Slowakische Wahlen 2020: Bestätigung einer „stabilen Instabilität“

Analyse

Bei den Wahlen in der Slowakei ging es nicht nur um neue Gesichter in der Politik. Es ging um die Neuausrichtung eines Landes, dass von Korruption, Machtmissbrauch und Mafiaverbindungen erschüttert wurde.

Monika Jankovska, ehemalige Justizstaatssekretärin in der Slowakei - am 11.03.2020 wegen Korruptionsverdacht festgenommen
Teaser Bild Untertitel
Wenige Tage nach der Wahl wurde unter anderem die ehemalige Justizstaatssekretärin Monika Jankovská wegen Korruptionsverdacht festgenommen. Das Foto zeigt sie 2017 in Talinn.

Den slowakischen Parlamentswahlen wurde das Attribut "kritische" verliehen. Nach dem Mord an dem Investigativ-Journalisten Jan Kuciak und seiner Lebensgefährtin im Februar 2018 und den nachfolgenden Enthüllungen über Fälle politischer Korruption, Machtmissbrauch durch Vertreter der regierenden Garnitur und deren Verbindungen zur Mafia wurde klar, dass der Einsatz in diesen Wahlen hoch sein wird. Es wird sich nicht nur um den Wechsel von Politikern, die an den Hebeln der Macht sitzen, handeln, sondern auch um eine Neuausrichtung des Landes. WANDEL, so hieß die Forderung der Demonstranten auf den Plätzen der Städte bei Kundgebungen, die von der Initiative „Für eine anständige Slowakei“ veranstaltet wurden, der Wandel wurde in allen Formen dekliniert und der Wandel nahm auch unterschiedliche Gestalten an – Wandel hin zur gerechten Gesellschaft in der Darbietung der demokratischen Opposition; radikaler Wandel in der Darbietung der Extremisten sowie ein „verantwortungsvoller Wandel“, den die regierende Partei Smer-SD verhieß. Das Wahlergebnis hat in der Tat den ersehnten Wandel gezeitigt. Der Träger dieses Wandels ist die Bewegung Obyčajní ľudia a nezávislé osobnosti (OĽaNO) (Gewöhnliche Menschen und unabhängige Persönlichkeiten). Die gute Nachricht ist folglich die Niederlage der Partei Smer-SD (Richtung-Sozialdemokratie), die mit kurzer Unterbrechung 12 Jahre lang an der Macht war und einen erheblich vernachlässigten öffentlichen Sektor, ein großes Misstrauen der Menschen gegenüber staatlichen Institutionen und ein weit verbreitetes Gefühl, Gerechtigkeit sei nur für Auserwählte, hinterließ.

Das Phänomen Igor Matovič

Aber der Reihe nach. Zuallererst ein paar Worte zum Wahlsieger. Der Spitzenkandidat von OľaNO Igor Matovič trat in den Wahlen 2010 auf der Wahlliste der liberalen Partei Sloboda a solidarita (SaS) (Freiheit und Solidarität) in die Politik ein. In den vorgezogenen Wahlen zwei Jahre danach kandidierte er bereits selbständig. Die Bewegung OľaNO ist aus politologischer Sicht ein äußert untypisches Gebilde – sie verneint, eine klassische politische Partei zu sein, verfügt weder über Parteistrukturen noch über innerparteiliche Standardprozesse und hat auch keine Mitgliederbasis. Aus ideeller Sicht geht es um eine sehr eklektische Formation, die eine weite Bandbreite von Positionen umfasst, von liberalen bis hin zu konservativen. Mehreren Parametern zufolge geht es um ein populistisches Subjekt par exellence, im Guten, wie im Schlechten. Allein der Name lässt darauf schließen, dass hier das „Vox populi“ vertreten wird. In der Kommunikation setzt man auf die Polarisierung zwischen dem „sauberen Volk“ und den „korrupten Politikern“, man verwendet auch eine Anti-Establishment- und Anti-Eliten-Rhetorik, man will die direkte Demokratie stärken und die Partei steht und fällt mit ihrem charismatischen Vorsitzenden. Andererseits hat Igor Matovič nie auf Fremdenfeindlichkeit oder das Schüren von Angst gesetzt, er nimmt eine sehr inklusive Haltung gegenüber ethnischen Minderheiten ein  – z. B. auf der Europawahlliste von OľaNO wurde im Vorjahr zum ersten Mal ein Vertreter der Roma-Minderheit ins Europäische Parlament gewählt und in diesjährigen Parlamentswahlen gab es auf der Wahlliste von OľaNO mehrere Roma-Angehörige. Im Herbst 2015, zum Höhepunkt der Anti-Flüchtlingshysterie, gab sich Igor Matovič eher zurückhaltend. Die Emotion, mit der er am meisten arbeitet, ist Groll gegenüber bestechlichen Politikern, keineswegs das Schüren von Ängsten.

