Es ist Zeit für eine transatlantische digitale Agenda

Eines ist in der Coronakrise klargeworden: Der Zugang zum Internet ist längst eine Frage der öffentlichen Daseinsvorsorge und der sozialen Gerechtigkeit geworden.

Mehrere Laptops und Smartphones auf einem Tisch

Die Coronakrise hat unseren Blick auf die Digitalisierung verändert. Defizite bei der digitalen Verwaltung und beim Breitbandausbau sind schlagartig in den Fokus gerückt und stellen Gesellschaften auf beiden Seiten des Atlantiks vor enorme Herausforderungen. Stärker als je zuvor laufen unsere alltäglichen Interaktionen im Bildungssystem, am Arbeitsplatz und auch mit der öffentlichen Verwaltung über kommerzielle Onlinedienste – von der Videokonferenz via Zoom über die WhatsApp-Gruppe mit den Kolleg/innen bis hin zum Cloudserver von Amazon.

Dieser notgedrungene digitale Entwicklungsschub birgt durchaus Chancen, aber er muss politisch gestaltet werden. Mehr denn je ist eine koordinierte transatlantische Digitalpolitik notwendig, da die Macht und das Potential zum Missbrauch, das sich in den Händen einiger weniger Technologiekonzerne sammelt, auch in Krisenzeiten stetig weiter anwächst. Die Regulierung eines globalen Mediums kann nur funktionieren, wenn sie im internationalen Austausch geschieht. Es braucht eine transatlantische digitale Agenda, die unsere Grundrechte in der Kommunikation in den Mittelpunkt stellt.

Plattformen übernehmen vermehrt quasi-hoheitliche Aufgaben – sei es die Entscheidung darüber, welche Inhalte als legal oder illegal gelten, die Moderation politischer Debatten in Wahlkampfzeiten oder gar die Implementierung von Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. Der Cambridge-Analytica-Skandal hat ein Schlaglicht auf drohende Manipulation von Wahlen durch personalisierte Werbung in den USA und Europa geworfen. Bei den US-Wahlen 2020 besteht erneut die Gefahr asymmetrischer Demobilisierung durch gezielte Online-Desinformation, die insbesondere afroamerikanische Wähler/innen von der Urne fernhalten soll. Was fehlt, ist eine transatlantische Debatte über das Geschäftsmodell der
personalisierten Werbung, das vermehrt unseren öffentlichen Diskurs formt – nicht nach den Vorlieben der Nutzer/innen, sondern nach den Wünschen der Werbetreibenden.

Die Europäische Union hat mit der Datenschutzgrundverordnung einen Anfang gemacht. Diese weist das Geschäftsmodell der personalisierten Werbung mittels genauem Tracking von Nutzungsverhalten in grundrechtliche Schranken. Vergleichbare Regeln fehlen den USA weitestgehend. An anderer Stelle kann Europa von amerikanischen Ansätzen lernen – wenn nicht auf der föderalen, dann doch auf der lokalen Ebene. In mehreren Kommunen in den USA ist die Gesichtserkennung im öffentlichen Raum verboten, um die Bevölkerung vor weitreichender Überwachung und drohender Diskriminierung durch Anwendungen maschinellen Lernens zu schützen.

Die Regulierung des Internets bedeutet auch, seine Potentiale zu realisieren

Die Debatte darüber, wie die sogenannte Künstliche Intelligenz gesellschaftliche Diskriminierungsmuster reproduzieren und verstärken kann, ist in Europa im Vergleich zu den USA noch in den Kinderschuhen. Von einem allgemeinen Moratorium für Gesichtserkennung im öffentlichen Raum, bis die Gefahren für die Grundrechte besser erforscht sind, hat die EU-Kommission in ihren Plänen zur KI-Regulierung leider abgesehen. Kurz vor Verabschiedung der KI-Strategie in Brüssel hatten sich IT-Konzernchefs wie Mark Zuckerberg die Klinke in die Hand gegeben.

Die Regulierung des Internet darf sich jedoch nicht darauf beschränken, Gefahren einzudämmen, Gefahren zu beschränken, sondern muss auch Potentiale realisieren. Die Basis einer transatlantischen digitalen Agenda muss ein Grundrecht auf Breitband-Internet sein. Um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, mussten im Frühjahr schlagartig weite Teile unserer Bildungs- und Arbeitswelt ins Internet verlegt werden. Weder die USA noch Europa waren ausreichend auf diese riesige Herausforderung vorbereitet, doch eins ist in der Krise klargeworden: Zugang zum Internet ist längst eine Frage der öffentlichen Daseinsvorsorge geworden. Wer in Zeiten eines Lockdowns nicht über einen Breitbandanschluss verfügt, ist von weiten Teilen des öffentlichen Lebens abgeschnitten.

In der EU wird zum Ende des Jahres 2020 eine Grundversorgung mit Breitband-Internet – mindestens in einer ausreichenden Qualität für Videotelefonie – verpflichtend. Ob dieses Ziel in der Praxis in allen Mitgliedstaaten erreicht wird, ist aber noch mehr als fraglich. Um die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise abzufedern, bedarf es in Europa und besonders in den USA, wo die Arbeitslosenzahlen rasant angestiegen sind, umfangreicher staatlicher Investitionsprogramme. Ein wesentlicher Teil davon sollte in den Aufbau digitaler Infrastruktur fließen, um auf die nächste Krise besser vorbereitet zu sein. Den Digital Divide zu schließen, also die Unterschiede im Internetzugang zwischen Stadt und Land, Armen und Reichen, strukturstarken und -schwachen Regionen, ist mehr denn je eine Frage der sozialen Gerechtigkeit.


Julia Reda war von 2014 bis 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments innerhalb der Fraktion Die Grünen/EFA und von 2013 bis 2015 die Vorsitzende der Young Pirates of Europe. Seit 2019 forscht Reda im Rahmen eines Fellowships am Berkman Klein Center for Internet & Society der Harvard University.

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