Was ist aus queerfeministischer Perspektive über den aktuellen politischen Moment zu sagen?

Dieses Dossier wirft einen interdisziplinären Blick auf die Erstarkung von Antifeminismus und politischer Homofeindlichkeit im Nahen Osten und in Europa.

Aktivist Kamera

In den vergangenen Jahren haben politische Homofeindlichkeit (Weiss und Bosia 2013) sowie politischer Antifeminismus (Salice 2019; Meiering, Dziri und Foroutan 2020) stark zugenommen und prägen rund um den Globus sowohl Politik als auch Rhetorik. Rechtsextreme Gruppierungen und autoritäre Regierungen fühlten sich ermutigt, ihr Moralverständnis von Gesellschaft durchzusetzen, indem Urteile gesprochen und Aktionen unterstützt wurden, die von cis- und heterosexistischen, frauenfeindlichen sowie patriarchalischen Werten geprägt sind. Auf gesellschaftlicher Ebene schürten diese anti-LSBTQ und antifeministischen Mobilisierungen Vorurteile, Gewalt und Ungerechtigkeiten gegen die „Feinde“ der rechtsextremen Rhetorik. Gleichzeitig kam es zu heftigen nationalen und internationalen Reaktionen, die von Basisbewegungen, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Aktivist*innen, Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen und Wissenschaftler*innen – um nur einige zu nennen – initiiert wurden. Diese Bewegungen gehen auf lokaler und transnationaler Ebene mit politischen Interventionen, Demonstrationen und digitalem Aktivismus entschieden gegen politische Homofeindlichkeit und politischen Antifeminismus vor. Es war dieser Zeitgeist, der uns als Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen zusammenbrachte, um über die entscheidenden Punkte der politischen Homofeindlichkeit und des politischen Antifeminismus zu diskutieren.

Am 24. und 25. September veranstalteten wir eine digitale Konferenz mit dem Titel Queerfeministische Perspektiven auf politische Homofeindlichkeit und politischen Antifeminismus im Nahen Osten und in Europa. Die zweitägige Tagung bot Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen, Journalist*innen und Künstler*innen eine Plattform, auf der sie über das größer werdende Schreckgespenst der anti-LSBTIQ und antifeministischen Mobilisierung im Nahen Osten und in Europa diskutieren konnten. Als in Basisbewegungen engagierte Wissenschaftler*innen wurden wir (Tunay, Nadje, Katy und Gökçe) vom Queerfeminismus angeregt, nach Ausdrucksformen und politischen Aktionen zu suchen, mit denen Strukturen von Cis- und Heterosexismus, Patriarchat und Frauenfeindlichkeit kritisiert werden können. Ausschlaggebend für unseren Wunsch, eine Gelegenheit für einen regionsübergreifenden Dialog zu bieten, waren unsere unterschiedlichen Lebenserfahrungen aus dem Nahen Osten und Europa und unsere sich über diese Regionen erstreckenden Forschungsinitiativen. Wir wollten einen Austausch von Sichtweisen fördern, da wir aus persönlicher Erfahrung wissen, dass ein solcher Austausch sehr produktiv sein kann, wenn die politischen Probleme beider Regionen kritisch analysiert werden. Unser Beitrag besteht dann darin, den derzeitigen Stand der politischen Homofeindlichkeit und des politischen Antifeminismus sorgfältig zu beleuchten und gleichzeitig Erkenntnisse aus der vorhergehenden Forschung und politischen Analyse zu gewinnen (bei der Analyse von Feminismus beziehen wir uns auf das 1991 von Kandiyoti herausgegebene Grundlagenbuch; für die frühe Forschung zu politischer Homofeindlichkeit verweisen wir beispielsweise auf Graff 2010).

Vor diesem Hintergrund wurden wir bei der Organisation der Konferenz und der Auswahl der zu präsentierenden Papiere von drei Zielen geleitet: Erstens wollten wir rechtsextreme und autoritäre Akteur*innen in ihre jeweiligen sozio-historischen Kontexte stellen; zweitens wollten wir diskutieren, wie sich politische Homofeindlichkeit und politischer Antifeminismus in einem lokalen und transregionalen Rahmen als zentrale ideologische Elemente herausbildeten, und drittens fragten wir uns, wie wir Einblicke in die lokalen, transregionalen und globalen Reaktionen auf Homofeindlichkeit und Antifeminismus in den jeweiligen Regionen geben können. Bei der Verfolgung dieser Ziele trugen queerfeministische Paradigmen erheblich zu unserem Meinungsaustausch über das rechtsextreme Spektrum bei und lenkten unsere Analyse verschiedener Konzepte und Praktiken in beiden Regionen.

