Coronadenken 3/3 - Ökonomie und Politik

Analyse

Die Corona-Pandemie stellt unsere Gemeinwesen vor unbekannte Herausforderungen. Heikle Fragen moralischer und politischer Art sowie des Zusammenlebens müssen beantwortet werden. Der  Kieler Philosoph und Umweltethiker Konrad Ott bietet in diesem Essay, den wir in drei Teilen in den nächsten Tagen präsentieren, eine Orientierungshilfe in den schwierigen Zeiten von Corona.

Coronadenken - Poster mit Gesichtsmaske

Ökonomie

Die CoVid-19 Pandemie ist ein unfreiwilliges radikales Degrowth-Experiment. Es kommt zu einem Nachfrageschock bei vielen „überflüssigen“ Produkten. Umsätze gehen gegen Null. Keine Verkäufe, keine Einkäufe, keine Arbeit, keine Investitionen. Die CO2-Emissionen sind stark rückläufig, das deutsche 40-Prozent-Ziel für 2020 wird erreicht werden. Kraftstoff ist billig wie lange nicht.

Solch ein abrupter und erzwungener Stillstand steht im krassen Widerspruch zur Logik einer modernen arbeitsteiligen Wirtschaft, zu „Handel und Wandel“. Die Opportunitätskosten eines solchen Stillstandes sind Thema der Volkswirtschaftslehre. Die Konsequenzen sind derzeit nicht übersehbar. Die Rezession ist unvermeidlich, fraglich ist nur noch ihre Schwere (1929, 2008 als Vergleichsjahre). Einbußen von ca. 5 bis 10 Prozent (nach einigen Schätzungen von bis zu 20 Prozent) des BIP erscheinen realistisch. Unterschiedliche Branchen und Berufsgruppen sind unterschiedlich betroffen (Beamtenschaft versus Arbeiter, Angestellte, Freelancer, Selbständige). Eigentlich sind wir jetzt in den Zeiten angekommen, für die früher der „Notgroschen“ vorgesehen war. Aber Ersparnisse können nur diejenigen krisenbedingt abschmelzen, die über Ersparnisse verfügen. Und welcher Selbständige möchte die laufenden Kosten aus privaten Ersparnissen bestreiten?

Die Politik schwenkt ohne zu zögern auf Keynesianismus „ohne Solidaritätslücke“ um, verkündigt das sofortige Ende der „schwarzen Null“ und nimmt neue Staatskredite in Höhe von 156 Mrd. € auf. Erste, noch grobe Schätzungen der Kosten bewegen sich in dem breiten Korridor zwischen 29 und 55 Mrd. € volkswirtschaftlicher Kosten pro Woche, d.h. die Neuverschuldung von 156 Mrd. € deckt für ca. 3-5 Wochen die Kosten. Die Steuerausfälle 2020ff. in Verbindung mit der Notwendigkeit der Schuldentilgung werden Auswirkungen auf zukünftige Staatshaushalte haben. Als Nicht-Ökonom kann ich Konsequenzen für das zukünftige Gefüge relativer Preise, Investitionen, Außenhandelsbilanzen, Geldmengen, Inflationsraten, Börsenkurse, Arbeitsmärkte, Mieten, Pachten etc. nicht abschätzen. Die ersten schematischen Modelle wie das von Richard Baldwin zeigen, dass schlagartig alle ökonomischen Akteure von der Pandemie negativ betroffen waren und weitere Kettenreaktionen immer wahrscheinlicher werden, je länger der Ausnahmezustand dauert. Sollte sich die rechtliche Fragwürdigkeit der Maßnahmen herumsprechen (siehe Abschnitt Recht), so könnte es rational sein, den Klageweg einzuschlagen und Kompensationsforderungen zu erheben. Zur Neuverschuldung kämen also ggf. noch extreme Kompensationsforderungen auf Bund und Länder zu.   

Mangels ökonomischer Kompetenz beschränke ich mich in diesem Abschnitt auf drei Punkte: a) Allokation von Ressourcen im Gesundheitswesen, b) die theoretische Konzeption des Wertes eines statistischen Menschenlebens und c) das Problem des Lastenausgleichs, das in die Sphäre der Politik verweist. 

