Wie COVID-19 und Desinformation die Vereinigten Staaten und Deutschland bedrohen

Kommentar

In den vergangenen zwei Jahren waren die USA und Deutschland bei der Bekämpfung von COVID-19 die meiste Zeit sehr unterschiedlich erfolgreich. Während die chaotische Reaktion der Trump-Regierung auf das Virus die Bundesstaaten praktisch sich selbst überließ, führten flächendeckende Tests, eine gute Verfügbarkeit von Intensivbetten und ein hohes Maß an Vertrauen in die Regierung dazu, dass in den ersten Monaten der Pandemie von einer „deutschen Ausnahme“ die Rede war.

oronavirus Vaccine - Fake News, Lies, Verschwörungstheorien oder Wahrheit und Fakten über Covid-19 Impfung 3D Illustration

Bereits im Sommer 2020 begann dieser Erfolg aber zu bröckeln, insbesondere mit der wachsenden Querdenker-Bewegung – einer heterogenen, aber zunehmend gewalttätigen Protestbewegung, die sich gegen die COVID-19-Lockdowns formierte. Doch die deutsche Antwort auf die Pandemie war immer noch besser als die der Vereinigten Staaten, deren Präsident öffentlich Injektionen mit Chlorreiniger erwog und wo massive Mängel im amerikanischen Gesundheitssystem zutage traten. Vor diesem Hintergrund ist der dramatische Anstieg der Coronavirus-Fälle, der Deutschland im Spätherbst und Winter 2021 heimsucht, ziemlich überraschend ... oder sogar auf gewisse Weise geradezu „amerikanisch“:

Ende Oktober 2021 warnte das Robert-Koch-Institut (RKI), die deutsche Behörde für Krankheitsüberwachung und -prävention und Pendant zum US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention (CDC) vor einem plötzlichen, starken Anstieg der COVID-19-Infektionen bei sinkenden Temperaturen. Binnen drei Wochen meldete das RKI mehr als 50.000 neue COVID-19-Fälle in Deutschland an einem einzigen Tag, beinahe das Doppelte des bisherigen Höchststandes von rund 25.757 Fällen, die am 23. Dezember 2020 gemeldet wurden.

11 Monate nach Verabreichung der ersten COVID-19-Impfungen in Deutschland erkrankten mehr Menschen schneller als je zuvor. Zwar war eine Reihe von Faktoren für diesen Anstieg verantwortlich, doch sprach Gesundheitsminister Jens Spahn im September 2021 von einer „Pandemie der Ungeimpften“, eine zwei Monate zuvor von der Leiterin des CDC geäußerte Formulierung aufgreifend.

Es ist kein Zufall, dass deutsche Minister die gleiche Wortwahl verwenden, mit der im Sommer die Infektionswelle im Süden der USA beschrieben wurde.

In beiden Ländern lässt sich der dramatische Anstieg an COVID-19-Fällen auf Versäumnisse beim Aufbau von Immunität durch Impfung zurückführen. In den Vereinigten Staaten setzte Präsident Biden bei seiner Kampagne für einen „Sommer der Freiheit“, wonach 70 % der erwachsenen Amerikaner*innen bis zum vierten Juli geimpft sein sollten, eher auf freiwillige Anreize als auf Auflagen. Im Rahmen dieser Bemühungen rief die Biden-Regierung im Juni 2021 einen „Aktionsmonat“ aus, um die Zahl der Impfungen durch Anreize wie Freibier oder Kinderbetreuung zu erhöhen.

Im stark konservativen Süden der USA verschärften die widersprüchlichen Botschaften die bestehenden Meinungsverschiedenheiten über COVID-19. Während einige republikanische Gouverneur*innen wie Kay Ivey (Alabama) und Asa Hutchinson (Arkansas) die Bevölkerung dazu aufriefen, sich impfen zu lassen, stoppten republikanische Beamte in Tennessee wegen ihrer Ablehnung des COVID-19-Impfstoffs kurzzeitig sämtliche Impfkampagnen für Jugendliche, selbst für Routineimpfungen gegen Grippe oder Masern. Doch selbst wo Impfkampagnen unterstützt wurden, basierte der Ansatz auf „Eigenverantwortung“. Das Fehlen eines landesweiten Impfpasssystems in Verbindung mit der Empfehlung des CDC, die Maskenpflicht für Geimpfte aufzuheben, machte den „Sommer der Freiheit“ zu einer sommerlichen Welle neuer Fälle.