Warum Queerfeminismus?

Die queerfeministische Perspektive beruht auf der Erkenntnis, dass Geschlecht und Sexualität nicht nur für ein breiteres Verständnis von gesellschaftlichen und politischen Prozessen wesentlich sind, sondern auch immer in komplexen Intersektionen mit anderen sozialen Ungleichheiten und Gegebenheiten hervorgebracht werden. Unsere Lesart von Queerfeminismus ist sehr vom Schwarzen feministischen Denken geprägt, das Ethnie und Geschlecht als die Intersektion in den Vordergrund rückt, die sich am stärksten auf das Leben Schwarzer Frauen in den USA auswirkt (Hill-Collins, 1990, Crenshaw, 1989). Wir bauen diese Perspektive weiter aus, um Machtstrukturen in verschiedenen Gesellschaften im gegenwärtigen politischen Kontext durch die Linse sich überschneidender sozialer Spaltungen wie Ethnisierung, Gender und Sexualität zu analysieren.

Bei der Untersuchung von Geschlecht und Sexualität nahmen wir auf der Konferenz eine intersektionale Perspektive ein, denn die beiden Kategorien sind mit Rassismus und Rassisierungsprozessen, europäischen Grenzregimen, den Vermächtnissen des Kolonialismus sowie den politischen Projekten der Europäisierung und des Kulturimperialismus verwoben, was sowohl im Nahen Osten, als auch in Europa zu beobachten ist. Beim Austausch von Erkenntnissen aus diversen Kontexten, die sich mit nichtnormativen Ausdrucksformen, Praktiken, Identitäten und Bedürfnissen befassen, half uns unsere Beschäftigung mit dem Queerfeminismus dabei, uns transformative und gegenhegemoniale Methoden der Erkenntnisgewinnung und eine Politik der sozialen Gerechtigkeit auszumalen. Dieses beflügelnde Erlebnis gab uns den Impuls, die Konferenz auf die Sammlung von Essays in diesem Webdossier und auf ein gemeinsam zum Thema herausgegebenes Buch auszuweiten.

Durch eine transnationale Linse: der Nahe Osten und Europa

Rechtsextreme Politik in Europa und im Nahen Osten hat seine Wurzeln in sehr unterschiedlichen Historien. Die politischen Parteien und Gruppierungen am rechten Rand des ideologischen Spektrums im Nahen Osten propagieren häufig einen Konservatismus, Militarismus, Antiglobalismus, Nationalismus und politischen Islamismus (Heper und İnce 2006; Meiering, Dziri und Foroutan 2020; Hintz 2016; Al-Ali 2020). In diesem Sinne war im letzten Jahrzehnt in der Region eine allmähliche Hinwendung zu einem neoliberalen, im Islamismus wurzelnden Nationalismus zu beobachten, der im Kern ideologische Parallelen zum antiglobalistischen Diskurs radikaler Gruppen aufweist und gleichzeitig eine isolationistische Politik, eine Top-down-Herrschaft sowie die Einschränkung von Grund- und Freiheitsrechten vorantreibt. In Europa wurden in Reaktion auf die zunehmende Bedeutung einer Politik der weißen Vorherrschaft und separatistisch-nationalistischer Strömungen wieder erheblich mehr Studien zum Rechtsextremismus durchgeführt (Russell 2019; Fielitz und Thurston 2019). Die rechtsextremen Parteien in Europa fordern häufig die Schließung der Grenzen für alle Arten von Immigration, die Ausweisung von „illegalen Immigrant*innen“, eine kulturelle Assimilierung und eine auf dem jus sanguinis beruhende Staatsbürgerschaft – politische Forderungen, die zwar nicht vollständig umgesetzt wurden, aber dennoch den politischen und öffentlichen Diskurs prägten und zu mehr Diskriminierung und Gewalt gegen ethnische und religiöse Minderheiten in Europa führten (Salice 2019). Sowohl in Europa als auch im Nahen Osten ging die zunehmende Polarisierung zwischen Links und Rechts, zwischen Globalismus und Patriotismus mit einer Instrumentalisierung der Themen Geschlecht, Sexualität, Gender und Intimität als zentralen ideologischen Elementen von strittigen Diskursen einher.