Ad a) Das „upgrading“ des Kliniksystems auf die pandemische Situation ist kostspielig, aber im Rahmen moralisch begründeter Vermeidungsziele gerechtfertigt. Dabei geht es nicht nur um Geräte, sondern auch um kundiges Personal und dessen Ausbildung. Diese Kosten können entweder durch Umschichtungen im Gesundheitssystem oder durch dessen verbesserte finanzielle Ausstattung aufgebracht werden. Gibt man 12 Prozent des BIP für das Gesundheitssystem aus, bedeutet dies eine verbesserte Ausstattung 12+x% bei gleichzeitiger Tilgung der Staatsschulden. Umschichtungen verschlechtern medizinische Dienstleistungen in anderen Bereichen (Krebs, Unfälle, Herz- und Kreislauf, Diabetes, psychische Störungen, Traumata usw.). Die übrigen Krankheiten werden durch CoVid-19 nicht weniger. Umschichtungen erhöhen die Überlebenswahrscheinlichkeit der CoVid-19-Patient*innen, könnten aber andere Sterbewahrscheinlichkeiten erhöhen. Ob sich dadurch die Lebensrisiken angleichen oder größer werden, ist unklar.

Ad b) Die ökonomische Theorie fragt nach dem „value of a statistical life“ (VOSL). Der unendliche Wert des einzelnen Lebens, der in der deontologischen Moral des normativen Individualismus gilt, stellt kein sinnvolles ökonomisches Problem dar. Ökonomisch relevant ist die Frage, welche Opportunitätskosten eine Gesellschaft zu tragen (nicht) bereit ist, um eine bestimmte Anzahl anonym-statistischer Menschenleben (nicht) zu retten. Ökonomen legen den VOSL nicht selbst fest, da sie die Risikoaversion, die moralischen „believes“ und das übrige Präferenzgefüge nicht vorschreiben dürfen, sondern respektieren müssen. Ökonomisch betrachtet, erschließt sich der VOSL aus dem realen kollektiven Verhalten und den Regelwerken, die sich eine Gesellschaft im Risikobereich gibt. Die „revealed preferences“ sind der verhaltensökonomische Lackmustest auf den VOSL.

Deutschland setzt den VOSL sehr hoch an. Gesetzt (als Rechenexempel), der Stillstand des öffentlichen Lebens erbringt 400 verhinderte COVid-19-Tote pro Woche und kostet 40 Mrd. € (mittlere IfO-Schätzung). Daraus ergibt sich 1 VOSL = 100 Millionen €. Diese geschätzte Zahl wirft ein sehr gutes Licht auf die Moralität unseres Landes. Gerade ökonomische Berechnungen zeigen, dass unsere CoVid-19-Politik nicht „Wirtschaft über Menschenleben“ stellt. Entsprechende Vorwürfe entbehren jeder Grundlage.

Einige Ökonomen an den Universitäten von Bristol und Chicago gehen noch weiter. Aus vielen Studien ist bekannt, dass Arme durchschnittlich früher sterben als Reiche. Wenn man annimmt, dass eine schwere Rezession nicht zu tiefgreifend solidarisch-egalitären Gesellschaftsreformen führt, sondern die Muster ökonomischer Ungleichheit sich in der Rezession reproduzieren, dann müsste langfristig die statistische Lebenserwartung in ärmeren Schichten leicht sinken. Alle Berechnungen dieser Art bewegen sich auf ethisch und ökonomisch dünnem Eis. Rein ökonomisch wäre zu fragen, mit welcher Diskontrate der VOSL gegenwärtiger CoVid-19-Tote mit einer zukünftig sinkenden Lebenserwartung (oder zukünftigen Suiziden) abgeglichen werden sollte. Derartige Berechnungen treiben die reine Modell-Ökonomik in immanente Widersprüche, deren ethische Reflexion verdeutlicht, dass Wirtschaftswissenschaft immer politische Ökonomik ist. Insofern verweist die moralisch scheinbar skandalöse Konzeption des VOSL in ihren Reflexionsbestimmungen auf eine mögliche neue Einheit von Ethik, Ökonomik und politischer Philosophie.   

