Sie sind wütend

Reportage

In keinem EU-Land ist käuflicher Sex so verbreitet wie in Spanien. Doch erlaubt ist er nicht. In Barcelona wollen sich trans Sexarbeiter*innen nun Anerkennung erstreiten. 

Translocura
Teaser Bild Untertitel
Aktivistin Translocura

"Das Wichtigste ist, Kontrolle über den eigenen Körper zu haben", sagt Veronika Arauzo, während sie sich eine Zigarette dreht. Arauzo trägt rot gefärbte Haare, einen langen Pony, fein gezupfte Augenbrauen. Sie hat diese Kontrolle über ihren eigenen Körper, und manchmal auch über andere: Arauzo arbeitet als Sexarbeiterin und Domina. Im Internet präsentiert sie sich mit schwarzer Netzstrumpfhose und Lederharness, privat trägt sie Jogginghose und buntes Ringelshirt. 

Die wenigen Quadratmeter ihrer Erdgeschosswohnung am Nordrand von Barcelona liegen hinter milchigen Fenstern, eine gemütliche Couch steht neben einem chaotischen Schreibtisch. An den Wänden hängen Dildos, Fesseln und Peitschen zwischen politischen Plakaten für die Rechte von Indigenen oder von LGBTQI. Die Mietpreise in Barcelona sind hoch und das Einkommen in der Pandemie unstet. Und Arauzos Situation noch prekärer als sonst. 

In keinem EU-Land ist Sexarbeit so verbreitet wie in Spanien. Und doch wird oft so getan, als gebe es sie nicht. Sexarbeiter*innen arbeiten in einer gesetzlichen Grauzone, was sie tun, ist weder legal noch illegal. Die Konsequenzen: keine Sozialversicherung, keine Teilnahme an der staatlichen Gesundheitsversorgung. Außerdem zwingt die fehlende Regulierung viele Sexarbeiter*innen in die Abhängigkeit von Zuhältern, sogenannten patrones. Wenn eine Sexarbeiter*in für einen solchen patron arbeitet, muss sie in der Regel die Hälfte ihrer Einnahmen an ihn abtreten und so arbeiten, wie er es vorgibt. 

Veronika Arauzo will das ändern. Deshalb hat sie eine Gruppe für selbstständige Sexarbeiter*innen gegründet: La Colectiva DisPuta. Zu Deutsch heißt das frei übersetzt: das Kollektiv der kämpfenden Hure. 

Gewerkschaft. Eine Gewerkschaft war Arauzo und ihren Mitstreiter*innen jedoch zu hierarchisch. 

Es war 2006, als die Stadtverwaltung Sexarbeit von der Straße zu verdrängen versuchte. Überwachung durch die Polizei und Bußgelder für Klienten von bis zu 10.000 Euro erschwerten die Arbeit. Damals gründete die heute 62-jährige Janet Merida die Putas Indignadas, eine ebenfalls kollektiv organisierte Gruppe aus Sexarbeiter*innen, die politisch Druck gegen die Anordnung machte und im breiten Netz der sozialen Bewegungen Verbündete fand. Heute wird die Anordnung nicht mehr durchgesetzt. Und als mit Ada Colau 2015 erstmals eine ehemalige linke Aktivistin Bürgermeisterin Barcelonas wurde, wurden die Bußgelder abgeschafft. 

Heute ist Katalonien die einzige Region, die die Rechte der Sexarbeiter*innen zumindest symbolisch unterstützt und anerkannt hat. Dennoch bleiben die Bedingungen prekär. Für viele hat der rechtliche Schwebezustand existenzielle Folgen. Auswirkungen auf die ökonomische Situation und Gesundheit, viel Angst und fehlende Sicherheit. Besonders schwerwiegend ist die Situation für Frauen wie Arauzo. Sie wird nicht nur als Sexarbeiterin diskriminiert, sondern auch als trans Frau. 