Trotz der eklatanten Unterschiede, die ihre jeweiligen soziopolitischen Kontexte auszeichnen, sind die rechtsextremen Parteien und Bewegungen im Nahen Osten und in Europa von den gleichen Themen beeinflusst: von Immigration, Globalisierung, digitalen Medien und den Vermächtnissen des Kolonialismus. Bei den ersten ägyptischen Wahlen nach Mubarak im Jahr 2011 wurde deutlich, wie eine politische Homophobie von der Muslimbruderschaft instrumentalisiert wurde, um eine moralische Panik über die Aussicht auf ein säkularisiertes und somit „unmoralisches“ Ägypten zu entfachen und damit die Unterstützer*innen von antiautoritären und säkularen Parteien einzuschüchtern (Bosia 2014). Erst kürzlich verkündete die türkische Regierungspartei AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention – einem Menschenrechtsabkommen des Europarats zum Schutz der Rechte von Frauen und LSBTQ-Personen. Die türkische Ankündigung war mit einer Kampagne verbunden, in der die LSBTQ-Gemeinschaft als „teuflisch“ und als Teil einer Verschwörung des Westens gegen die moralischen Werte der Türkei bezeichnet wurde (Tar 2020). In Polen führte die konservative Regierung unlängst ein nahezu vollständiges Abtreibungsverbot ein und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban forderte Einschränkungen im Adoptionsrecht, mit denen es LSBTQ-Personen verwehrt wäre, Kinder zu adoptieren. Während Ungarn und Polen gewohnheitsmäßig und offen politische Homofeindlichkeit und politischen Antifeminismus unterstützen, hat sich die AFD in Deutschland die Sprache der Rechte von Frauen und sexuellen Minderheiten angeeignet, um muslimische Homofeindlichkeit zum nationalen Feind zu erklären (El-Tayeb 2011) und eine nationalistische und antimuslimische Agenda zu propagieren (siehe Wielowiejski 2020). Diese und viele andere Beispiele sind Beleg für ein Beziehungsgeflecht zwischen den ideologischen Elementen und soziohistorischen Faktoren, das den Nahen Osten und Europa verbindet und ihre Wechselbeziehung herausstellt – es gibt keine Einbahnstraßen.

Wie geht es weiter?

Unsere Konferenz war ein erfolgreiches Zusammentreffen von Wissenschaftler*innen, Forscher*innen und Aktivist*innen, die daran interessiert sind, ähnliche Fragen in unterschiedlichen regionalen Kontexten zu erkunden – von der Türkei über den Libanon bis hin zu Deutschland und der Ukraine. Die von den präsentierten kritischen Analysen entfachten Diskussionen während der Konferenz trugen zu einem vertieften Verständnis für die Probleme der politischen Homofeindlichkeit und des politischen Antifeminismus bei, da intellektuelle Aktivist*innen, darunter soziale Aktivist*innen, Gelehrte, Autor*innen und Künstler*innen, ihre Sichtweisen austauschten. Dieses Webdossier ist ein erster Versuch, auf den geknüpften Kontakten aufzubauen und den länder-, regions- und disziplinübergreifenden Austausch weiterzuführen. Neben dem Webdossier beabsichtigen wir, gemeinsam ein Buch herauszugeben – eine Sammlung ausgewählter, auf der Konferenz präsentierter Abhandlungen sowie zusätzliche Beiträge von richtungsweisenden Autor*innen, die an Analysen der gegenwärtigen Kontexte arbeiten. Durch diese Versuche, die politische Homofeindlichkeit und den politischen Antifeminismus aus verschiedenen Perspektiven kritisch zu diskutieren und sorgfältig zu analysieren, tragen wir dazu bei, die Werkzeuge dieser Bewegungen zu zerschlagen. Wir hoffen, unsere kritischen Diskussionen 2023 auf einer Präsenzkonferenz im Zentrum für Nahoststudien der Brown University fortsetzen zu können.

Danksagungen

Wir bedanken uns bei unserer studentischen Mitarbeiterin Frankie Elsey für ihren steten Einsatz und ihr großes Engagement für dieses Projekt. Unser Dank gilt auch der Heinrich-Böll-Stiftung, allen voran Jana Prosinger und Joanna Barelkowska, für ihre Unterstützung und die gute Zusammenarbeit. Und nicht zuletzt danken wir allen Redner*innen auf der Konferenz und dem Publikum für seine Beiträge.


Dieser Artikel wurde von den Co-Organisatorinnen der Konferenz "Queerfeministische Perspektiven auf politische Homofeindlichkeit und politischen Antifeminismus im Nahen Osten und in Europa" geschrieben. Die Konferenz war ein Gemeinschaftsprojekt der Humboldt-Universität zu Berlin, der Brown University (Providence, RI) und der Heinrich-Böll-Stiftung (Berlin).