SARS-CoV-2-Krise in Brasilien

Hintergrund

Der verantwortungslose Umgang von Präsident Bolsonaro mit der Corona-Krise führt auch innerhalb der Regierung zu Konflikten. In den Armenvierteln verteilen währenddessen zivilgesellschaftliche Organisationen Lebensmittel.

Verteilung von Lebensmitteln
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Künstlerinitiative verteilt Lebensmittel und Hygieneartikel in Cidade de Deus

Seit zwei Wochen nun spielen sich im legendären Stadtviertel Ipanema in Rio de Janeiro gegen 20.30 Uhr an jedem Abend die gleichen Szenen ab: Wütende Proteste gegen den Präsidenten, Topfdeckelschlagen und „Bolsonaro Raus!“-Rufe aus den Fenstern, zuweilen außerordentlich laut. Seine Anhänger antworten immer mal wieder mit voll aufgedrehter Nationalhymne. Die Polarisierung, die Brasilien seit Amtsantritt des rechtsextremen Präsidenten spaltet, nimmt nun in der SARS-CoV-2 Krise weiter an Fahrt auf.

Die ersten SARS-CoV-2-Fälle

Der erste SARS-CoV-2-Fall wurde in Brasilien am 26. Februar, Aschermittwoch, bekannt. Es folgten weitere Einzelfälle, fast alle aus Italien mitgebracht, häufig von brasilianischen Touristen, die dort dem Karneval entflohen waren oder ihn dieses Mal in Venedig mitgefeiert hatten. Die erste Tote in Rio de Janeiro war am 23. März die Hausangestellte einer dieser Reisenden. Ihre Arbeitgeberin hatte sie nicht einmal über die eigene Krankheit und deren Ansteckungsgefahr informiert.

Am 12. April sind offiziell 22.169 SARS-CoV-2-Infizierte bestätigt, 1.223 Menschen bislang an Covid-19 gestorben. Allerdings verfügt Brasilien nur über geringe Testmöglichkeiten und testet deshalb nur schwerkranke Menschen - die meisten Resultate stehen zudem erst drei bis sieben Tage nach dem Test zur Verfügung. Mehr als 21.000 Tests reihten sich vor Ostern in der Warteschlange zur Analyse. Besonders in São Paulo, dem Epizentrum der Pandemie im Land, werden immer wieder Menschen beerdigt, deren Diagnose schwammig „Verdacht auf Covid19“ lautet. Selbst das Gesundheitsministerium spricht von einer deutlichen Differenz der bestätigten zu den tatsächlichen Fällen.

Die meisten Fälle gibt es nach wie vor in São Paulo (8.755), aber die Zahlen steigen im ganzen Land. Weitere Krisenzentren sind Rio de Janeiro (2.855) und der Bundesstaat Ceará im Nordosten (1.676), beides besonders beliebte Reiseziele für Touristen, sowie die Hauptstadt Brasilia (614) und der Bundesstaat Amazonien (1.206). Dort starb vor wenigen Tagen auch der erste Indigene, ein fünfzehnjähriger Yanomami-Junge. Es wird befürchtet, dass das Virus unter Indigenen, die wenig Kontakt zur Außenwelt haben, besonders heftig wüten könnte. Eingeschleppt wird das Virus in indigene Territorien vor allem durch illegale Goldsucher und Holzfäller. Aber auch eine junge indigene Krankenschwester, die nach einer Fortbildung in ihr Gebiet zurückgekehrt ist, wurde positiv auf SARS-CoV-2 getestet.

Das öffentliche Gesundheitswesen wird an seine Grenzen kommen

Brasilien besitzt ein öffentliches Gesundheitswesen, SUS, das für jeden zugänglich ist und auch einigermaßen gut funktioniert. Allerdings ist das SUS seit Jahren unterausgestattet, zu wenig Personal, zu wenig Medikamente, zu wenig Ausrüstung. Diese Tendenz hat sich seit der Deckelung der Sozialausgaben durch die liberal-konservative Temer-Regierung 2016 deutlich verschärft. Die Aussichten bei einer Zuspitzung der SARS-CoV-2 Krise sind also nicht gut. Insgesamt gibt es in Brasilien bei gut 210 Millionen Einwohner/innen ungefähr 55.000 Betten für Intensivmedizin. Im Augenblick wird intensiv an einer Erweiterung dieser Plätze gearbeitet. Allerdings gehört davon nur ca. die Hälfte dem öffentlichen Gesundheitswesen. Die andere Hälfte ist Teil des privaten Gesundheitssektors, in dem etwa ein Viertel der Brasilianer/innen versichert sind. Die mit Abstand meisten Intensivplätze stehen in São Paulo, Brasilia und Rio de Janeiro zur Verfügung.