Ad c) Wir werden die Schulden der Zwangspause tilgen, und wir werden die gesamten Lasten „fair“ verteilen müssen. Die Folgen der Epidemie erfordern einen Lastenausgleich. Ökonomen interessieren sich nun eher für Fragen der effektiven Allokation, sprich: Zuweisung knapper Produktionsfaktoren, nicht für die gerechte Verteilung der erwirtschafteten Güter. Die gerechte Verteilung von Lasten muss im Grenzgebiet von Ökonomik und politischer Philosophie diskutiert werden. Makro-ökonomische Theorien können modellieren, welche Konsequenzen welche Formen des Lastenausgleichs mit sich bringen könnten. Das Konzept des Lastenausgleichs ist freilich attraktiv für Intellektuelle, die schon vor CoVid-19 Umverteilungen im Namen der distributiven Gerechtigkeit gefordert haben. Das Prinzip des Lastenausgleichs in Verbindung mit einer Post-CoVid-19-Situation öffnet für sie ein politisches „window of opportunity“. Derer gibt es, wie wir sogleich sehen werden, nicht wenige.  

Politik

Das Infektionsgeschehen ist einerseits ein „moving target“. Daher dominiert buchstäblich „Tagespolitik“. „Fahren auf Sicht“, „ständige Neubewertung der Lage“, „Abwägung“, „Verhältnismäßigkeit“ sind als Legitimierungsvokabeln in aller Munde. Wir müssen gleichwohl über Floskeln des Typs: „Die Frage der Verhältnismäßigkeit muss immer wieder neu gestellt werden“ (Spahn in der ZEIT) hinausgelangen. Ja, es geht um Abwägungen. Abwägen bedeutet, sich in Spielräumen legitimen Ermessens zu bewegen. Es ist schwer, dem Abwägenden einen Fehler bei der Abwägung nachzuweisen. Am Ende der Abwägung müssen Entscheidungen getroffen werden. In der ethischen Debatte um das aristotelische Konzept der Klugheit („phronesis“), wurde die Klugheit immer dem Diskurs konträr entgegengesetzt. Daher verfügt die Diskursethik theoretisch nicht über das, was jetzt vonnöten wäre: eine deliberative Konzeption von gemeinsamer Klugheit zum Guten. Die politische Bürgerschaft könnte nun aber in dieser Sondersituation der Diskurstheorie vorausgehen und eine (Hegel: wirkliche) kluge Deliberation unter dem zu Ideal des „bonum commune“ führen. 

Das politische System ist in seinem professionalisierten Kern faktisch allerdings immer auch opportunistisch. Eine politische Analyse muss die CoVid-19-Pandemie daher auch unter der Perspektive betrachten, welche „windows of opportunity“ sich für welche Akteure und Gruppierungen öffnen oder schließen (lassen) und welche Rhetorik dabei zum Einsatz kommt.

Politische Maßnahmen sind auch plausible Reueminimierungsprogramme: Politiker wollen sich selbst keine Vorwürfe machen müssen, nicht (fast) alles „Menschenmögliche“ gegen die Ausbreitung des Virus getan zu haben. Sich den entsprechenden medialen Vorwürfen und Skandalisierungen nicht aussetzen wollen, ist politisch opportun. Darin war die Politik bislang recht erfolgreich, da die Demoskopen hohe Zustimmungswerte ermitteln.

Politiker handeln, indem sie entscheiden. Politisch betrachtet, war und ist Untätigkeit keine Option. Entschlossenheit wirkt auf viele Bürger*innen beeindruckend („imponierend“). Vertrauen in „handlungsfähige“ Staatlichkeit stärkt Exekutive und Administration. Die CoVid-19-Krise kann nicht die Stunde der Opposition sein. Karrieren bis hin zur Kanzlerschaft sind opportune Nebeneffekte der Situation. Für einzelne Politiker vornehmlich der Exekutive mögen sich derzeit „windows of opportunity“ auf das Amt des Bundeskanzlers öffnen, wenn dieses Amt in naher Zukunft noch begehrt sein sollte.  

