Kolumbien: Eine Wahl mit mehreren Siegern

Wahlanalyse

Am 17. Juni 2018 fand in Kolumbien die Stichwahl für das Präsidentschaftsamt statt. Im zweiten Durchgang gewinnt der rechtskonservative Kandidat Iván Duque und wird einer der jüngsten Präsidenten in der Geschichte des Landes; doch auch der in der Stichwahl unterlegene Gegenkandidat Gustavo Petro kann sich mit dem besten Ergebnis eines linken Kandidaten bei einer Präsidentschaftswahl als Sieger sehen. Auch die Demokratie geht aus den Wahlen gestärkt hervor. 

Der Präsidentschaftskandidat Gustavo Petro inmitten von Polizisten und Fans vor der Stichwahl für das Präsidentschaftsamt
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Der Präsidentschaftskandidat Gustavo Petro vor der Stichwahl

Bei der Präsidentschaftswahl am vergangenen Sonntag, 17. Juni 2018, setzte sich der Präsidentschaftskandidat Iván Duque Márquez von der Partei Centro Democrático (Demokratisches Zentrum) in der Stichwahl der zweiten Runde mit 53,98% der Stimmen (10.372.730 Stimmen) gegen den linken Gegenkandidaten Gustavo Petro Urrego, der 41,81% der Stimmen (8.034.089 Stimmen) erhielt. 4,21% der WählerInnen (808.335 Stimmen) machten ihr Kreuz auf dem Stimmzettel bei der Leerstimme „voto en blanco“.

Die Wahlbeteiligung lag mit 53,04 % (19.510.684 Stimmen) nur knapp unter dem Ergebnis bei der ersten Runde (54.22 %) und damit wieder für kolumbianische Verhältnisse hoch. Das Ergebnis entsprach weitgehend den Meinungsumfragen verschiedener Umfrageinstitute der letzten Wochen. 

Die landesweite Stimmverteilung ähnelt den Ergebnissen des Referendums über das Friedensabkommen Ende 2016 und der ersten Runde der Parlamentswahlen. Petro (violette Färbung auf der Karte) gewann in den Bundesstaaten an der Pazifikküste, die besonders von Armut, Gewalt sowie Ungleichheit betroffen sind und in denen vor allem afro-kolumbianische und indigene Gruppen für ihn stimmten, sowie in zwei Bundesstaaten an der Küste und Bogotá.

Petros politischer Diskurs zum Schutz der Umwelt, dem Kampf gegen den Extraktivismus und seinem Eintreten für die Rechte von marginalisierten sozialen Gruppen machte ihn in diesen Regionen zum Wahlsieger. Duque (blau gefärbte Gebiete) setzte sich dagegen in 23 Bundesstaaten durch und konnte vor allem in der Region Antioquia, der Heimat Uribes, aber auch der Grenzregion zu Venezuela, die angesichts der politischen und wirtschaftlichen Krise in diesem Land mit einer Migrationswelle von Venezolaner/innen über die Grenze zu kämpfen hat, große Stimmenanteile gewinnen.

Die landesweite Stimmverteilung: Petro (violette Färbung auf der Karte) und Duque (blau gefärbte Gebiete)

Duque wird neuer Präsident des Landes, Petro Oppositionsführer im Parlament

Gewinner der Wahl ist der 41 Jahre alte Rechtsanwalt und Senator Iván Duque, der viertjüngster Präsident in der Geschichte Kolumbiens seit der Unabhängigkeit 1819 wird – nach den Präsidenten Simón Bolívar (1822), Pedro Alcántara Herrán (1841) und Eustorgio Salgar (1870). Duque arbeitete nach Abschluss seines Jurastudiums im Jahr 2000 u.a. 13 Jahre lang (2001-2013) für die Interamerikanische Entwicklungsbank und wurde 2014 über die geschlossene Liste der Partei Centro Democrático, die Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez ein Jahr zuvor gegründet hatte, Senator des kolumbianischen Kongresses. Er verfügt bisher über keine Regierungserfahrung und war bis Ende letzten Jahres für viele Kolumbianer und Kolumbianerinnen unbekannt, bis er sich im Dezember 2017 bei dem internen Auswahlverfahren der Partei um die Präsidentschaftskandidatur gegen vier Gegenkandidat/innen seiner Partei und im März 2018 mit der Unterstützung Uribes bei der öffentlichen Abstimmung um die Präsidentschaftskandidatur gegenüber Marta Lucía Ramirez und Alejandro Ordóñez durchsetzte.