Bislang sind besonders die wohlhabenderen Schichten von SARS-CoV-2 und Covid19 betroffen und die intensivmedizinische Betreuung konnte gewährleistet werden. Wie es aber aussehen wird, wenn sich das Virus in den riesigen Armenvierteln ausbreitet, will sich niemand wirklich ausmalen. Zahlreiche Sportstätten und Fußballstadien werden derzeit zu Krankenhäusern für die leichten bis mittelschweren Fälle umgestaltet.

Amazonien ist der erste Bundesstaat, der mit seinen medizinischen Versorgungskapazitäten in allerkürzester Zeit an seine Grenzen kommen wird. Von den existierenden 69 Betten für Intensivmedizin, die dort dem öffentlichen Gesundheitssystem zur Verfügung stehen, waren Karfreitag 63 belegt.

Unterschiedliche Reaktionen auf die Krise

Die Antworten auf die Krise fallen unterschiedlich aus: die Mehrzahl der Gouverneure hat um den 15. März Dekrete erlassen, mit denen die Schulen und Universitäten geschlossen wurden, ebenso wie die meisten Geschäfte. Alle nicht lebenswichtigen Betriebe sind ebenfalls geschlossen, bzw., wo möglich, auf Heimarbeit umgestellt. Supermärkte, auch kleine, Apotheken und Drogerien sowie Banken sind geöffnet, z.T. mit eingeschränkten Öffnungszeiten. Außerdem haben einige Ladenketten, die u.a. Haushaltsprodukte anbieten, erfolgreich gegen die Schließung geklagt. Restaurants dürfen außer Haus verkaufen. Viele Gouverneure und ein großer Teil der Presse wiederholen unermüdlich den Aufruf, zuhause zu bleiben: mit erkennbarem, aber letztlich mäßigem Ergebnis. Die angestrebte Einschränkung des öffentlichen Lebens um 70 Prozent wird nirgendwo erreicht - am ehesten noch in den Favelas, wo z.T. die lokalen Organisationen des Drogenhandels oder die Milizen ihre eigenen abendlichen Ausgangssperren verhängt haben. Schätzungen der Telekommunikationsanbieter gehen von rund 50 Prozent der Nutzerinnen und Nutzer aus, die zuhause bleiben - diese Unternehmen haben sich zusammengeschlossen, um die Handybewegungen der Bürger/innen aufzuzeichnen.

Als ökonomische Sofortmaßnahme bewilligte die Regierung, u.a. auf Druck aus dem Parlament, am 1. April eine Unterstützung von 600,- Reais pro Monat (gut 100,- Euro) pro Person für maximal drei Monate für Niedrigverdienende, die im informellen Sektor arbeiten und nun kein Einkommen haben.

... und warum sie nur teilweise greifen

Dass die Hälfte der Brasilianer/innen der Aufforderung, zuhause zu bleiben, nicht nachkommt hat viele Gründe: Vor allem in den Küstenstädten Brasiliens findet das (bislang normale) Leben draußen statt. Aufenthalte im Freien zu untersagen stellt einen außerordentlichen Einschnitt nicht zuletzt in das kulturelle Selbstbewusstsein dar. Die Umstellung ist deshalb eine nicht zu unterschätzende Herausforderung und die zumeist beengten Wohnverhältnisse tragen dazu bei, dass die kleinen Fluchten weiterhin gesucht werden. Auch sind die Wohnungen der Mittelschicht häufig klein und in keiner Weise darauf ausgelegt, dort ganze Tage mit der gesamten Familie zu verbringen.

Besonders in den Armenvierteln der Städte haben die Menschen oft schon nach einem oder wenigen Tagen nichts mehr zu essen, wenn sie nicht mehr arbeiten können. Sie müssen sich auf die Suche machen. Immer mehr junge Fahrradkuriere auf Leihfahrrädern, die für ifood oder UberEats Bestellungen vom Restaurant zum Kunden bringen, bevölkern die besseren Viertel. Die Zahl der zum Verkaufsstand umgedrehten Pappkartons, auf denen in Eigenproduktion hergestellte Mundschutzmasken angeboten werden, wächst täglich. Die Zahl der Menschen, die auf der Straße wohnen, scheint jetzt schon deutlich zugenommen zu haben. An den Peripherien von São Paulo und Rio hat es bereits die ersten Plünderungen von Supermärkten gegeben, die fast im gesamten Land mit empfindlichen Preiserhöhungen Profit aus der Krise schlagen.