Für nationalistisch denkende Exekutiven in fast allen Ländern der EU öffnen sich „windows of opportunity“. Orban ist der Vorreiter dieser Strategie.  Aber es öffnen sich auch angesichts der italienischen und spanischen Krise „windows of opportunity“ für die Forderung nach Corona-EU-Bonds. Wer brächte es derzeit über sich, Italien und Spanien diese Forderung nach EU-Lastenausgleich abzuschlagen? Sven Giegold wird von der Presse (28.3. 2020) mit den Worten zitiert, wer Nein zu Euro-Bonds sage, trete die europäische Idee mit Füßen. Solche Äußerungen stimmen auf die Tonlagen der nächsten Monate ein. In Blogs wird die angebliche Austeritätspolitik der EU für die katastrophischen Zustände in Italien und Spanien pauschal mitverantwortlich gemacht, ohne dass diesen Vorwürfen Gründe korrespondieren.

Die Versuchung ist für alle Parteien groß, die eigenen Parteiprogramme als Grundlage einer gerechten Bewältigung der CoVid-19-Krise und ihren Folgen anzupreisen. Der politische Gegner kann zum „Sündenbock“ gestempelt werden. Alle können in opportunistischer Grundeinstellung versuchen, ihr jeweiliges politisches Süppchen an CoVid-19 zu wärmen. Hiervon ist keine Partei ausgenommen.

Eine „linke“ kosmopolitische Position könnte ebenfalls ihr „windows of opportunity“ suchen. Bislang ist sie in der Defensive, da das „framing“ regiert, CoVid-19 solle nicht „eingeschleppt“ werden. Die Angst vor einer Einschleppung ist aber absurd angesichts des Umstands, dass CoVid-19 in der EU grassiert. Eine kosmopolitische Politik wird die Forderung nach Aufnahme von Flüchtlingen und Migrant*innen nicht fallenlassen. Das libertäre Konzept der Herdenimmunität lässt sich interessanterweise recht gut mit Zuwanderung vereinbaren. Selbst wenn viele Flüchtlinge auf den griechischen Inseln oder in Libyen mit CoVid-19 infiziert wären, würden in der Kohorte der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen nur wenige versterben, solange sie in guter körperlicher Verfassung blieben, was außerhalb der Lager eher zu gewährleisten wäre. Viele überwiegend milde Verläufe in jugendlichen migrantischen Milieus könnten Immunität in einer zunehmend migrantischen Population aufbauen, während überwiegend alte „Bio-Deutsche“ die Zeche zu zahlen hätten. Diese Strategie erschiene virologisch nicht unplausibel, obwohl sie für viele moralisch und politisch kontraintuitiv ist. Der „linke“ Zeitgeist der letzten Jahre könnte ein entsprechendes „window of opportunity“ vorbereitet haben. Eine offensive „linke“ Politik müsste also a) Herdenimmunität auch durch Zuwanderung und b) massive Umverteilungen fordern, um hierdurch eine gerechte und solidarische post-koloniale Gesellschaft aufzubauen. Sinnvoll wäre dabei die Forderung nach einer drastischen Erhöhung der Erbschaftssteuer, da diese in Zeiten einer Pandemie eine der wenigen Steuern sein wird, deren Aufkommen nicht degressiv sein dürfte. Die Forderung, Mietzahlungen auf unbestimmte Zeit auszusetzen, wäre die konsequente Fortsetzung der Berliner Kampagne für die Verstaatlichung von Mietwohnungen. Ein lautstarker polemischer Wahlkampf eines „linken“ Bündnisses könnte auf diese und andere Ziele fokussiert werden. Sofern man die entsprechenden Überzeugungen teilt (die nicht die meinigen sind), bietet sich strategisch eine mögliche metropolitane „Post-CoVid-19-Volksfront“ an.

Eine dezidiert „linke“ Politikstrategie würde allerdings die Gräben zwischen politischen Lagern weiter vertiefen. So dürften sich die „identitären“ Gruppen in der Vermutung bestärkt sehen, dass eine virologische Politik nach der Maxime: „Weniger alte Bio-Deutsche und mehr junge Flüchtlinge“ auf der Strategie beruhe, die Bevölkerung allmählich auszuwechseln. Die „Brandmauer“, die die Union zur AfD aufgebaut hat, dürfte angesichts einer politischen Lagerbildung brüchig werden. Wie auch immer, die politischen Konflikte und Kämpfe bereiten sich in der gesellschaftlichen Zwangspause schon vor. Auch in politischer Hinsicht herrscht (noch) die Ruhe vor dem Sturm.