Die aktuelle Coronavirus-Welle in Deutschland ist das Ergebnis eines ähnlichen Versagens im Sommer und Herbst 2021. Als die Temperaturen im Sommer stiegen, sahen immer weniger Deutsche COVID-19 als wichtigstes Thema für das Land an, von 85 % im März 2021 auf 45 % im Juni 2021. Als immer mehr Deutsche Zugang zum COVID-19-Impfstoff erhielten, begannen viele deutsche Politiker*innen, eine Lockerung der Beschränkungen zu fordern, obwohl einige wegen des Anstiegs der Delta-Variante noch zur Vorsicht rieten.

In der heißen Phase des Bundestagswahlkampfs war das Coronavirus ein eher untergeordnetes Thema, obwohl Virolog*innen befürchteten, dass die Impfquote in Deutschland noch zu niedrig sei. Jörg Haßler, Leiter einer Studie an der Ludwig-Maximilians-Universität über die Rolle des Themas COVID-19 im Wahlkampf, führte dieses Phänomen darauf zurück, dass die Parteien COVID-19 als „Minenfeld“ mit einem geringen politischem Nutzenpotenzial betrachteten. Andere warnten vor einem gesellschaftlichen „moralischen Rigorismus“, der die Debatte über Corona-Maßnahmen beeinflusste. So ist es nicht verwunderlich, dass die deutschen Kanzlerkandidat*innen trotz steigender Quarantänezahlen weiter versprachen, dass im Herbst an den Schulen Präsenzunterricht stattfinden würde. Unter den Kanzlerkandidat*innen gab es uneinheitliche Unterstützung dafür, dass die „2G“ Regel eingeführt werden sollte, wonach man entweder geimpft oder von COVID-19 genesen sein muss, um Orte wie Restaurants oder Theater zu betreten. Armin Laschet, Kanzlerkandidat der CDU, hatte es ausgeschlossen; Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin der Grünen, hatte es für Hotspots wiederum befürwortet. Trotzdem hätten Gesundheitspolitiker es schwierig wegen des laufenden Wahlkampfs gefunden, mit Warnungen durchzubrechen, laut Janosch Dahmen der Grünen.

Die deutschen Bundesländer reagierten auf stagnierende Impfraten mit kuriosen Anreizen wie kostenlosen Bratwürsten oder Riesenradfahrten, um die Impfwilligkeit zu fördern. Die Bundesregierung forderte eine bundesweite „Impfwoche“ im September 2021, um flexiblere Impfmöglichkeiten zu schaffen. Obwohl diese Bemühungen zur Steigerung der Impfquote scheiterten, begannen die großen Impfzentren wie im Juni 2021 geplant, zum 30. September zu schließen. Am 18. Oktober erklärte Gesundheitsminister Spahn, dass der gesetzliche Ausnahmezustand zur Bekämpfung des Coronavirus am 25. November auslaufen sollte. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder mahnte zwar zu Vorsicht, bezeichnete den Schritt jedoch als Ankündigung eines indirekten „Tages der Freiheit“ Ende November.

Diese freiwilligen Impfkampagnen reichten nicht aus, um die vielen Ungeimpften in beiden Ländern zu überzeugen – zum 1. Dezember 2021 noch ungefähr 29 % der Amerikaner*innen sowie auch der Deutschen. Besonders heftig war der Anstieg an Fällen im Süden der Vereinigten Staaten, wo, etwa in Mississippi, bis zu 45 % Prozent der Bevölkerung noch nicht gegen COVID-19 geimpft sind. In Deutschland gibt es nicht nur in östlichen Bundesländern wie Sachsen – wo 39 % der Bevölkerung zum 2. Dezember noch ungeimpft war – sondern auch in westlichen Bundesländern wie Bayern oder Baden-Württemberg Landstriche mit erheblicher Resistenz gegen Impfungen.

Sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Deutschland sind die Ungeimpften eine bunt gemischte Gruppe. Nach Umfragen vom Juni 2021, noch vor der Sommerwelle, blieben nicht nur Anhänger*innen der Republikaner, sondern auch allgemein jüngere Menschen (zwischen 18 und 29) hinter dem nationalen Durchschnitt zurück. In diesen Gruppen hatten 52 % bzw. 55 % mindestens eine Dosis erhalten, verglichen mit der allgemeinen Impfquote von 65 %. Zwischen Dezember 2020 und Juni 2021 gaben 13 - 15 % der erwachsenen Bevölkerung konsequent an, sich „definitiv nicht“ impfen lassen zu wollen, während 6 - 9 % angaben, es nur im Falle einer Impfpflicht tun zu wollen. Die Gründe für Impfunwilligkeit sind vielfältig, doch oft wird Besorgnis über die Sicherheit genannt. 53 % der Ungeimpften haben Bedenken darüber, wie neu die Impfungen noch sind, sowie über mögliche Nebenwirkungen, und 37 % halten sie nicht für sicher.

Ähnlich äußerten sich Ende Oktober 2021 auch 65 % der ungeimpften Deutschen, sich auf keinen Fall in naher Zukunft impfen zu lassen. Als Hauptbedenken nennen sie, die COVID-19-Impfungen seien noch nicht ausreichend erprobt (74 %) oder könnten langfristige Nebenwirkungen haben (62 %). Demographisch betrachtet sind ungeimpfte Deutsche eher jünger und wohnen eher in den ostdeutschen Bundesländern.

Nach fast zwei Jahren Pandemie sorgt die Tatsache, dass eine bestimmte Bevölkerungsgruppe immer noch die Sicherheit oder Notwendigkeit von Impfungen in Frage stellt und sie daher verweigert, in Deutschland und in den Vereinigten Staaten für Unmut. Dass so viele Menschen der COVID-19-Desinformation verfallen, ist allerdings nicht überraschend und sogar verständlich.

Verschwörungstheorien, besonders in Bezug auf Impfungen, verbreiten sich leicht. Katharina Nocuns und Pia Lambertys Fake Facts zitiert eine britische Studie über die Auswirkungen von Verschwörungstheorien auf Impfabsichten, laut der sogar ein einziger Kontakt mit Verschwörungstheorien ausreicht, bei Menschen Misstrauen zu säen und sie zu ängstigen. Nocun und Lamberty schreiben außerdem, dass Ereignisse, die bei Menschen Unsicherheit und Kontrollverlust auslösen – wie etwa eine Pandemie – sie für Verschwörungstheorien besonders empfänglich machen. Eine Studie zu Verschwörungstheorien rund um das Zika-Virus zeigte auch, dass kein Zusammenhang zwischen einer erhöhten Empfänglichkeit gegenüber Verschwörungstheorien und Faktoren wie Geschlecht, Bildungsstand, religiösen Ansichten oder sogar politischem Hintergrund besteht. Anders gesagt läuft fast jeder Gefahr, in die Falle von Verschwörungsmilieus zu geraten.

Abgesehen von Krisenkontexten brodeln Verschwörungstheorien und extremistische Inhalte auch gleich unter der Oberfläche der Mainstream-Medien. Ihre exponentielle Verbreitung fördern YouTube und Facebook mit ihren mächtigen Algorithmen. Sowohl in Deutschland als auch in den Vereinigten Staaten sind Verschwörungstheorien rund um Medizin und Impfungen auch tief historisch verwurzelt.

Doch durch das Auftreten einer neuen Bedrohung, die die meisten Aspekte unseres Lebens zwangsweise ins Digitale verschoben hat, ist das Risiko, dass Menschen mit Desinformation in Kontakt kommen, drastisch gestiegen. Überraschend war das nicht. Schon im Februar 2020 warnte der Generalsekretär der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Tedros Adhanom Ghebreyesus vor einer „Infodemie“ aus Unwahrheiten über das Coronavirus. Seither verbreiten sowohl populistische Führungspersonen als auch autoritäre Länder Desinformation über COVID-19, entweder aus Wahlkalkül oder für ihren eigenen geopolitischen Nutzen.

Skepsis gegenüber Regierungsmaßnahmen zur Pandemiebekämpfung kann von beiden Rändern des politischen Spektrums ausgehen. Eine neue Studie von Nadine Frei und Oliver Nachtwey zur Querdenker-Bewegung zeigt, dass die Anhänger*innen der Bewegung größtenteils politisch links sind und den „alternativen“ und „anthroposophischen“ Szenen angehören. Auch in den Vereinigten Staaten ging Resistenz gegenüber Impfungen oft von der Linken aus, getrieben von pseudo-medizinischen Überzeugungen in traditionellen liberalen Hochburgen wie Boulder, Colorado oder Marin County, Kalifornien. Auch hier setzt sich diese Skepsis in Bezug auf COVID-19 fort.

