrlich gesagt war es noch zu Beginn der Nullerjahre schwer sich vorzustellen, dass man im Zeichen dieses Sieges auch noch in Georgien einen Krieg führen wird, die Krim annektieren und so weit gehen wird, wie es heute geschieht.

Etwas Schreckliches hat begonnen, die Verdrehung von Begriffen aus dem Zweiten Weltkrieg und aus der Geschichte des Kampfes gegen den Faschismus. Heute sind die Wörter „Krieg“ und „Frieden“ in Russland verboten und übrig geblieben ist bloß das Wort „Sieg“. Das Wort „Sieg“ bezeichnet jetzt den Sieg des Staates über den Menschen.

Im Jahre 2012 erblickte unter dem Namen „Das unsterbliche Regiment“ ein Projekt das Licht der Welt, welches sich als nichtkommerziell, unpolitisch und nichtstaatlich verstand. Kann man sagen, dass dies ein Versuch war, unter Putin die Erinnerung an jenen verschwiegenen Krieg zu restaurieren?

Die von Tomsker Journalist:innen gestartete Aktion „Das unsterbliche Regiment“ (Besmertniy Polk) war tatsächlich ein Versuch, dem militaristischen Gedenken, dem Siegesmythos etwas Anderes entgegenzustellen. Die Erklärung, dass Panzer und Raketen diese Erinnerung nicht repräsentieren. Diese Leute gingen mit Porträts von im Krieg eingesetzten oder gestorbenen Vorfahren und ihnen nahestehender Menschen auf die Straße. Es war dies eine sehr menschliche Aktion, die von der Bevölkerung verstanden und aufgegriffen wurde. Aber wie schon so manches Mal vorher, beschlossen unsere Machthaber ein gelungenes Graswurzelprojekt zu verstaatlichen und daraus eine eigene Aktion von oben zu machen.

Und was bedeutet eine staatliche Aktion? Es heißt, dass Schüler:innen und die Mitarbeiter:innen staatlicher Unternehmen dazu verpflichtet werden auf die Straße zu gehen. Und schon seit 2014 führt man diese Aktion in großen Städten genau so durch, eben als staatliche, darunter auch in Moskau, wo Leute mit Porträts paradieren.

Dadurch wurde der Sinn dieser Aktion als Gedenken an eine Tragödie übertüncht. Bei den letzten Aktionen hatten sie die Porträts ihrer Großväter schon durch die von Stalin, Molotow und sogar Berija ersetzt, des einstigen Ministers für Staatssicherheit, eines Anführers des Großen Terrors, der gewaltige Mengen vergossenen Blutes auf dem Gewissen hatte.

Wir erleben jetzt einen tragischen Moment, in welchem Leute, die das Gedenken ihrer umgekommenen Nächsten begehen möchten (und die gibt es in jeder Familie) sich mit der Tatsache konfrontiert sehen, dass sie an einem schrecklichen staatlichen Projekt mitwirken. In der Folge wird das persönliche Gedenken an den Krieg zertrampelt. Die Erinnerungen an die Tragödie und an die Verluste werden auf diese Weise vom Staat annektiert. Und da stellt sich die Frage: im Namen welcher Sache gehen denn diese Menschen heute eigentlich auf die Straße?

Einer der Mitbegründer der Organisation Memorial International und Leiter des ebenfalls vom Staat aufgelösten gleichnamigen russischen Menschenrechtszentrums,  Oleg Orlow, geht regelmäßig mit Plakaten auf den Roten Platz. Jedes Mal wird er verhaftet. Auf seinem letzten Plakat stand geschrieben: „Aus dem Land der Sieger über den Faschismus ist das Land des siegreichen Faschismus geworden“. Diese schreckliche Feststellung trifft heute zu.

Stellen wir uns einmal vor, dass dieser Krieg hinter uns liegt. Existiert in Russland der 9. Mai dann noch als Gedenktag? Brauchen wir dann noch solch einen Tag? Oder wird das soeben zurückliegende Geschehen ihn dann völlig diskreditiert haben?

Wenn wir einmal davon ausgehen, dass sich Russland verändern wird, dann müssen wir uns auch vorstellen können, in welche Richtung es sich verändern wird. Und dies ist zur Zeit völlig unklar. In Zukunft könnten sich die Dinge so entwickeln, dass Russland in seiner heutigen Gestalt nicht mehr existiert und dass dann ganz verschiedene Erinnerungsdiskurse vorliegen. Einer im Kaukasus, im Nordkaukasus. Ein anderer in Tatarstan oder in Zentralrussland. Mit das Schwierigste an unserer heutigen Situation ist, dass wir die Zukunft überhaupt nicht mehr vorhersagen können. Wir alle sind Zeugen der atomaren Bedrohung, und schon allein deshalb ist es gerade jetzt schwierig darüber zu reden, was später einmal sein wird.

Aber eines ist klar, wir werden für die Rückkehr eines menschlichen Gedenkens an jenen Krieg einen sehr hohen Preis zahlen müssen. Denn dieses Gedenken wird durch die heutigen Ereignisse pervertiert.

Russische Propagandist:innen reden heute davon, Atomwaffen in der Realität anzuwenden und erörtern die Frage, wie viele Sekunden die Raketen brauchen würden um bis nach London zu fliegen. Und die Leute hören zu. Und alle haben die schrecklichen Lektionen von Hiroshima und Nagasaki vergessen. Es wird gewaltiger Kraftanstrengungen aller bedürfen, um an diese Stelle wieder etwas Anderes zu setzen, um zu einem echten Pathos zurückzukehren – gegen den Krieg.

Und da gibt es noch etwas, was wir auf der Stelle tun müssen: unseren Pazifismus überdenken. Da ist etwas sehr Trauriges passiert! Der Nachkriegspazifismus, den wir alle unterstützt haben, funktioniert heute nicht mehr. Jetzt kommt dieser Pazifismus als nackte Angst daher, als Versuch vor der Wirklichkeit zu fliehen, sich vor der Verantwortung zu drücken.

Die Friedensbewegung in der ehemaligen DDR z.B. richtete sich gegen die waffenstarrende sowjetische Militärpräsenz. Darin lag ihr Sinn. Jetzt müssen wir diese pazifistische Position überdenken und neu formulieren. Das wird ein sehr schwerer Weg. Aber wenn wir ihn nicht gehen, wird weiterhin eine gewaltige Drohung über der Menschheit schweben.

Mit Irina Scherbakowa sprach Nuriya Fatykhova, Koordinatorin des Programmes „Demokratie“ bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Russland.