„Ich werde Euch nicht enttäuschen, ich halte mein Wort“

Hintergrund

Mit gemischten Gefühlen, aber klarem Auftrag: Unter hohem Erwartungsdruck übernehmen López Obrador und MORENA die Regierungsgeschäfte Mexikos, einem Land vor dem politisch-sozialen Bankrott.

López Obrador in einer Menge von Morena anhängern greift die Hände von mehreren Unterstützern

Sieht man einmal von den Feierlichkeiten und den vielen Staatsgästen ab, wird es den Mexikanerinnen und Mexikanern kaum auffallen, wenn am 1. Dezember Andrés Manuel López Obrador seine sechsjährige Amtszeit als Präsident Mexikos antritt. Seit dem 2. Juli 2018, dem Tag nach den Wahlen, regiert AMLO, wie López Obrador abkürzend genannt wird, de facto. Enrique Peña Nieto, der de jure erst am 30. November seine Amtszeit beendet, ist seit jenem Tag abgetaucht, zusammen mit dem Großteil seines Kabinetts.

López Obrador hingegen hat seit dem 2. Juli täglich nicht nur neue Ankündigungen, sondern auch schon handfeste Politik gemacht. Seit drei Monaten hat er dabei solide Rückendeckung aus dem Kongress. Denn wie er selbst, so erhielt auch seine Partei MORENA eine absolute Mehrheit im Abgeordnetenhaus und zusammen mit seinen beiden Koalitionspartnern auch im Senat. Der neue Kongress ist bereits seit dem 1. September im Amt.

Multiple Krisen, hoher Druck

Die neue Regierung beginnt unter hohem Erwartungsdruck, und dies nicht nur aufgrund der hochkrisenhaften Verhältnisse. AMLO selbst hat den Druck erhöht. „Ich werde Euch nicht enttäuschen, ich halte mein Wort“, hat er beständig im Wahlkampf und noch einmal bei seiner Siegesrede am 1. Juli gerufen. Er versprach, die Korruption wirksam zu bekämpfen und damit gleichzeitig nicht nur den armen Mexikaner/innen – gut die Hälfte der Bevölkerung, so viele, wie ihn gewählt haben – spürbar aufzuhelfen, sondern auch das Gewaltproblem in den Griff zu bekommen. Im Land ziehen gerade Tausende zentralamerikanische Migrant/innen in Karawanen gen USA, in der Grenzstadt Tijuana eskalieren Konflikte mit Bevölkerung und Landesregierung, während US-Präsident Trump auf der anderen Seite Truppen aufmarschieren und den Übergang schließen lässt. AMLO hat den Migrant/innen Hilfe versprochen; die mexikanische Migrationspolitik braucht dringend ein Konzept und wirksamere Institutionen.

Vor allem aber das Gewaltproblem ist übermächtig. 2018 könnte die Rekordmarke des letzten Jahres von mehr als 31.000 Morden noch übertroffen werden; in weiten Teilen des Landes hat der Staat die Kontrolle über sein Territorium an Drogenbanden verloren, Touristenzentren wie Acapulco oder auch Cancún eingeschlossen. Und die, die staatliche Gewalt ausüben und im Innern für Sicherheit sorgen sollen – also alle Polizeiformationen und in Mexiko faktisch auch das Militär – sind selbst Teil des Problems; vor allem die Polizei ist mit dem organisierten Verbrechen vielerorts organisch verwoben.

Die neue Nationalgarde: Fortsetzung der Militarisierung?

Es war daher wohl eher eine Art verzweifelte Pragmatik als Liebe zum Militär, die AMLO im November seine umstrittenste Entscheidung treffen ließ. Noch feierten Menschenrechtsorganisationen, dass der Oberste Gerichtshof das von ihnen bekämpfte Gesetz über die Innere Sicherheit kassierte, das dem Heer und der Marine auch offiziell den Einsatz für eigentlich polizeiliche Aufgaben zur Kriminalitätsbekämpfung im Innern erlaubt hätte, da verkündete AMLO die Schaffung einer so genannten Nationalgarde. Zusammengesetzt aus Militär- und Marinepolizei, der Bundespolizei sowie Soldaten der Armee, organisiert und geleitet von Militärs und unter direktem Oberbefehl des Präsidenten, soll sie das einzige föderale Sicherheitsorgan sein. Die Bundespolizei wird abgeschafft. Damit die Nationalgarde nicht auch wie das genannte Gesetz gegen die Verfassung verstößt, will MORENA die Verfassung ändern.