Keiner hat eine Kristallkugel für die Post-Covid-Zeit. Die Bevölkerung ist pessimistisch wie nie zuvor: Laut Allensbach blickten selbst 1949 (27 Prozent) mehr Menschen optimistisch in die Zukunft als 2020 (24 Prozent). Daran lässt sich nichts ändern. Die Philosophie muss sich bekanntlich davor hüten, erbaulich zu sein und ruchlosen Optimismus zu verbreiten. Aber wir haben im Durchgang durch die Sphären von Recht, Moral, Gemeinschaftsleben, Ökonomie und Politik immerhin einige Gesichtspunkte festhalten können, an denen sich Handlungsstrategien für die nähere Zukunft orientieren könnten.

Der Verfassungspatriotismus fordert, die bürgerlichen Grundfreiheiten zu achten. Wir haben unsere Freiheiten aus moralischer Einsicht in den Ernst der Lage für kurze Frist abgetreten, aber nicht dauerhaft. Die Befristung bemisst sich nach Wochen, nicht nach Monaten oder gar Jahren. Maßnahmenrecht geht in „full liberal democracies“ (John Rawls) nur eng befristet und nur auf klarer rechtlicher Grundlage. Eingriffe müssen vor allem zielführend sein. Von allen wirksamen Maßnahmen sind die „mildesten“ zu wählen, also häusliche Quarantäne und keine polizeilich bewachten Quarantänezentren wie in China. Hier sollten wir einen lernbereiten Blick nach Süd-Korea werfen.

Wir müssen uns gleichwohl in Geduld üben. Für Virologen ist es schon ein Erfolg, wenn die Zahl der täglich neu Infizierten konstant bleibt, während die breite Bevölkerung dies als Scheitern der Bemühungen interpretieren könnte, in ihren Anstrengungen nachlässt und allmählich rebellisch-renitent wird. Die fast unerträgliche Spannung zwischen Freiheitsliebe und epidemologischem Geduldsspiel, die die Ostertage 2020 prägen werden, darf nicht zum „Riss“ in der Bevölkerung führen. Besonnenheit wird jetzt zur Tugendpflicht (Kant).

Buying time ist keine falsche Strategie. Wenn wir uns zu hohen Kosten einige Wochen Zeit in erster Linie gekauft haben, um die Infektionskurve so lange so flach zu halten, bis das Kliniksystem so gut ausgerüstet ist, dass es ohne Triage viele Leben oder wenigstens viel Lebenszeit retten kann, dann lassen sich plausible Aussagen treffen, wann die Zeit der Lockerungen und Erleichterungen gekommen sein wird. Das Kliniksystem wird im April und Mai jedenfalls nicht so unvorbereitet überrumpelt wie das italienische und spanische.[1] Mein Laienurteil lautet, dass die gekaufte Zeit zur Aufrüstung und Vorbereitung des Kliniksystems recht gut genutzt wurde.

Das Bestreben des Kalküls kommt jetzt zu seinem Recht: Anzahl der zu erwartenden Infizierten bei allmählicher Lockerung abzüglich der Zahl der milden Verläufe ergibt einen groben Schätzwert der klinisch behandlungsbedürftigen Verläufe, wobei zehn Tage ein Richtwert für durchschnittliche intensivmedizinische Behandlung sind. Dieser Schätzwert ist mit den im Aufbau befindlichen Kapazitäten des Kliniksystems bei einer niedrigen Infektionsrate des auf CoVid-19 eingestellten Klinikpersonals abzugleichen. In den letzten Märztagen kam der Richtwert „Verdoppelung der Infizierten in 10 Tagen“ als Kriterium für eine mögliche Lockerung der Restriktionen auf.    

