In Memoriam: Elisabeth Weber

Porträt Elisabeth Weber

In Memoriam

Elisabeth

Ach! Elisabeth Weber ist tot. Ach! hätte sie geseufzt, wenn sie nun selbst vom Tod eines anderen Menschen erfahren hätte. Dieses so typische elisabethianische Ach! vereinte Verwunderung über  und Verwundung durch die Welt. Es drückte Verzweiflung aus, Ergebenheit, Erkennen, aber auch Neugier. Überhaupt Neugier. Elisabeth war -das war schneidet tief ins Herz!- ein überaus neugieriger Mensch. Neugierig vor allem auf Menschen - alles andere interessierte sie weniger. Auf verschiedene Menschen, aus verschiedenen Gegenden und Ländern, mit verschiedenen Ansichten, verschiedener Herkunft und verschiedener Schicksale. Darüber wollte sie schwatzen, wie sie das nannte, wenn es ging, stundenlang.

Geboren wurde Elisabeth 1941, noch im Krieg, in Hamburg. Ihr Vater war evangelischer Pastor, der der bekennenden Kirche nahestand. Über ihre politische Sozialisation gab sie einmal in einem Zwischenbericht überschriebenen Text Auskunft. Ein Text, den sie schrieb, als sie schon Rentnerin war (was nur hieß, dass sie für die Beschäftigung mit Politik nicht mehr ins Büro ging), um über die Zusammenarbeit von Grünen und Bündnis 90 nachzudenken. Sie hatte 1990 für ein paar Monate in (Ost-)Berlin als Verbindungsperson gearbeitet. Als sie sich an den Computer setzte, schrieb sie, hätten sie die Gedanken nur so überschwemmt, weshalb das Ergebnis eine Art selbstreflektierendes Ordnen ihrer selbst geworden sei: „Ich erinnerte mich an mein DDR-Bild in der Schulzeit in Hamburg, schrieb über meine Erfahrungen mit der DDR während meiner Studienzeit in Westberlin, wo ich von 62-72 lebte und aktiv an der Studentenbewegung teilnahm. (SEW miese Taktierer, manchmal in Ostberlin – gutes Theater, aber sonst nicht attraktiv, keine Leute kennengelernt). Dann die Zeit als Mitglied einer maoistischen Organisation, links und antisowjetisch. Dann neuer Anfang, die Erfahrungen in der Russell-Gruppe in Köln und die Begegnungen mit Bernd Eisenfeld, Jürgen Fuchs und Roland Jahn. Dann die Diskussionen in der Bundestagsfraktion der Grünen, wo ich seit Dezember 1983 als Mitarbeiterin erst von Milan Horáček, dann Uli Fischer, dann Helmut Lippelt arbeitete. Schwerpunkt waren Ost-West-Beziehungen.“ Die Ost-West-Beziehungen blieben es dann, ihr Lebensthema.

Was Elisabeth in diesem Schnelldurchgang seltsamerweise nicht erwähnt hat, war die Begegnung mit Raissa Orlowa. Raissa Orlowa war 1981 zusammen mit ihrem Mann Lew Kopelew für ein Studienjahr nach Deutschland, nach Köln gekommen. Kaum dort, bürgerte die Sowjetunion sie aus. Elisabeth Weber wurde Raissa Orlowas Deutschlehrerin. Doch wie immer bei Elisabeth blieb es nicht einseitig. Sie lehrte Raissa Orlowa deutsch (und ein wenig auch deutsches Leben). Raissa Orlowa erzählte Elisabeth von der Sowjetunion, von Russland. Das war typisch. Gespräche mit Elisabeth waren nie eingleisig. Sie waren immer Geben und Nehmen: „So, und jetzt erzähl du mal!“

Später hatten wir immer wieder die Gelegenheit, bei Treffen von Elisabeth mit russischen Freundinnen und Freunden zu übersetzen. Sie fragte sie regelrecht aus nach dem, was in Russland passiert. Danach aber bestand sie oft darauf, auch zu erzählen, wie es in Deutschland zugeht und bei den Grünen. Es ging um gegenseitiges Verstehen.  

Elisabeth war eine Menschenzusammenbringerin. Fast jedes Gespräch mit ihr beinhaltete die Frage, ob man diese oder jenen schon kenne, getroffen oder seinen/ihren Text gelesen habe und dass es doch interessant wäre, mal zusammen zu kommen. Ihre Verbindung zur Welt, ihre Nabelschnur, war schon in der grünen Bundestagsfraktion, in der sie über 25 Jahre lang den Westen mit dem Osten Europas zu verbinden versuchte, das Telefon. Das wurde es noch mehr, als ihr später ihre Krankheit, ganz zum Schluss als Multiple Sklerose diagnostiziert, immer mehr Bewegungsfreiheit nahm und sie letztlich in den Rollstuhl zwang. Wenn man einer/einem gemeinsamen Bekannten sagte, du, ich habe mit Elisabeth telefoniert, war die Antwort ganz gewiss: ich auch.

Als Mitbegründerin der Heinrich-Böll-Stiftung und Mitglied des Fachbeirats Europa hat sie deren Arbeit der Stiftung in Mittel- und Osteuropa immer wieder initiiert, inspiriert und über Jahrzehnte mitgeprägt. Sie war eine der wichtigsten Brückenbauerinnen und Übersetzerin im schwierigen Verhältnis zwischen der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung und den westdeutschen Grünen. Zwischen Deutschen und Polen, zwischen Deutschen und Rumänen, zwischen Deutschen und Russen. Sie wurde für viele Partner*innen aus diesen Ländern, wie Arsenij Roginskij, Elena Schemkowa, Dorota Metea oder Janusz Reiter -um nur ganz wenige aus einer riesigen Zahl zu nennen- nicht nur eine wichtige politische Gesprächspartnerin, sondern eine vertraute Freundin.  

Das mag auch daran gelegen haben, dass sie die Welt vor allem durch Menschen zu verstehen suchte. Deren Schicksale, deren Entscheidungen, deren Lebensgeschichten waren Elisabeths Leidenschaft. Egal, ob nun der Taxifahrer aus Rumänien, der sie gerade gebracht hatte, die Stipendiatin aus der Ukraine, ein russlanddeutscher Ingenieur, dem sie im Zug gegenübergesessen hatte oder die polnische Pflegerin im Krankenhaus, jede dieser Geschichten interessierte sie, sie erzählte sie weiter und war überzeugt, so einem gemeinsamen Verständnis der Welt, einem gemeinsamen Verstehen näher zu kommen.

In den vergangenen Jahren fiel es Elisabeth immer schwerer, sich fortzubewegen. Jedes Verlassen der Wohnung war eine Aktion. Jede Reise eine Expedition. Doch sie gab nie auf. Nicht in Bezug auf ihre Krankheit, die sie dämlich nannte, nicht politisch im Streben nach einer freieren und demokratischeren Zukunft für uns alle und alle anderen. Sie war nicht naiv, hatte keine Illusionen. Sie hatte 1968 und 1989 zwei Aufbrüche erlebt und litt, wie wir alle, in den vergangenen Jahren am Abbruch. Aber Aufgeben kam nicht in Frage.

Wenn sie anrief, kam fast immer zuerst die Frage: „Ist das der Jens/der Walter?“ Und danach dann gleich: „Und?“ In diesem Und? steckte die ganze Welt. Dieses forschende, auffordernde, freundliche, auch ein wenig verschmitzte Und? wird uns sehr fehlen.

Jens Siegert                                                       Walter Kaufmann
Langjähriger Büroleiter in Moskau             Leiter des Referats Ost- und
                                                                             Südosteuropa