Vom Massenprotest in die SARS-CoV2-Krise: Die sanitäre Krise verschärft die soziale Krise in Chile

Hintergrund

Chile stand kurz vor der Abstimmung über neue Strukturen im Verfassungssystem, um die lange gekämpft wurde. Das Virus nimmt den Massenprotest der chilenischen Bürgerinnen und Bürger in Quarantäne und verzögert die Prozesse. Wie geht es weiter?

Bild von den Protesten in Chile

Eigentlich hätten die ca. 15 Millionen Wahlberechtigten in Chile am 26. April 2020 in einem Plebiszit darüber abstimmen sollen, ob sie eine neue Verfassung wollen und wie eine zukünftige Verfassungsgebende Versammlung zusammengesetzt sein sollte. Die Wucht der sozialen Mobilisierung vom 18. Oktober letzten Jahres hatte den Weg für einen strukturellen Wandel freigekämpft, der jahrzehntelang vom Establishment blockiert worden war. In der zweiten Märzhälfte kam dieser Prozess jedoch zu einem jähen Stillstand. Die SARS-CoV-2-Krise war nun auch in Chile angekommen.

Der erste Fall wurde am 3. März gemeldet, acht Wochen später gibt es bereits über 13.000 Infizierte (bei einer Bevölkerung von ca. 19 Millionen Einwohner/innen) und mehr als 190 Todesfälle. Die anfangs vergleichsweise niedrige Todesrate erklärt sich im Wesentlichen daraus, dass das Virus zunächst von Mitgliedern der Oberschicht mit privilegiertem Zugang zum privaten Gesundheitssystem eingeschleppt worden war, die sich während Auslandsreisen im Ferienmonat Februar infiziert hatten. Am 24. März entschied der chilenische Kongress, das Verfassungsplebiszit auf den 25. Oktober zu vertagen. Zivilgesellschaftliche Organisationen, einschließlich der legendären „Primera Línea“, die sich auf den Straßen monatelang mit den bis an die Zähne bewaffneten Polizeikräften auseinandergesetzt hatten, beschlossen den geordneten Rückzug und gingen, lange bevor die Regierung entsprechende Maßnahmen anordnete, freiwillig in Quarantäne. Die legendäre Plaza de la Dignidad, der ground zero des Aufstands in Santiago, verwaiste.

Groteske Grenzziehungen: Die Quarantänepolitik der Regierung Piñera

Die Regierung Piñera unter Leitung des Gesundheitsministers Jaime Mañalich reagierte spät und mit eklektischen Maßnahmen auf die Pandemie: Partielle Ausgangssperren in der Hauptstadt, ohne transparente Darlegung der Auswahlkriterien, Immunitätspässe für entlassende Patient/innen entgegen der Warnungen der Weltgesundheitsorganisation, ein Plan für eine sichere Rückkehr an Schulen und Arbeitsplätze, der mit der Expert/innenkommission nicht abgestimmt war, Falschinformationen zu angeblichen Schenkungen von Beatmungsmaschinen seitens China und unzuverlässige Angaben zu Anzahl und Qualität der Tests waren die Hauptkritikpunkte. Während Vertreter/innen der Ärzteschaft, Wissenschaftler/innen und besorgte Bürger/innen striktere Quarantänemaßnahmen und soziale Distanzregeln einforderten, verfolgte die Regierung lange Zeit eine Business-as-Usual-Politik.

Noch am 20. März äußerte der Gesundheitsminister in einem Interview die Hoffnung, der Virus könnte mutieren und sich zu einer „guten Person“ (sic!) entwickeln. Die sozialen Netzwerke füllten sich rasch mit Karikaturen und der bekannte Humorist Stefan Kramer widmete den widersprüchlichen und absurden Ansagen des Gesundheitsministers eine Parodie unter dem Titel „Die beste aller Quarantänen“, die tausendfach reproduziert wurde. Der Titel war eine Anspielung auf die Aussage des Gesundheitsministers, dass Chile über eines der „weltweit besten Gesundheitssysteme“ verfüge. Nachdem die Notwendigkeit einer Aussetzung des Schulunterrichts zunächst vehement in Frage gestellt wurde, schlossen die Schulen schließlich für den Monat April. Erst am 25. März, drei Wochen nach dem Ausbruch der Pandemie, wurde in der Hauptstadt Santiago Quarantäne angeordnet.