Arauzo, heute 46 Jahre alt, mit kleinen Falten im Gesicht, spricht schnell und ausschweifend. Mit 15 sei sie von zu Hause weggelaufen, wegen Konflikten mit dem Vater. Arauzo begann, mit sexuellen Handlungen Geld zu verdienen, lebte auf der Straße. Andere Sexarbeiter*innen unterstützten sie, teilten Essen und Kleidung mit ihr, versuchten, sie dazu zu bewegen, wieder zur Schule zu gehen. 

Zur gleichen Zeit, im April 1989, lernte sie in Sevilla eine trans Frau kennen. Für Arauzo war das der Moment, in dem sie ihre Identität verstand. "Mein Kopf explodierte förmlich", sagt sie lachend. Sie begann Hormone zu nehmen und als Frau zu leben. 

Arauzos Probleme wurden damit nicht weniger. Zwar gilt Spanien in Fragen der Rechte von LGBTQI-Personen als eines der fortschrittlichsten Länder in Europa, seit 2005 ist es das dritte weltweit, das gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt. Doch trans Personen, insbesondere Frauen, werden noch immer vielfach diskriminiert, trans- und homophobe Gewalt ist im katholischen Spanien weitverbreitet. "Viele müssen sich verkleiden, um der Heteronormativität zu entsprechen und arbeiten gehen zu können", sagt Translocura, eine Aktivistin, die ebenfalls trans Frau ist, und als Drag-Künstlerin auftritt. Für diejenigen, die sich nicht verstecken, bliebe nicht mehr viel. Schönheitsbranche, Travestie, Nachtleben. Oder eben Sexarbeit. 

Nicht der Körper wird verkauft, sondern eine Dienstleistung 

Translocura steht im Altstadtviertel Raval vor der bei LGBTQI beliebten Bar Madame Jasmine. Sie ist 28, trägt einen langen, schwarz-roten Zopf, pinke Lippen und spitze Fingernägel mit rosa Flammen. Wer genau hinschaut, sieht an den alten Häusern in der Altstadt zwischen Souvenirshops und Hotels die Überbleibsel von Frauengesichtern, die im Mittelalter in den Stein gemeißelt wurden. Schon damals ein Zeichen: Hier kann man Sex kaufen. Auch Arauzo hat hier schon gearbeitet. 

"Ich bin privilegiert", sagt Translocura. Sie arbeitet als Krankenschwester in einer Einrichtung für Drogenkonsument*innen im Raval. Während sie das erzählt, kommt ein Mann mit Bierflasche in der Hand auf sie zu, er fragt nach Geld. Und dann sagt er, wie schön sie sei, diese Haare, die Nägel, eine tolle Frau. 

Immer wieder kämen auch Sexarbeiter*innen in die Praxis, die auf der Straße lebten, sagt Translocura. Menschen, die von der Gesellschaft ausgestoßen und diskriminiert werden. Viele von ihnen seien trans Frauen. Tatsächlich sind laut dem Trans Murder Monitoring Report von 2019 61 Prozent der trans Personen, die weltweit Opfer von Gewaltverbrechen werden, Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter. Selbst in Barcelona hätten die wenigsten die Möglichkeit, wie sie in einem legalen Beruf zu arbeiten, sagt Translocura. "Trans Personen werden noch immer stigmatisiert." Dagegen wehrt auch sie sich: Translocura macht nicht nur Drag-Performances, sie rappt auch, unter anderem über Abolitionistinnen. 

Es ist der derzeit zentrale Konflikt der feministischen Bewegung in Spanien. Am 8. März, dem internationalen Frauentag steht eine kleine Gruppe von Frauen mit lila Halstüchern vor dem Rathaus und verteilt Flyer, auf denen steht: "Die Prostitution ist Ausbeutung." Es sind Abolitionist*innen, die in Anlehnung an die radikalfeministische Zweite-Welle-Bewegung die Abschaffung der Prostitution fordern. Auch die aktuelle Regierung folgt der abolitionistischen Logik. Gleichstellungsministerin Carmen Calvo sagte bereits in einer ihrer ersten Reden, dass die Abschaffung eines der ersten Ziele der neuen Regierung sei. 

