Der Aufruhr einer Nation über das Leben einer trans Frau und ihrem Kampf für politischen Wandel

Eine trans Frau bekennt sich offen zu ihrem Geschlecht und wird im Rahmen der zunehmend starren und polarisierten Identitätspolitik in Malaysia als Bedrohung aufgefasst. Nur Sajat, eine erfolgreiche Unternehmerin und Social-Media-Influencerin in Malaysia, wird seit Jahren von der Regierung und der Öffentlichkeit - meistens aufgrund ihrer Geschlechtsidentität - ins Visier genommen.

Gender Identity

2018 setzten die islamischen Behörden Sajat unter Druck, sich einem Verifizierungsverfahren zur Bestimmung ihres Geschlechts zu unterziehen und die Frage um ihre Geschlechtsidentität wurde daraufhin in den Mainstream- und den sozialen Medien hochgespielt. 2021 wurde sie festgenommen, inhaftiert und angeklagt, weil sie bei einer religiösen Veranstaltung, deren Gastgeberin sie war, Frauenkleidung trug und dadurch angeblich den Islam beleidigt haben soll. Während ihrer Inhaftierung wurde sie von den Ordnungskräften sexuell missbraucht und gedemütigt. Als Sajat nicht zu einer Gerichtsverhandlung erschien, setzte die Religionsbehörde insgesamt 122 Angestellte ein, um sie ausfindig zu machen - eine Entscheidung, die von der Zivilgesellschaft als unverhältnismäßig und übertrieben kritisiert wurde. Viele Politiker, religiöse Führer und Gesetzeshüter bestehen darauf, dass das Transgender-Dasein gegen islamische Werte verstöße und der harte Umgang mit Sajat daher notwendig sei, um die Heiligkeit des Islam zu wahren. Die kontinuierlichen Misshandlungen und Demütigungen haben schließlich dazu geführt, dass sie das Land verlassen musste; Sajat wurde nun in Australien Asyl gewährt.

Die öffentliche Hysterie über das Leben einer Transgender-Frau ist symptomatisch für das Zusammenspiel der ethnischen und religiösen Identitätspolitik in Malaysia, wo die malaiisch-muslimische Identität auf einer moralischen Vorstellung von Nation basiert.[1]  Das Narrativ des “wahren” oder einheimischen malaiischen Muslims, das oft von den malaiischen Eliten und der größeren heteronormativen malaiischen Gesellschaft definiert wird, steht der Idee von "uns" gegen "die anderen" gegenüber - andere, d.h die, die demnach als nicht malaiisch-muslimisch oder nicht malaiisch-muslimisch “genug” gelten. Geschlecht und Sexualität werden dadurch zu einer Kategorie, die leicht in dieses auf Gegensätzen basierenden Narrativ eingeordnet werden kann: männlich oder weiblich, verheiratet oder ledig, heterosexuell oder homosexuell, zivilisiert oder pervers.  Die abwertende Haltung gegenüber geschlechtlicher und sexueller Vielfalt ist Mittel zum Zweck geworden, die hierarchische Staatsbürgerschaft aufrechtzuerhalten, in der heterosexuelle und malaiische muslimische Cis-Männer als überlegen gelten und Anspruch auf besondere Rechte haben.

Wissenschaftler*innen gehen davon aus, dass die Aufregung um Sajat und anderen LGBTQ-Personen  der zunehmenden Politisierung ethnischer und religiöser Zugehörigkeit verschuldet ist, und nicht auf eine generelle Abneigung der malaiischen Gesellschaft oder der religiösen Lehren zurückgeht. Die Gründung des Ministeriums für islamische Entwicklung in Malaysia (JAKIM) hat in den 1990er Jahren zur Institutionalisierung des Islam geführt und dadurch ein mächtiges Meta-Narrativ hervorgebracht, das die Heteronormativität und die Intoleranz gegenüber sexueller und geschlechtlicher Vielfalt verfestigt. Der Schritt zur Institutionalisierung des Islam war ein Meilenstein für die damalige UMNO-Regierung (United Malays National Organisation), um sich ihre malaiisch-muslimische Wählerschaft zu sichern, indem sie sich als Beschützerin des Islam und Vertreterin besonderer Privilegien für Malaien präsentierte.

Der Islam spielt bei der Definierung der Geschlechterverhältnisse eine wichtige Rolle, wonach die malaiisch-muslimische Identität in ein heteronormatives Korsett eingebettet ist, das über das Leben von Frauen und Mädchen bestimmt, eine zwanghafte Heterosexualität predigt, und exklusive Religiosität und Nationalismus vorschreibt.[2] Dass Sajat als Zeichen ihres islamischen Glaubens den Hidschab trägt und nach Mekka gepilgert ist, wurde öffentlich als Übertretung, aber vor allem als Bedrohung für die malaiische muslimische Gemeinschaft und die Nation insgesamt aufgefasst.  Sajats öffentliche Selbstdarstellung als malaiische muslimische trans Frau war ihre persönliche Art, das vorherrschende Verständnis von malaiisch-muslimischer Identität in Malaysia neu zu definieren. Andere, die ebenso versucht haben, eine alternative Vorstellung von malaiisch-muslimischer Identität zu vermitteln, sind wie Sajat Stigmatisierung, Diskriminierung, Einschüchterung, Verhaftung und Missbrauch ausgesetzt gewesen.