Die Nationalgarde ist nur eines von acht Elementen des neuen „Nationalen Friedens- und Sicherheitsplans“, den die zukünftige Regierung im November vorlegte. Die anderen sieben Elemente zielen darauf ab, die sozialen Ursachen der Gewalt zu verbessern: Eine andere, nichtrepressive Drogenpolitik, mehr Investitionen in Bildung, Gesundheit und zur Schaffung von Arbeitsplätzen; umfassende Achtung der Menschenrechte; Korruptionsbekämpfung auf allen Ebenen. Diese Punkte sind allerdings recht allgemein formuliert und von Implementierungstauglichkeit noch weit entfernt.

Das Projekt Nationalgarde ist dagegen bereits ins Detail ausgearbeitet, und es sicher richtig, es als Herzstück der neuen Sicherheitspolitik zu bezeichnen, auch wenn es den anderen Punkten zum Teil offen widerspricht. Damit droht sich die Militarisierung der inneren Sicherheit fortzusetzen: Ein Konzept, das in den letzten 12 Jahren die Mordrate und schwerste Menschenrechtsverletzungen massiv steigen ließ. Kein Wunder, dass dieses Vorhaben unter Expertinnen und Experten viel Widerspruch und in der Zivilgesellschaft blankes Entsetzen hervorgerufen hat. Gleichzeitig ist das Militär immer noch für rund 70 Prozent der Mexikaner/innen die vertrauenswürdigste Institution – ein Faktor, den AMLO keinesfalls ignorieren wird.

Ein neuer Politikstil

Das Nationalgarde-Projekt torpediert nicht nur inhaltlich das, was Menschenrechtsorganisationen vertreten und was auch AMLO und MORENA im Wahlkampf vertreten haben, nämlich das Ende der militarisierten Sicherheitspolitik; es lässt nicht nur jegliche Konzeption für eine reformierte, neue Zivilpolizei vermissen; es entwertet auch die vielen Gesprächsrunden, die NGOs mit dem Übergangsteam der neuen Regierung durchgeführt haben. Denn die neue Regierung hat auch einen neuen Politikstil etabliert: Sie redet direkt mit der Bevölkerung und mit der Zivilgesellschaft. Das ist neu und sicher verbesserungswürdig, aber in einem Land mit großer Armut und Einkommensungleichheit, in der „das Volk“ lediglich eine rhetorische Größe, aber kein politisches Subjekt gewesen ist, nicht nur symbolpolitisch kaum zu überschätzen.

Die Verfahrensweisen, etwa 16 bereits abgehaltene Friedensforen mit Opfern der Gewalt und NGOs, waren und sind umstritten, aber in der Übergangszeit hat die Regierung ernst gemacht damit, zuzuhören. Seit Monaten arbeiten menschenrechtsorientierte Organisationen in Arbeitsgruppen mit Vertreter/innen der zukünftigen Innenministerin Olga Sánchez Cordero und ihrem Staatssekretär für Menschenrechte Alejandro Encinas intensiv daran, wie Instrumente der so genannten „Übergangsjustiz“ in Mexiko, dem Land der Toten und Verschwundenen, eingerichtet werden können: Eine Wahrheitskommission, ein international besetzter Sondermechanismus mit Strafverfolgungskompetenz; Schutzmechanismen für Zeug/innen, Opfervertreter/innen, Aktivist/innen; Entschädigungen für die Opfer und ihre Angehörigen.

Die Umweltorganisationen mussten lange warten, bis im November die zukünftige Umweltministerin Josefa González in zwei Runden mit ihnen über Eckpunkte zukünftiger Umweltpolitik diskutierte. Und auch die zwei „Volksbefragungen“ der Übergangszeit sollten in diesem Kontext gesehen werden, selbst wenn sie zu Recht viel kritisiert wurden. Gleichsam als Privatmensch, finanziert mit Spenden von MORENA-Volksvertretern und in großer Hast organisiert, ließ AMLO „die Bevölkerung“ zunächst über die Zukunft eines neuen Großflughafens für die Hauptstadt abstimmen. Die Baustelle weist in zeitlichen Dimensionen durchaus Berliner Dimensionen auf, hat aber deutlich mehr soziale und ökologische Konflikte verursacht.

Die zweite Befragung umfasste 10 Punkte. Abgestimmt wurde über Großprojekte wie die einer Eisenbahnlinie durch die Hauptinsel Yucatán sowie eines Entwicklungskorridors von der Pazifik- zur Atlantikküste und der Bau einer neuen Erdölraffinerie, aber auch die Frage, ob es im öffentlichen Raum kostenloses Internet geben sollte. Der neue Flughafen fiel durch, alle anderen Fragen erhielten 90 oder mehr Prozent Zustimmung, bei schwacher Beteiligung. Ernster zu nehmen und politisch brisanter ist, dass auch die Nationalgarde und der von AMLO auch überraschend vorgeschlagene Pardon für die Expräsidenten – eine weitere Kehrtwende zu den Wahlkampfversprechen, die viel Empörung hervorrief - einer erneuten Volksbefragung unterworfen werden sollen. Diese soll im März dann tatsächlich von dem dafür rechtlich vorgesehenen Organ und nach den ordentlichen Bestimmungen durchgeführt werden.