Und wie kommt es dann, dass eine Partei, die noch im Herbst in den Beliebtheitswerten zwischen 7-8% rangierte, auf einmal einen derart phänomenalen Sieg davongetragen hat? Matovič bezeichnet sich als einen „Experten für politisches Marketing“. Sein Auftreten nimmt des Öfteren die Form von Polit-Entertainment an. Im Zuge der Kampagne ist ihm klargeworden, welch starken Groll die slowakische Gesellschaft gegen korrupte regierende Eliten hegt, und er wurde zum überzeugendsten and authentischsten Herausforderer von Smer-SD. Sein vor der Villa des ehemaligen Finanzministers Ján Počiatok im luxuriösen Cannes aufgenommenes Video, welches sich 1,6 Millionen Menschen angesehen haben, wurde zum Schlager der Kampagne. Matovič hat es verstanden, abstrakte Informationen über das Ausmaß der Korruption in einfacher, allgemein verständlicher Sprache wiederzugeben.

Ist der Wandel eines oppositionellen Protestpolitikers zum Staatsmann und Premierminister überhaupt möglich? Das ist die Schlüsselfrage künftiger slowakischer Stabilität. OľaNO wird eine Koalitionsregierung mit den Parteien Sme rodina (Wir sind eine Familie), SaS (Freiheit und Solidarität) und voraussichtlich auch mit der Partei des ehemaligen Präsidenten Andrej Kiska Za ľudí (Für Menschen) bilden. Erst die Praxis wird zeigen, ob Igor Matovič als Teamspieler und Moderator einer vielfältigen Koalition aufzutreten vermag. Ganz zu schweigen davon, dass die Regierung im Parlament einer unangenehmen Opposition aus Smer-SD und der extremistischen Partei Kotlebovci – Ľudová strana Naše Slovensko (K-ĽSNS) (K – Volkspartei Unsere Slowakei) wird entgegentreten müssen.

Die Bewegung Smer-SD am Scheideweg ihres Lebens

Seit mehr als 20 Jahren ist die Bewegung Smer-SD die dominierende Partei in der slowakischen politischen Landschaft. In stabilen Demokratien ist es ein kurzer Zeitraum, aber in den turbulenten neuen Demokratien, in denen Parteien im schnellen Tempo kommen und gehen, ist Smer gleichsam ein Dinosaurier. Sie war mit kurzer Unterbrechung 12 Monate lang an der Macht und feierte ihren Höhepunkt in den Wahlen 2012, als sie 44% der Wählerstimmen und die Möglichkeit, 4 Jahre allein zu regieren, erhielt. Der Umbruch kam nach dem Mord an zwei jungen Menschen. An die Stelle von Premierminister Robert Fico trat der gemäßigte Peter Pellegrini, Fico blieb aber Vorsitzender der Partei, obwohl er sie nicht in die Wahlen führte. Nach den Präsidentschafts- und Europawahlen hat nun Smer auch die wichtigste Wahl von allen verloren. Ihre Zukunft wird von Personalfragen abhängig gemacht – wer wird an die Spitze der Partei treten? Ein tiefes Zerwürfnis innerhalb der Partei wurde noch vor der Parlamentswahl erwartet. Dies trat schließlich nicht ein, aber die Partei kommt um dieses Dilemma nicht umhin. Es ist darüber hinaus offensichtlich, dass sie programmatisch und personell entleert ist. Es stellt sich die Frage, ob sie das Schicksal einer anderen bedeutenden Partei, die ebenfalls nach der Wende gegründet wurde, – der „Bewegung für eine demokratische Slowakei“ – und ihres Vorsitzenden Vladimir Mečiar, an den heute kaum jemand einen Gedanken verschwendet, erleidet, oder aber ob sie es schafft, sich neu zu erfinden und sich gegebenenfalls auch als eine sozialdemokratische Mitte-Links-Standardpartei neu zu profilieren. Eine solche hätte die Slowakei nötig.

LSNS prallte gegen die Hürde

In den Wahlen 2016 ist überraschenderweise die rechts-extremistische Partei ĽSNS ins Parlament eingezogen. Besonders schmerzlich war damals, dass die Unterstützung in großen Teilen von jungen Wählern kam. Auch in diesen Wahlen gab es Befürchtungen über das Abschneiden von Extremisten, den Umfragen zufolge hätten sie zulegen sollen. Doch schließlich schafften sie es nicht über das Ergebnis hinaus, dass sie auch vor 4 Jahren eingefahren hatten. Die Wahlforschungsdaten besagen, dass sie unter den Erstwählern nicht mehr ein derartiger Schlager sind, andererseits aber sind ihnen die meisten Wähler aus 2016 treu geblieben. Es wäre gut, wenn diese Antisystem-, gegen Minderheiten gerichtete und in den Äußerungen ihrer Vertreter rassistische und faschistische Partei an die Grenzen ihres Wachstums stießen und schrittweise ihre Anziehungskraft einbüßen würde.