Die richtige politische Strategie setzt sich aus folgenden „building blocks“ zusammen: verbesserte klinische Kapazitäten vorhalten, das Leben allmählich normalisieren, das Maßnahmenrecht beenden, Risikogruppen isolieren, langfristige Immunität aufbauen, Lastenausgleich schaffen. Die epidemologischen Vermeidungsziele müssen mit den bürgerlichen Freiheiten in eine fragile praktische Konkordanz gebracht werden. Damit ist die eigentliche diskursive Aufgabe für die nächsten Wochen und Monate vorgezeichnet.

In den „building blocks“ verbergen sich allerdings „Kröten“. Die Gesamtstrategie kann die Anzahl der zukünftigen CoVid-19-Toten nicht auf null drücken. Sie nimmt vielmehr einen langsamen Anstieg und ein langwieriges Plateau an CoVid-19-Toten in Kauf. Der Ethikrat scheint dies in seiner Stellungnahme vom 27. März 2020 anzudeuten, wenn er vom allgemeinen Lebensrisiko spricht.

Das aus dieser Strategie resultierende Lockerungsregime wird ein flexibles „atmendes“ Regime sein müssen, da lokale Infektionsherde wahrscheinlich sein werden. Der Vereinheitlichung der Regeln in der Phase der „Schließung“ wird eine größere Flexibilität in der Phase der „Öffnung“ entsprechen müssen. Eine ähnliche Strategie verfolgt auch Thomas Pueyo in seinem Artikel „Coronavirus: The Hammer and the Dance“[2]. Die „Hammer“-Maßnahmen bemessen sich Pueyo zufolge nach Wochen, der „dance of measures“ in der Öffnungsphase wird sich über Monate hinziehen. Pueyos „epidemic calculators“ zeigen aber auch, welche fatalen Folgen das Unterlassen energischer „Hammer“-Maßnahmen hat bzw. haben könnte. Die Alternative zur Strategie, sich mit dem Hammer Zeit zu kaufen, ist der „fatal outbreak out of control“, auf den die USA jetzt schlimmstenfalls zusteuern könnten.[3] Wer würde es lieber heute als morgen wagen, das Epizentrum New York so abzuriegeln, wie es im Actionfilm „Outbreak“ an einer Kleinstadt vorgespielt wurde?[4] Massenveranstaltungen wie Messen, Kongresse, Sportereignisse u. ä. dürften wohl für längere Zeit entfallen.

Der deutsche Lastenausgleich sollte über drei Säulen abgewickelt werden. Die erste Säule ist die Beibehaltung des Solidaritätszuschlags, der nach der staatlichen Einheit eingeführt wurde. Die zweite Säule sollte eine Vermögensabgabe nach Art 106 (1) 5 GG sein, der das Aufkommen einer Steuer aus „einmaligen Vermögensabgaben und (…) zur Durchführung des Lastenausgleichs erhobenen Ausgleichsabgaben“ dem Bund zuspricht.[5] Bei allen Bedenken gegen eine einmalige Vermögensabgabe mit Blick auf Art 14 (1) kann man argumentieren, dass eine solche Abgabe unter der strikten Zweckbindung, ökonomische Schäden der CoVid-19-Epidemie auszugleichen, verfassungspolitisch zu rechtfertigen ist. Über die Details einer solchen Vermögensabgabe kann politisch verhandelt werden. Soweit ich die verfassungsrechtliche Debatte um Art 106 (1) 5 überblicke, darf eine einmalige Vermögensabgabe erhoben werden zur finanziellen Bewältigung einmaliger katastrophischer Ereignisse. Die Finanzierung staatlicher Daueraufgaben hingegen wäre durch den Sinn von Art 106 (1) 5 aufgrund der Anlehnung an den historischen Lastenausgleich nach 1945 nicht legitimiert. Die „Größe“ der CoVid-19-Krise rechtfertigt den Rückgriff auf Art 106 (1) 5 in Abwägung mit Art 14 (1).[6] Die dritte Säule des Lastenausgleichs sollte ein Sonderopfer der Beamtenschaft sein. Die Privilegien der Beamtenschaft traten während der CoVid-Krise besonders deutlich hervor. Die Besoldung war nicht gefährdet. In den höheren Besoldungsgruppen stiegen in den Wochen der Verhaltensbeschränkungen die Sparquoten. Beamte sind Staatsdiener, die, eingedenk ihrer Privilegien, ein Notopfer beitragen sollten. Kürzungen der Besoldung um 10 Prozent und/oder Fortfall von Zuschlägen, Boni und Pensionsansprüchen erscheinen mir nicht unbillig. Hier sehe ich den Beamtenbund in der Pflicht, Konzepte eines Lastenausgleichs zu erarbeiten, den die Beamtenschaft zu tragen bereit sein sollte, um die Staatshaushalte substantiell zu entlasten. Diese Konzepte müssen freilich den Unterschieden der Besoldungsgruppen Rechnung tragen. Ob dies alles beamtenrechtlich zulässig ist, mag umstritten sein. Die Beamtengehälter und -pensionen sind ja rechtlich gesichert und können daher nicht ohne weiteres zur Sanierung der Staatsfinanzen herangezogen werden. Vielleicht bedarf es einfach größerer institutioneller Phantasie (wie etwa „crowdfunding“), worauf mich Ludger Heidbrink (Kiel) hinweist.