Populist in historisch-lateinamerikanischem Sinne

López Obrador wird oft als Populist bezeichnet. Analytisch hilft diese Kategorie wenig weiter, wenn man rechtsradikale Politiker mit autoritären Tendenzen a la Viktor Órban damit gleichermaßen belegt wie einen López Obrador, der Institutionen und Gewaltenteilung erklärtermaßen respektiert und sich öfter mal direkt an das „Volk“ wendet, das ihn ja tatsächlich mit mehr als 53 Prozent gewählt hat. Noch weniger hilft es, den Politiker AMLO zu verstehen, wenn man ihn mit Venezuelas Maduro oder Fidel Castro vergleicht. Am ehesten könnte die Kennzeichnung Populist noch in einem historisch-lateinamerikanischen Sinne zutreffen. Die, wenn man so will, Begründer des lateinamerikanischen Populismus, der Brasilianer Getúlio Vargas und Juan Perón in Argentinien, ließen die städtischen Arbeiterschichten erstmals als Subjekte der Politik vorkommen.

Nach Jahrzehnten diktaturähnlicher Verhältnisse und einer im Wortsinne volksverachtenden Korruption, die sich mit einer wenig volksnahen totalliberalen und antisozialen Wirtschaftspolitik paarte, kündigt sich nun in Mexiko eine andere Politik und ein zumindest teilweise anderer Politikstil an, der alte Eliten beunruhigt. Das Land hat beides dringend nötig, und dass die neue Regierung über eine enorme Machtfülle verfügt, mag beunruhigen, sichert aber ein Projekt ab, das die Mexikaner/innen gewählt haben. Wohin es führen kann, wenn eine progressive Präsidentschaft gegen einen korrupten Mehrheitskongress steht, hat das Beispiel der PT in Brasilien gezeigt.

Schwierige, aber wichtige Aufgaben für die Zivilgesellschaft

Richtig allerdings ist: Zur Demokratie gehört eine Opposition. Im Parlament ist sie bis auf weiteres kaum politikfähig. Opposition gegen die Regierung López Obrador wird sich außerparlamentarisch formieren, vor allem im Banken- und Wirtschaftssektor, trotz aller Avancen AMLOs in deren Richtung. Der Zivilgesellschaft kommt die wichtige Aufgabe zu, die Regierung kritisch zu begleiten, sie zu unterstützen, wo möglich, und sie zu kritisieren und zu korrigieren, wo nötig. Es wird nicht einfach, dafür die richtige Strategie zu finden. Unter all den Vorgängerregierungen war stets offenkundig, wogegen es zu protestieren und zu kämpfen galt, wo verlässliche Bündnispartner standen und wo der politische Gegner, die Gefährder.

Das klare Bild hat sich wie beschrieben eingetrübt und blinde Flecken angenommen. Nicht wenige ihrer besten Köpfe haben bereits Einladungen angenommen, in der Bundesregierung und auch in der ebenfalls MORENA-geführten Regierung von Mexiko-Stadt mitzuarbeiten. Die Zivilgesellschaft hat nun erstmals Ansprechpartner/innen im Kabinett. Dieses ist zugleich mit Politiker/innen sehr unterschiedlicher Herkunft und Denkweise besetzt. Dies hat bereits jetzt Widersprüche institutionalisiert, die lähmend wirken können, insbesondere in der Sicherheits- und Menschenrechtspolitik, aber auch im Spannungsverhältnis Schutz der Territorien und der Menschenrechte gegen ein herkömmliches Entwicklungsverständnis, das auf Bergbau, fossile Rohstoffe und große Infrastrukturprojekte setzt. Diese institutionalisierte Widersprüchlichkeit wird die Stellung López Obradors, der professionellen NGOs eher misstrauisch begegnet, eher noch stärken.

López Obrador und MORENA übernehmen die Geschicke eines Landes vor dem politisch-sozialen Bankrott. Nur Zyniker oder die, die von dem alten System profitiert haben, können es sich leisten, die neue Regierung bereits zu Beginn abzutun. Der viel beschworene Wähler/innenauftrag könnte eindeutiger nicht sein. Die Regierung wird viel Unterstützung brauchen, auch die der deutschen Außenpolitik. Denn in der Tat, so groß wie die Krise ist die Fallhöhe für Mexikos neue Regierung und für den zukünftigen Präsidenten persönlich.