Partielle Ausgangssperren statt Lock-down

Entgegen des Vorschlags der Expert/innenkommission, die zu einem kompletten Lock-down geraten hatten, jedoch lediglich für sieben Stadtteile, in denen sich die Ober- und Mittelschichten konzentrieren. Gleichzeitig rief der Präsident für 90 Tage den Katastrophenzustand aus und ordnete eine nächtliche Ausgangssperre an. Die aufgrund zahlreicher Menschenrechtsverletzungen während des Oktoberaufstands diskreditierten Militärs patrouillierten wieder nachts auf den Straßen Santiagos, um die Einhaltung der Ausgangssperre zu kontrollieren. Beide Kammern des Parlaments funktionieren jedoch nach wie vor, wenn auch zumeist über Telearbeit. Die überraschend und kurzfristig angekündigten Quarantänemaßnahmen verursachten Massenaufläufe vor Supermärkten und Meldeämtern, da die Menschen Panikkäufe tätigten und sich das Internetpasswort besorgen wollten, das von nun an notwendig war, um in einem Online-Verfahren die notwendige polizeiliche Erlaubnis für dringende Besorgnisse einzuholen.

Die Regierung hatte nicht bedacht, dass ein Teil der Bürger/innen gar nicht für das Online-Verfahren registriert waren oder sich – aus technischen Gründen - nicht registrieren konnten. Bereits in der Woche vor der Quarantäne hatten verkürzte Öffnungszeiten der U-Bahn und Busse in der Hauptstadt zu Menschenansammlungen von Pendler/innen geführt und eine Impfaktion gegen die Grippe zu Warteschlangen in den Gesundheitszentren. Ähnlich chaotisch verlief auch die Entwicklung der Quarantänebestimmungen in anderen Landesteilen. Ab dem 9. April wurde dann die Quarantäne in einigen Stadtteilen Santiagos wieder aufgehoben, neue Stadtviertel unter Quarantäne genommen und einige Stadtviertel in zwei Zonen geteilt. Es kam sogar zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen den Straßenhändlern, die im sanitären „Grenzbereich“ nun um Platz für ihre mobilen Stände konkurrierten. Welche Daten oder Überlegungen der bizarren Grenzziehung zugrunde lagen ist bis heute unbekannt, da die Regierung die Auswahlkriterien nicht transparent machte.

Mangelnde Transparenz, Fehlinformation und Fake News: die fatale Bilanz der Kommunikationspolitik der chilenischen Regierung

Internationale Expert/innen sind sich einig, dass Transparenz in der Übermittlung der Daten und der Kommunikationspolitik zentral für eine erfolgreiche Bekämpfung der Pandemie ist. Chile zeichnet sich, auch im Gegensatz zu anderen Ländern im regionalen Umfeld, durch das Gegenteil aus. Das Wissenschaftsministerium und zahlreiche Forschungsinstitute beklagen, dass ihnen der Zugang zu den notwendigen Daten fehlt, um die Entwicklung von SARS-CoV-2 in Chile wissenschaftlich begleiten zu können. Expert/innen zweifeln die Verlässlichkeit der täglich veröffentlichten Daten an, da dem Gesundheitsministerium mehrfach peinliche Fehler unterlaufen sind. Umstritten ist auch, ob sich die vergleichsweise hohen Infektionszahlen in Chile durch die angeblich größere Anzahl von Tests erklären lassen. Die chilenische Regierung hat zwar erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Diagnosefähigkeit zu stärken. Die Anzahl der Labors, die Tests durchführen können, erhöhte sich von zwei auf 50, auch wurde eine Million Tests eingekauft.

Fehlerhafte Tests, segregiertes Gesundheitssystem und Fake News um China

Deren Qualität wurde jedoch gerade von der chilenischen Gesellschaft für Infektiologie in Frage gestellt, da sie zu falschen Negativergebnissen führen könnten. Kritisiert wurde auch die positive Einschätzung der Leistungsfähigkeit des stark fragmentierten Gesundheitssystems, das in einen gut ausgestatten privaten und einen chronisch unterfinanzierten öffentlichen Sektor zerfällt. Gerade einmal 2,2 Klinikbetten stehen für 1000 Einwohner/innen zur Verfügung.

Besorgniserregend ist insbesondere der Engpass bei Beatmungsmaschinen. Am 19. April  kam es dann zu einem Eklat. Der chilenische Gesundheitsminister hatte zunächst erklärt, dass China dringend notwendige 1000 Beatmungsmaschinen gespendet habe. Nachdem der chinesische Botschafter in einem Zeitungsinterview erklärte, dass ihm keinerlei Informationen über eine derartige Schenkung vorlägen, musste Mañalich schließlich zugeben, dass nicht China, sondern die chilenische Industrie- und Handelskammer die Schenkung versprochen hätte. Ob die Beatmungsmaschinen rechtzeitig und in ausreichender Anzahl eintreffen, steht derzeit in den Sternen. Gleichzeitig warnen Mathematiker der Katholischen Universität Chiles, dass das Gesundheitssystem Anfang Juni kollabieren könnte, wenn sich die derzeitigen Trends bei den Infektionszahlen fortschreiben.