Eine Korrelation zwischen COVID-19-Impfskepsis und rechter Parteien existiert allerdings auch, sowohl in Deutschland als auch in den Vereinigten Staaten. Doch wie Frei, Nachtwey und andere darlegen, kann die Beteiligung an Protestbewegungen rund um COVID-19 selbst ursprünglich links gesinnte Skeptiker*innen stetig in Richtung der extremen Rechten drängen. Gesellschaftliche Überreaktionen oder einfach der Wunsch nach einer Gemeinschaft Gleichgesinnter kann so zu einem politischen Gesinnungswandel führen. Ob dieser allerdings dauerhaft ist, bleibt noch unklar. Ein Sturm der Desinformation kann es für Impfzögerer durchaus schwerer machen, ihre Skepsis zu überwinden. Doch der Umgang mit dieser Meinungskluft durch den Rest der Bevölkerung hat sie vielleicht noch tiefer in den Morast von Verschwörungstheorien und in offene Impfverweigerung getrieben.

Wie die Vereinigten Staaten steht auch Deutschland vor miteinander verwobenen Problemen: ein dramatischer Anstieg an Coronavirusfällen, befördert von einer immer überzeugteren Gruppe von Impfgegner*innen in der Bevölkerung.

Deutschland hat sich bei seiner Reaktion auf die jüngste Welle an den Vereinigten Staaten und Frankreich orientiert. Nachdem COVID-19 scheinbar wie eine Feuersbrunst durch die ungeimpfte Bevölkerung im Süden der USA raste, bis es letztlich an eine epidemiologische Mauer stieß, kündigte Präsident Biden eine Impfpflicht für große Teile der Bevölkerung an. Im Sommer setzte Präsident Macron unter massiven Protesten einen verpflichtenden Gesundheitspass für den Zutritt zu öffentlichen Räumen sowie eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen durch.

Nun sprachen sich die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel und der neue Kanzler Olaf Scholz für eine allgemeine Impfpflicht aus. Sofern der Bundestag zustimmt, sollte diese im Februar oder März 2022 in Kraft treten. Um die vierte Welle zeitnah einzudämmen, kommt bundesweit in den meisten Läden und Geschäften die 2G-Regel zur Anwendung. Für Ungeimpfte gelten strenge Kontaktbeschränkungen.

Doch es geht um mehr, als nur die Verbreitung des Virus einzudämmen. Es ist ein schwerwiegendes Problem, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung in den USA und in Deutschland nicht mehr in der gleichen wissenschaftlichen Wirklichkeit lebt wie ihre Mitbürger*innen. Nocun und Lamberty warnen, dass Verschwörungsglaube Menschen bis hin zur Gewaltbereitschaft radikalisieren kann, wie verschiedene Gewaltakte und die potentiellen Mordpläne von COVID-Leugnern gegen Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer bezeugen. Verschwörungstheorien stellen eine Bedrohung der nationalen Sicherheit dar, weil deren Anhänger*innen sich international vernetzen und weiter radikalisieren. Sie stellen eine Gefahr für die Demokratie dar, weil sie unsere gemeinsame Auffassung von Wahrheit untergraben.

Es gibt Ressourcen zur Unterstützung von Personen, die Angehörigen oder Freunden aus Verschwörungsmilieus heraushelfen möchten. Doch oft fühlen sie sich allein gelassen, haben Schuldgefühle oder leiden auch seelisch unter der Situation, was sie davon abhält, für die Menschen, die sie kaum wiedererkennen, Hilfe zu suchen. Wie Nocun und Lamberty schreiben, haben Verschwörungstheorien in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit erhalten, doch wie man Betroffenen helfen kann, ist tragischerweise noch viel zu wenig untersucht.

In ihrer letzten Rede als Kanzlerin mahnte Angela Merkel, die Demokratie fuße auf „Solidarität und Vertrauen“ und brauche „laute“ Gegenstimmen zu Verschwörungstheorien und hasserfühlter Agitation. Um Leben zu retten, müssen Deutschland und die Vereinigten Staaten mehr tun, um der Ausbreitung von Verschwörungstheorien und Desinformation entgegenzuwirken, die das Verhältnis zwischen Bürger*innen zur Realität beschädigen und demokratisches Regieren delegitimieren.