Obwohl diese beschränkte Identitätspolitik Muslime am härtesten trifft, werden neuerdings zunehmend auch Nicht-Muslime zur (öffentlichen) Zielscheibe. Eine weitere Kontroverse entzündete sich an einer lokal hergestellten Whiskeymarke namens Timah. Konservative muslimische Gruppen protestierten gegen die Verwendung des Namens "Timah", der als Kurzform von "Fatimah" gilt, dem Namen der Tochter des Propheten Mohammad, und als unangemessen angesehen wird, da Alkoholkonsum im Islam verboten ist. Nicht-muslimische Tik-Tok-User*innen, insbesondere Frauen und Mädchen, sahen sich oft mit der Sittenpolizei konfrontiert und wurden aufgefordert, ihre "Aurat" zu bedecken, da malaiische Muslime zusehen könnten.

Die Idee einer malaiisch-muslimischen Vorherrschaft hat sich schnell verbreitet und wird von Politiker*innen für den populistischen Diskurs benutzt, für den die sozialen Medien ein wirksames Mittel darstellen. Dies ist einer der Hauptfaktoren, der zum Sturz der Pakatan-Harapan-Regierung im Jahr 2020 führte, deren Wahl Anlass zur Hoffnung auf politische Reformen gegeben hatte. Die Pakatan-Harapan-Koalition hat sich nur 22 Monate lang an der Macht gehalten. Mit ihrer Wahl erlebte die Bevölkerung den ersten Regimewechsel seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1957, das seitdem durchgängig von der UMNO-Partei regiert wurde. Leider hat es der Regimewechsel nicht geschafft, die vielen angestrebten Reformen umzusetzen, die vor der Wahl versprochen worden waren, ganz zu schweigen von der polarisierten Identitätspolitik und der dringend notwendigen Reform religiöser Institutionen.

Nach ihrer ersten Wahlniederlage schloss sich die UMNO mit ihrem langjährigen politischen Rivalen, der Malaysian Islamist Party (PAS; malaiische Übersetzung: Parti Islam Se-Malaysia), zum National Consensus Charter zusammen, einem politischen Pakt, der sich für die Privilegien malaiischer Muslime einsetzt und dadurch die Kluft innerhalb des Landes weiter vertieft. UMNO/PAS gewannen drei Nachwahlen und setzten im Wahlkampf inhaltlich  auf Fremdenfeindlichkeit, den gesellschaftlichen Unmut über das wirtschaftliche Ungleichgewicht und die Abneigung gegenüber politischer Reformen (z.B die Ratifizierung des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung, die Bekämpfung der Kinderehe, usw.). Die Pakatan-Harapan-Regierung wurde unterdessen als "liberal" und damit als Bedrohung für den Islam und die malaiischen Privilegien abgestempelt.

Während des Frauenmarsches, der am Internationalen Frauentag 2019 stattfand, wurden Regenbogenflaggen geschwungen und gegen Diskriminierung nach dem SOGIE Equality Bill protestiert; politische Gegner*innen und ihre sogenannten “Cybertrooper”[3] lehnten sich gegen diese Forderungen auf und beschuldigten die Pakatan-Harapan-Koalition, bei der Verteidigung muslimischer Interessen versagt zu haben. Der damalige Premierminister erklärte öffentlich, dass Malaysia keine LGBTQ-Rechte vertreten könne, da "Malaysia seine eigene Kultur hat und nichts vertreten kann, was seiner Kultur, seinen Traditionen und seiner Religion widerspricht." Unter der Pakatan-Harapan-Regierung hatten die religiösen Behörden weiterhin freie Hand über LGBTQ-Personen - zwei lesbische Frauen wurden aufgrund eines Syariah-Erlasses, der sexuelle Beziehungen zwischen Frauen unter Strafe stellt, öffentlich verurteilt; fünf Männer wurden zu sechs bis sieben Monaten Gefängnis, sechs Stockschlägen und einer Geldstrafe verurteilt, nachdem die religiösen Behörden ihre Privatwohnungen durchsucht hatten. Nachdem sie vor den Wahlen versprochen hatten, Menschenrechte verteidigen zu wollen, war das Schweigen der Regierung ein klares Zeichen dafür, dass ihnen die Beschwichtigung malaiisch-muslimischen Wähler*innen wichtiger war als politische Reformen anzugehen.

Letztlich war es der Konflikt innerhalb der Pakatan Harapan, darüber wie man sich zur ethnisch-religiöse Identitätspolitik und zum Säkularismus positionieren solle, die zur internen Spaltung und dem unvermeidlichen Ende ihrer Macht führten.

Ethnische und religiöse Zugehörigkeit, Gender und Sexualität sind gesellschaftlich tief verwurzelt und werden das Land wohl noch lange beschäftigen. Politische und institutionelle Reformen oder Maßnahmen zur Gleichstellung der Geschlechter können nicht durchgeführt werden, ohne gleichzeitig die zugrunde liegende Polarisierung von Ethnie und Religion anzugehen. Die Pandemie hat zudem verdeutlicht, dass Identitätspolitik gefährlich sein kann und der Bewältigung des eigentlichen Problems im Wege steht. Die Covid-19-Pandemie hat die Schwächen unseres politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systems zum Vorschein gebracht, weshalb es umso wichtiger geworden ist, den politischen Fahrplan für eine bessere Gesellschaft jetzt neu zu gestalten.


[1] Kee, Jac sm, (2020, in collaboration w Jaafar J). Think piece: Narrating and challenging gender norms on social media in Asia. For access: write@jacsmk.space

[2] Basarudin, A. (2016). Islam, the State, and Gender: The Malaysian Experiment. Humanizing the Sacred (pp. 39-72). United State of America: University of Washington Press

[3] Unter Cybertrooper versteht man Personen, die von staatlichen Akteuren oder politischen Parteien angeheuert werden, um den politischen Diskurs zu manipulieren oder politische Propaganda zu verbreiten.