Frauen sind die stärkste Opposition in der Türkei

Rede

Rede von Cânân Arın, Anne-Klein-Frauenpreisträgerin 2021.

Cânân Arın

Guten Abend,

herzlich willkommen zu meiner Preisverleihung anlässlich des Anne-Klein-Frauenpreises. Ich wünschte es mir sehr, dass diese Preisverleihung so hätte stattfinden können, wie sie traditionell bei meinen Vorgängerinnen  ausgerichtet wurde. Aber Covid-19 ließ das nicht zu.

Ich glaube, es war an einem der langweiligen Abende im November 2020, als ich mich, anstatt im Theater, Kino oder bei einem Konzert oder mit Freunden im Restaurant beim Essen zu sein, wegen Covid-19 - wie alle anderen auch - zu Hause befand. Mein Handy klingelte. Eine mir unbekannte Nummer aus Deutschland. Eine Frauenstimme sagte mir auf Englisch, sie riefe aus Deutschland an, sie hieße Barbara und ich wäre mit dem Anne-Klein-Frauenpreis der Heinrich-Böll-Stiftung ausgezeichnet worden.

Eine Stille von einigen Sekunden auf meiner Seite! Danach begriff ich das, was mir gesagt worden war. Eine unglaubliche Freude! Denn ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet. Vor mir war der Preis Nebahat Akkoç aus der Türkei verliehen worden und Barbara sagte, der Preis gehe zum ersten Mal an eine weitere Preisträgerin aus dem selben Land. Die Preisträgerin werde offiziell am Tag der Menschenrechte, den 10. Dezember 2020 verkündet- aber meiner Familie und meinen Freunden könnte ich jetzt schon von diesem freudigen Ereignis erzählen.

Seelenverwandt mit Anne Klein

Sofort machte ich mich daran, Anne Klein im Internet zu recherchieren. Wir hatten Gemeinsamkeiten, aber sie war viel jünger als ich und war in einem so jungen Alter von uns gegangen. Wir waren beide Juristinnen. Beide hatten wir gegen Gewalt an Frauen gekämpft und da ich noch lebe, tue ich es immer noch. Beide hatten wir uns dem Familienrecht verschrieben als den Bereich, in dem Gewalt an Frauen am meisten erfahren wird. Und beide vom Typ her so, dass wir bis zum Schluss um das kämpfen, woran wir glauben.

Ich danke noch einmal der Heinrich-Böll-Stiftung und den zuständigen Gremien sowie Anne Klein für diesen Preis.  

Diese Preise haben meines Erachtens die Aufgabe, Frauen in dem Land, in das der Preis geht, die Botschaft zu senden: Kämpft weiter für die Rechte der Frauen. Leistet Widerstand. Wir, die Frauen des anderen Landes unterstützen euch. Wir solidarisieren uns mit euch.”

Wenn wir die Geschichte aus Sicht der Frauen definieren wollten wäre meine Definition, dass es sich um die Geschichte des Kampfes der Frauen um die Anerkennung als Mensch und Individiuum handelt.

Wieviele Frauen mussten doch ihr Leben opfern, um unsere Stellung heute zu erreichen. Angefangen von Frauen im Mittelalter, die nur, weil sie weise Frauen waren, auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, von Olympe de Gouges, die, weil sie die Erklärung der Menschenrechte der Frau verfasste, zum Tod durch die Guillotine verurteilt wurde, und den Frauen, die um das Wahlrecht kämpften, bis hin zu den 120 Arbeiterinnen, die in New York verbrannt wurden, nur weil sie sich für bessere Arbeitsbedingungen einsetzten, und denen wir den Weltfrauentag am 8. März verdanken. Dank des Einsatzes von unzählig vielen Frauen - zu vielen, um sie einzeln zu nennen – gelangten wir an den Punkt, an dem wir heute sind.