Konzeptionell falsch wäre es, die Konzepte des Lastenausgleichs aus Prinzipien idealer distributiver Gerechtigkeit deduzieren zu wollen. Mehr als Billigkeit und Angemessenheit ist hier nicht zu haben. Ein EU-weiter Lastenausgleich erscheint ebenfalls geboten. Ob die geforderten Corona-Bonds das richtige Instrument sind, wie italienische Politiker sie mit großem moralischem Nachdruck in ganzseitigen FAZ-Anzeigen (31. März) fordern, sollte in Ruhe diskutiert werden. Die aufgescheuchten Gemüter „guter Europäer“ neigen in der jetzigen Situation, wenn sie unter hohen moralischen Druck geraten, zur Nachgiebigkeit in diesen Fragen, die vernünftigerweise dann zu entscheiden wären, wenn die Schadensbilanzen überschaubarer sind. Ich schlage also vor, mit europapolitischen Entscheidungen zu warten, bis sich das Dickicht der Krisenpolitik etwas gelichtet hat. Statt Schuldenbonds könnten auch größere Umschichtungen des EU-Haushaltes in Betracht gezogen werden.

Der Ausdruck „Risikogruppen schützen“, erweist sich bei näherem Hinsehen als höchst problematisch, ja als eine „Büchse der Pandora“. Wenn die Bewohner*innen in Alten- und Pflegeheimen von ihren Angehörigen keinen Besuch mehr empfangen dürfen und die meisten Beschäftigungsangebote abgesagt werden müssen, wird die Betreuung in Einrichtungen der stationären Altenhilfe schlimmstenfalls auf einen Zustand „satt, sauber, trocken“ zurückgeworfen, auf dessen Überwindung die Gesellschaft viel Engagement aufgewendet hat.[7] Der alternden Gesellschaft kehrt die Aussicht auf das hohe Alter eine schreckliche Fratze zu. Ähnliches muss auch im Hinblick auf behinderte Mitbürger*innen, gleich welchen Alters, gelten. Was bedeutet der Schutz dieser Risikogruppen etwa hinsichtlich der schulischen Inklusion? Wie (lange) sollen Menschen mit Multipler Sklerose oder mit Mukoviszidose vom alltäglichen Leben ferngehalten werden? Gegen Quarantäne auf unbestimmte Zeit verliert zuletzt das Virus seinen Schrecken. Im Alter gibt es noch anderes zu fürchten als den Tod. Existentialistisch gesprochen, sollten die Bedingungen, unter denen die letzte Lebensphase gelebt wird, nicht den Rückblick auf ein insgesamt lebenswertes Leben eintrüben und vergällen. Die freudlose Isolation verkürzt nicht nur das äußerliche Leben, sondern schärft den Stachel des Todes und verdirbt die innige Aussicht auf eine finale Sättigung des Lebens.