Die sanitäre Krise verschärft die politische Krise: eine gefährliche Mischung

Chiles Präsident Piñera, dessen Popularitätswerte nach dem Oktoberaufstand auf ein historisches Tief von sechs Prozent gefallen waren, sieht in der Pandemie eine Chance, Legitimität zurückzugewinnen und den dringend notwendigen politischen und gesellschaftlichen Strukturwandel aufzuhalten. Derzeit steigen die Umfragewerte der Regierung moderat. Piñera gelang es, den freiwilligen Rückzug der Protestbewegung in die Quarantäne und Privatsphäre als Erfolg einer angeblich strikten Ordnungspolitik darzustellen und hatte mit diesem Diskurs zumindest bei den Sektoren der Rechten Erfolg, deren Unterstützung er aufgrund angeblicher Kompromissbereitschaft während der Oktoberkrise verloren hatte. Die große Mehrheit der Bevölkerung konnte er jedoch nicht überzeugen. Die von der Regierung angebotenen wirtschaftlichen Hilfspakete kommen – abgesehen von einer dreimonatigen Nothilfe - in erster Linie den großen Unternehmen zugute, die sozialen Hilfspakete boten wenig Anreize, um die zentralen Sorgen der Bevölkerungsmehrheit – Arbeitslosigkeit und Verschuldung – zu lösen.

Auch wenn der SARS-CoV-2-Virus die Widerstandsbewegung in Quarantäne gezwungen hat, sollte nicht unterschätzt werden, dass die sanitäre Krise die Konfliktursachen verschärft, die zu den Massenprotesten im Oktober letzten Jahres geführt hatten. Der mangelnde Zugang zu Bildung und Gesundheit wird zu Zeiten der Pandemie noch verschärft. Die digitale Kluft ermöglicht es nur Schüler/innen aus besser gestellten Familien, den Unterricht in digitalen Formaten fortzusetzen. Die Überlebenschancen von Infizierten hängen wesentlich davon ab, ob sie im öffentlichen oder privaten Gesundheitssystem versichert sind. Mehr als ein Drittel der chilenischen Arbeitnehmer/innen sind prekär, ohne Arbeitsvertrag beschäftigt und fallen nun bei wachsender Arbeitslosigkeit durch alle sozialen Sicherungsnetze.

Schulden-Boom und Rentenkrise

Ein Großteil der Bevölkerung bis weit in die Mittelschichten hinein ist bereits hoch verschuldet und die Schulden der Haushalte wachsen weiter. Das rein kapitalgedeckte Rentensystem hat allein in den letzten Wochen durch den Börsencrash 15 Milliarden US-Dollar verloren. Hierdurch verschärft sich die Gefahr der Altersarmut. Mehr als eine Million Menschen sind in Chile ohne Zugang zu Trinkwasser und können grundlegende Hygieneregeln nicht einhalten. Gleichzeitig kam es unter den Quarantänebedingungen zu einer besorgniserregenden Zunahme von Gewalt gegen Frauen, in einer Gesellschaft die auch zu normalen Zeiten von patriarchaler Gewalt gekennzeichnet ist.

Hinzu kommt, dass sich das Establishment nach wie vor durch ein bemerkenswertes Unverständnis der Sorgen der Bevölkerungsmehrheit und Frivolität bei der Missachtung der Quarantäneregeln auszeichnet: So charterten mehrere Unternehmer Hubschrauber, um die Wochenenden an ihren Zweitwohnsitzen am Meer zu verbringen. Dienstpersonal wurde vor die Wahl gestellt, sich von den eigenen Familien zu trennen, um im Haushalt der Arbeitgeber/innen zu bleiben oder die Entlassung angedroht.

Rechte wollen Verfassungsprozess kippen

Der politische Opportunismus beschränkt sich derzeit nicht alleine auf Versuche, die Krise politisch für bessere Umfragewerte auszuschlachten. Besorgniserregend ist insbesondere, dass Stimmen aus der Regierung und der Unternehmerschaft nun das bereits auf Oktober verschobene Plebiszit gänzlich in Frage stellen möchten. Am 19. April verkündete der rechts-populistische Vertreter der Republikanischen Partei, José Antonio Kast, dass das für den verfassungsgebenden Prozess bereitgestellte Geld besser zur Virusbekämpfung eingesetzt werden sollte – zweifelsohne eine brandgefährlicher Vorschlag und sicherlich das falsche Signal. Sollte der Verfassungsprozess tatsächlich ausgesetzt werden, könnte dies zu einer Radikalisierung der Protestbewegung führen, sobald diese aus der Quarantäne-Starreauf die Straße zurückkehrt.