Auf der anderen Seite dieses Konflikts stehen die sogenannten Transfeminist*innen. Ihr Fokus liegt auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper und Solidarität mit marginalisierten Gruppen, beeinflusst vor allem durch queerfeministische und antirassistische Ideen. Sexarbeit, so die Annahme, ist ebenso eine Form der Lohnarbeit, wie andere auch. Nicht der Körper wird verkauft, sondern eine Dienstleistung, die auf Selbstbestimmung, Volljährigkeit, Konsens und Bewegungsfreiheit beruht. Arauzo und ihre Gruppe Colectiva DisPutas sind Vertreter*innen dieser Strömung. 

Laut einer Umfrage von Transgender Europe liegen die größten Probleme für trans Sexarbeiter*innen neben Transfeindlichkeit und Gesundheitsfragen insbesondere auch in der Kriminalisierung von Sexarbeit. Die Folgen sind ökonomische Abhängigkeit, Stigmata und gesundheitliche Folgen. Das will die spanische Regierung nun ändern, eine Koalition aus der sozialistischen PSOE und dem Linksbündnis Unidas Podemos. Doch das geplante "Gesetz zur integralen Garantie der sexuellen Freiheit" ist nur vermeintlich ein Fortschritt. In einer Vorlage heißt es: "Jede sexuelle Gewalttat ist auch eine geschlechtsspezifische Gewalttat." In der Konsequenz bedeutet das, dass Sexarbeit per se als sexuelle Ausbeutung und damit Gewalt gegen Frauen definiert wird. Arauzo hingegen sagt: "Sexarbeit ist nur dann Gewalt, wenn ich nicht selbst entscheiden kann, wie ich arbeite." 

Auch in Sachen Trans-Rechte hinkt Spanien hinterher: Aktuell wird im spanischen Parlament ein Gesetz diskutiert, das nach deutschem Vorbild geschrieben wurde. Das Ley Trans soll trans Personen die Geschlechtsangleichung erleichtern, beispielsweise indem sie weniger Gutachten brauchen, um den Prozess durchzuführen. Doch die Abstimmung wird blockiert – unter anderem von der sozialistischen Partei. 

"In den Ländern, in denen Sexarbeit legal ist, gibt es einen fundamentalen Unterschied", sagt Arauzo. "Dort wird sie nicht als Gewalt gesehen, sondern als Arbeit, die ihre Regeln hat." Eines ihrer drei Telefone klingelt, es ist ein Arbeitsanruf, sie drückt ihn weg. Ein Telefon ist privat, eines für ihre Arbeit als Domina, eines für andere Dienstleistungen. Sie sagt, als Selbstständige müsse sie klare Grenzen ziehen. Seit der Gründung der Gruppe hat sie nur selten frei. 
Mitte Mai waren mehrere Sexarbeiter*innen zum Gespräch mit Bürgermeisterin Colau in das Rathaus eingeladen, um ihr Manifest vorzustellen. Es heißt: "Zuhören, um zu regieren. Für ein Gesetz der sexuellen Freiheit, das Frauen nicht kriminalisiert". 200 Gruppen und etwa 3.000 Einzelpersonen haben es unterzeichnet. Colau versprach, ihre Interessen ins Gleichstellungsministerium zu tragen. Mittendrin war auch Veronika Arauzo. Im schicken, schwarzen, langen Kleid, mit blau gestreifter Bluse darüber und einem breiten Grinsen auf dem Gesicht. 

 

Transparenzhinweis: Diese Recherche erfolgte im Rahmen eines Fellowships der Heinrich-Böll-Stiftung e.V. 

 


Zuerst erschienen bei ZEIT ONLINE.