Wer kommt leer aus?

Die Parlamentswahl 2020 wird wegen der Niederlage der Partei Smer und dem unerwartet hohen Sieg der populistischen Bewegung in die Geschichte eingehen, aber sicher auch aufgrund des Misserfolgs des „Zweiergespanns“ Progresívne Slovensko – Spolu-Občianska demokracia (PS/Spolu) (Progressive Slowakei - Zusammen-Bürgerliche Demokratie). In Anbetracht der Tatsache, dass sie als Koalition kandidierten, benötigten sie zum Eintritt ins Parlament 7% der Wählerstimmen. Es fehlten ihnen 926 Stimmen. Es handelte sich um den historisch knappsten Unterschied, der je ein Subjekt am Einzug ins Parlament hinderte. Die Partei Progressive Slowakei entstand im Jahr 2017 und füllte die liberale Nische auf der politischen Landkarte der Slowakei aus. Später schloss sie sich mit der ebenfalls liberalen Partei Zusammen-OD zusammen. Dieses Tandem siegte im Frühjahr 2018 in der Präsidentschaftswahl (Staatspräsidentin Zuzana Čaputová war zu jener Zeit stellvertretende Vorsitzende der Partei Progressive Slowakei) und später auch in den Europawahlen. Diese Koalition hat es verstanden, ein riesiges Expertenpotenzial hinter sich zu scharen und ist zur politischen „Heimat“ junger, städtischer, gebildeter und welt-offener Menschen geworden. Für die Zukunft ist es wichtig, dass sie auch als außerparlamentarische Opposition überlebt, da im gegenwärtigen Parlament konservative Positionen die Übermacht haben. Darüber hinaus war die Koalition PS/Spolu eine klare Verfechterin der ökologischen Agenda – neben zahlreichen anderen Prioritäten – und stand im Grunde genommen für eine nichtexistierende relevante „grüne“ Partei ein.

Als bedeutende Gruppe ohne politische Vertretung bleibt die ungarische Minderheit, zum ersten Mal seit 1990. Bislang war sie stets vertreten, im Parlament oder in der Regierung, und vertrat immer eine proeuropäische, reformorientierte Politik. Die Partei Most-Híd (Brücke-Híd) von Béla Bugár „zahlte den Preis“ für die Beteiligung an der Regierungskoalition mit Smer-SD und der Slowakischen Nationalen Partei und kam in der Parlamentswahl nur auf 2,1% der Wählerstimmen. Eine weitere bislang außerparlamentarische Partei - Maďarská komunitná spolupatričnosť (MKS) - (Ungarische gemeinschaftliche Zusammengehörigkeit) konnte zwar etwas mehr Wählerstimmen erhaschen – 3,9%, aber das reichte für den Einzug ins Parlament auch nicht. Beide Parteien führten vor den Wahlen lange Verhandlungen über eine mögliche Vereinigung, jedoch erfolglos. Sehr zum Leidwesen der ungarischen Minderheit in der Slowakei.

Die Parlamentswahlen 2020 haben einmal mehr die Konfiguration der parlamentarischen politischen Landschaft verändert, nicht geringe Überraschungen mit sich gebracht, sie haben ihre Sieger und Geschlagenen. Menschen aus der liberalen „Blase“, Wähler von PS/ Spolu (PS/Zusammen) kommentierten die Wahl mit den Worten „wir haben gewonnen und zugleich verloren“. Nun beginnt das Spiel um die Zukunft.

Tabelle: Wichtigste Ergebnisse der Parlamentswahl 2020

 

  % gültiger Wählerstimmen

  Mandatszahl

 

   Mandatszahl nach Wahlen 2016

 

OĽaNO-NOVA
Gewöhnliche Leute und unabhängige Persönlichkeiten

25,0

53

19

SMER-SD
Richtung - Sozialdemokratie

18,3

38

49

Sme rodina
Wir sind eine Familie

8,2

17

11

ĽSNS
Volkspartei Unsere Slowakei

7,9

17

14

Koalícia PS/Spolu
Koalition Progressive Slowakei/Zusammen

6,9

0

-*

SaS
Freiheit und Solidarität

6,2

13

21

Za ľudí
Für Menschen

5,8

12

-*

KDH
Christlich-demokratische Bewegung

4,7

0

0

SNS
Slowakische Nationale Partei

3,2

0

15

Most-Híd
Brücke-Híd

2,1

0

11

Bemerkung: *- Hat 2016 nicht kandidiert.
Quelle: Statistisches Amt der Slowakischen Republik
Die Wahlbeteiligung betrug 65,8% der Wahlberechtigten, im Jahr 2016 waren es 59,8%