Gesetze zum Schutz von Frauen werden nicht umgesetzt

Ging es den Frauen in der Türkei vor der Machtübernahme durch die Regierungspartei noch um den Kampf um weitreichendere Rechte, sind sie nun Dank der Regierungspartei nur noch bemüht um die Bewahrung des bisher Erlangten. Denn so wie in vielen anderen Regionen der Welt wächst auch in der Türkei der Fundamentalismus mit der Folge, dass die Rechte der Frauen umso mehr beschnitten werden.

Frauen machen die stärkste Opposition in der Türkei aus. Wie alle Oppositionellen sind folglich wir der größten Unterdrückung ausgesetzt, die in vielfältiger Weise ausgeübt wird:

1) Die Gesetze gelten zwar unverändert fort, werden aber nicht umgesetzt.  

Beispielsweise ist die Abtreibung in der Türkei nach § 5 des Gesetzes Nr. 1827 zur Familienplanung aus dem Jahr 1983 bis zur 10. Schwangerschaftswoche rechtmäßig und frei. Nach der 10. Schwangerschaftswoche bleibt es möglich, wenn die Gesundheit der Mutter gefährdet wäre. Ist die Frau verheiratet, wird das Einverständnis des Ehemannes erfragt. Sollte sie jünger als 18 Jahre alt sein, ist das Einverständnis der Eltern erforderlich. Da jedoch der Vorsitzende der Regierungspartei AKP gegen Abtreibung ist, möchte so gut wie kein staatliches Krankenhaus eine Abtreibung vornehmen.

Laut einer Studie der Stiftung Frauenhaus Mor Çatı, zu deren Gründerinnen ich gehöre, konnte 2014 in nur 3 der  37 staatlichen Krankenhäuser in Istanbul eine Abtreibung vorgenommen werden. Diese Zahl war auf zwei zurückgegangen, als die Studie 2015 noch einmal durchgeführt wurde. 

Da Frauen auch keine Verhütungsmethoden erklärt werden und die Abtreibung de facto verboten wird, werden Frauen dem Tode überlassen.

Kinderehen sind ein klarer Fall von Kindesmissbrauch

2) Kindesmissbrauch:

Vielleicht mag meine Aufzählung nicht ganz der chronologischen Reihenfolge entsprechen, aber die Entwicklungen waren dahingehend, dass die  AKP-Regierung zuerst die Zusammensetzung des Verfassungsgerichts änderte, um Richter zu ernennen, deren Rechtsprechung in ihrem Sinne ausfallen würde.  

Dann wurde in beiden Fassungen des türkischen Straftrechts vor und nach 2005 der Straftatbestand der religiösen Eheschließung ohne amtliche Eheschließung sowohl für diejenigen, die diese Eheschließung vornehmen, als auch für diejenigen, die sie eingehen” abgeschafft, sodass sogenannten Kinderehen Tür und Tor geöffnet wurde.

Es folgte die Dreiteilung der Schulpflicht von 12 Jahren in 4+4+4, wodurch die Schulpflicht für Schülerinnen nach den ersten vier Jahren des Schulbesuchs de facto aufgehoben wurde. Das sind die Einschränkungen der Rechte von Frauen durch gesetzliche Änderungen.

Nach türkischem Recht liegt die Schutzaltersgrenze für den Geschlechtsverkehr bei 14 Jahren. Als immer mehr  Mädchen im Alter von 13 Jahren Kinder gebaren, haben Krankenhäuser folglich angefangen, die zuständigen Behörden darüber zu informieren.

Die Fundamentalisten jedoch, die Eheschließungen im Kindesalter gut hießen, wollten nicht zusehen, wie Männer, die mit 12-jährigen Mädchen Geschlechtsverkehr hatten, verhaftet wurden. Sie protestierten mit Argumenten wie: Ihr zerstört die heilige Familie; die Männer dieser Kindfrauen werden inhaftiert, die Kinder bleiben ohne Väter, die Frauen ohne Männer” und forderten eine einmalige Amnestie für alle Betroffenen.