Wenn Lothar Wieler, der Chef des Robert-Koch-Instituts in den Nachrichten (29. März 2020) mit der Aussage zitiert wird, er halte in Deutschland Zustände wie in Italien „nicht für ausgeschlossen“, so ist dies (epidemo)logisch zu verstehen: Nicht ausgeschlossen sind alle Ereignisse X genau dann, wenn die Wahrscheinlichkeit von X größer null ist. Die Wahrscheinlichkeit von X bleibt unbestimmt, aber mit der Möglichkeit von X müssen wir rechnen. Das Infektionsgeschehen könnte in den Lockerungsphasen im „worst case“ eine Dynamik entwickeln, die die Kapazitäten des Kliniksystems letztlich doch überfordert. Anfang April dürfte die Kapazität der Beatmungsbetten in Deutschland bei etwa 30.000 liegen, 10.000 mehr als noch vor Wochenfrist. Entspricht diese kapazitäre Grenze nun 10.000, 20.000 oder 40.000 Neuinfektionen pro Tag? Der limitierende Faktor könnte das Personal sein, das sich durch Infektionen allmählich ausdünnt. Das medizinisch-klinische System wird sich in Zukunft auf andere mögliche Epidemien einstellen müssen. Unsere Gedanken über die Lebensbedingungen im Anthropozän können von möglichen Epidemien nicht mehr abstrahieren.  

Jede politische Strategie „nach bestem Wissen und Gewissen“ ist also riskant, unsicher und womöglich tragisch, denn Tragik ist, wie Hegel sagt, schuldlose Schuld. Die Politik schuldet der Bürgerschaft daher nur die Bemühung um den Erfolg dieser Strategie, nicht den Erfolg.[8] Wie sich das moralische und politische Klima in der Post-CoVid-19-Zeit entwickelt, ist keine Frage der Prognostik, sondern der Bürgerschaft aufgegeben. Die schreckhafte Einsicht in die je eigene Gefährdung kann zu „Rette sich wer kann“-Strategien führen; die Einsicht in die gemeinsame Verwundbarkeit kann auch zur Quelle von Solidarität werden.  


[1] So zumindest Sylvia Utes (OZ, 26. März 2020), die als Stationsleiterin der Zentralen Notaufnahme der Universitätsklinik Greifswald eine zuverlässige Informantin ist.

[3] Das negative dialektische Bild der USA ist das der New Yorker Bestattungsunternehmerin, die schockiert in die Kamera stammelte: „The graves are sold out, the graves are sold out.“

[4] Eigentlich sollte man über Donald T. keine Worte verlieren, aber die Sammlung von Zitaten zwischen Januar und Ende März (FAZ vom 31. März) bestätigt, was ich schon vor Jahren in meiner Rostocker Rede“ über diesen „bullshiter“ gesagt habe. Von „kein Problem“ über „wie eine Grippe“ und „alles unter Kontrolle“ zu „bei 100.00 Toten haben wir einen guten Job gemacht“ und „harte Zeiten mit bis zu 240.000 Toten“ – eine einzige Abfolge von „bullshit“. Das Volk dankt es mit besseren Umfragewerten.

[5] Ich vernachlässige den rechtstechnischen Punkt, dass die Vermögensabgabe unter den Begriff der Steuer rubriziert wird.

[6] Die erste Version von „Coronadenken“ wurde am Sonntag, dem 29. März 2020, an Kolleg*innen und Freund*innen verschickt. Diese Version enthielt die Forderung nach Vermögensabgabe. Die Parteiführung der SPD erhob die gleiche Forderung am folgenden Mittwoch, die LINKE zog nach. Jürgen Trittin erinnerte daran, dass er diesen Vorschlag vor zehn Jahren angesichts der Finanzkrise gemacht hatte. 

[7] Dort werden, worauf mich Silke Dziallas hinweist, auch demente Personen gepflegt, denen nur noch schwer erklärbar ist, warum ihr Ehemann bzw. ihre Ehefrau nicht mehr zu Besuch kommt. Das verständnislose psychische Leid dementer Personen wäre mit dem Infektionsrisiko abzugleichen.

[8] Die Ethik kann darauf hinweisen, dass ein echtes Dilemma der moralischen Schuld überhebt. Wer ein Lemma wählen muss, hat nicht falsch gehandelt, auch wenn sich Schuldgefühle einstellen mögen.