Wirtschaftlich wird die Krise Brasilien jedenfalls hart treffen. Erste, noch sehr vorsichtige Schätzungen der Getulio-Vargas-Stiftung gehen für 2020 von einem Rückgang des BIP um 3,5 – 7 Prozent und von einem Anstieg der Arbeitslosenzahlen auf 17,8 - 23,8 Prozent aus. Arbeitnehmende müssen mit Einkommenseinbußen von bis zu 15 Prozent rechnen.

SARS-CoV-2 und Zivilgesellschaft

Beeindruckend ist das Engagement vieler sozialer Bewegungen, beispielsweise von Kleinbauern oder Landlosen, die im Gegensatz zu den preistreibenden Supermarktketten ihr Angebot für Gemüsekisten in der Stadt blitzschnell für einen beutend größeren Kundenkreis angepasst haben und weiterhin auf faire Preise setzen. Eindrücklich sind auch die zahlreichen Aktionen zivilgesellschaftlicher Organisationen, viele von ihnen Partner der Stiftung, die über adhoc-Spendensammlungen tausende von Paketen mit Nahrungsmitteln, Wasser- und Hygieneartikeln zusammengestellt und in den Armenvierteln verteilt haben, wo solche Ratschläge wie häufiges Händewaschen oft schon durch fehlende Wasserversorgung hinfällig werden. Die „Reporter von unten“, die eine andere Berichterstattung aus den Armenvierteln organisieren, laufen zu Höchstleistungen auf und schaffen es, die besonderen Herausforderungen von SARS-CoV-2 in diesen Vierteln auch an eine breite Öffentlichkeit heranzutragen. Allerdings steht die Ausbreitung des Virus dort erst ganz am Anfang. In Rio wurde in diesen Vierteln bislang gerade einmal ein Dutzend Infizierter und ein Todesfall offiziell bestätigt. Die Bewohner selbst sprechen bereits jetzt von deutlich höheren Zahlen.

Bolsonaros Krisenmanagement und seine politischen Folgen

Im Zuge der Krise ist der Präsident inzwischen in offenen Konflikt mit dem Parlament und in einen weniger offenen mit einem Teil seiner eigenen Regierung und wohl auch mit Teilen der Streitkräfte geraten. Gesundheitsminister Mandetta, ein konservativer Abtreibungsgegner und Befürworter von weitgehender Privatisierung des Gesundheitswesens, steuert das Land derzeit entlang der Empfehlungen der WHO durch die Krise und vermittelt dabei den Eindruck fachlicher Kompetenz und Empathie. Das hat ihm in kürzester Zeit Beliebtheitswerte von mehr als 75 Prozent eingebracht. Diese Werte sind mehr als doppelt so hoch wie die Bolsonaros, der seiner Verärgerung darüber vernehmbar Luft macht. Er hat in den letzten Tagen mehr als einmal verlauten lassen, Mandetta sei nicht zu halten, und wollte zuletzt sogar dessen Rücktritt erzwingen. Auf Druck der Streitkräfte, des Parlaments und auch eines Teils der eigenen Minister zog er allerdings den Kürzeren - Mandetta ist immer noch im Amt. Selbst der Oberste Gerichtshof hat Bolsonaro inzwischen die rote Karte gezeigt und klar verlautbaren lassen, dass er ein angekündigtes Präsidialdekret zur Lockerung der Einschränkungen als verfassungswidrig einstufen und für nichtig erklären würde.

Bolsonaros Isolation

Auch in den Umfragen schlägt sich Bolsonaros verantwortungsloser Umgang mit der Krise bereits nieder: Seit Beginn der Krise hat sich bereits das Drittel der Gesellschaft, das ihn als das kleinere Übel gewählt hat, zunehmend von ihm abgewandt. In vielerlei Hinsicht war Bolsonaro seit Amtsantritt noch nie so isoliert. Ob das reicht, ihn vorzeitig abzusetzen ist allerdings völlig offen. Und sollte sein Vize, Ex-General Hamilton Mourão, die Regierungsgeschäfte übernehmen, ist ebenfalls unklar, welche Folgen dies für den Umgang mit der Krise, die politische Landschaft und das Land haben würde.