Dabei ist das heiratsfähige Alter für Frauen und Männer nach türkischem Zivilrecht erst mit dem vollendeten 17. Lebensjahr erreicht. Wenn also ein 13-jähriges Mädchen ein Kind geboren hat, ist das keine rechtmäßige Ehe gewesen. Kann es auch nicht sein. Das ist ein klarer Fall von Kindesmissbrauch. Hierbei handelt es sich nicht nur um sexuellen Missbrauch des Kindes, sondern Missbrauch in jedweder Weise. Es ist der Entzug des Rechts auf Bildung und der persönlichen Entwicklung. Es ist der Entzug der Kindheit. Die Geburt in frühem Alter führt zu gesundheitlichen Schäden. Kurzum, das Gesetz wird de facto außer Kraft gesetzt. Es ist ein weiterer Schritt in Richtung der Scharia.  

Die Istanbul Konvention muss weiter in Kraft bleiben

3) Frauenmorde und die Istanbuler Konvention: 

Frauenmorde in der Türkei sind systematisch, politisch und haben die Zielsetzung, Frauen zu Hause einzusperren, aus dem öffentlichen Leben zu verbannen, möglichst viele Kinder gebären zu lassen und für einen Hungerlohn zu versklaven. Daher sind die Unterstützer der Regierungspartei gegen die Istanbuler Konvention und das entsprechend in Kraft getretene Gesetz Nummer 6284 mit den Maßnahmen Sofortschutz” oder Näherungsverbot”.

Wie Sie wissen, verpflichtet die Istanbul Konvention die Vertragsparteien zu Maßnahmen zur Prävention und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, zur Entwicklung von entsprechenden politischen Instrumenten und zur Ermittlung derjenigen, die gewalttätig werden. Nunmehr fordert das Patriarchat, das auf Grund der starken Opposition der Frauen nun um seine Vormachtstellung fürchtet, dass alle Vereinbarungen und Gesetze, die Frauen schützen, ausgesetzt werden.

Sie verwandeln die Schulen fernab des Laizismus zu religiösen Bildungsstätten, in denen die Lehre vorherrscht, dass Männer durch ihre Geburt als Mann der Frau überlegen sind und die Frau dem Mann absolut zu gehorchen hat. So wird versucht, das unabhängige Denken von Frauen und ihre Entwicklung als Individuum zu verindern.

Die Gerichte legen sogar in Fällen von Frauenmorden eine Haltung an den Tag, die sagen soll, dass die Frau, die Ermordete, daran Schuld wäre, weil sie versucht habe, sich zu schützen und den Mann nicht habe machen lassen. Als träfe die Schuld die Frau. So werden dann auch die Gesetze ausgelegt.

Das Strafmaß der Täter wird aus nichtigen Gründen herabgesetzt und somit grünes Licht gegeben für weitere Frauenmorde.

Den Preis allen Frauen, die das Patriarchat überwinden wollen

Da meine Zeit sehr knapp bemessen ist, wollte ich nur beispielhaft skizzieren, in welchen Bereichen der Anne-Klein-Preis Frauen in der Türkei unterstützt.

Diesen Preis möchte ich – in Erinnerung daran wie sie ihre vier Kinder alleine aufgezogen hat und mir beigebracht hat, für das, woran wir glauben, bis zum Schluss einzustehen – meiner geliebten Mutter und dann allen Frauen widmen, die sich in der Türkei und auf der ganzen Welt gegen das Patriarchat auflehnen.

Ich möchte mich zudem in tiefem Respekt verneigen zu Ehren und in Erinnerung an die Frauen, die einen großen Anteil an der Gründung von Mor Çatı hatten, die aber nicht mehr unter uns weilen: Nurser Öztunalı, Birsen Kaşker, Nural Yasin, sowie zu Ehren und in Erinnerung an die großen Verfechterinnen der feministischen Bewegung in der Türkei: Şirin Tekeli und Feride Yıldırım Güneri.

Aus diesem Anlass gratuliere ich auch herzlich zu unserem Weltfrauentag am 8. März.