Innerhalb weniger Monate stieg er so als „Kandidat Uribes“ in den Meinungsumfragen zur Präsidentschaft von unter 10% auf über 40%. In der Stichwahl holte er als erster Kandidat in der Geschichte des Landes mehr als 10 Millionen Stimmen. Duque wird als intelligenter, eloquenter und fleißiger Technokrat des gemäßigten Spektrums des Centro Democrático beschrieben, der im Gegensatz zu seinem politischen Mentor Uribe als umgänglicher im Ton und bei politischen Entscheidungen als konsenswillig gilt. Seine Kritiker betonten die fehlende Regierungserfahrung sowie die Abhängigkeit von Uribe und dessen politischen Umfeld. An seiner Seite wird zum ersten Mal in der Geschichte des Landes mit der konservativen Politikerin Marta Lucía Ramírez eine Frau das Amt der Vizepräsidentschaft bekleiden.

Gustavo Petro, sein Widersacher vom linken Wahlbündnis Colombia Humana (Menschliches Kolumbien), kam mit knapp über 8 Millionen Stimmen auf das beste Ergebnis eines linken Kandidaten in der Geschichte des Landes. Eine Woche vor der Stichwahl hatten prominente PolitikerInnen der Parteien Alianza Verde und des Polo Democrático, die in der ersten Runde noch den drittplatzierten Kandidaten Sergio Fajardo in einem Wahlbündnis unterstützt hatten, ihre Unterstützung ausgesprochen, darunter die Vizepräsidentschaftskandidatin von Fajardo, Claudia López und der ehemalige Bürgermeister und Senator Antanas Mockus (beide Alianza Verde). Trotz ideologischer Differenzen sei die politische Nähe zu Petro größer als zu Duque. Petro konnte gegenüber der ersten Runde seine Stimmenzahl um mehr als drei Millionen, d.h. etwa 66%, erhöhen, insbesondere durch Zugewinne aus dem Lager Fajardos.

Fajardo selbst, der vor der ersten Runde eine Allianz mit Petro abgelehnt hatte, und Jorge Robledo, Spitzenpolitiker des Polo Demorático, der mit seinem früheren Parteigenossen Petro ein distanziertes Verhältnis hat, kündigten dagegen an, ihr Kreuz bei der Leerstimme des voto en blanco" zu machen. Während bei einer absoluten Mehrheit der Leerstimme bei der Parlamentswahl und der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen eine Wiederholung der Wahlen erforderlich wird und alle KandidatInnen nicht erneut antreten dürfen, hat das voto en blanco" bei der Stichwahl nur symbolischen Charakter, der im Ausdruck der ablehnenden Haltung der WählerInnen gegenüber beiden Kandidaten besteht. Mit weniger als 5 % erzielte das voto en blanco" allerdings kein relevantes Ergebnis, und war insbesondere für die Niederlage Petros nicht wahlentscheidend.

Erste Reaktionen nach den Wahlen

In seiner ersten Ansprache nach der Stichwahl betonte Duque wie bereits nach der ersten Runde vor drei Wochen, dass er mit seiner Präsidentschaft die politische Polarisierung überwinden wolle, „das Land einen wolle“, „ein Präsident für alle“ sein werde. Unter den Schlagworten „Legalität, Unternehmensförderung und Chancengleichheit“ (legalidad, emprendimiento y equidad) hatte er bereits während des Wahlkampfs seine politischen Grundwerte zusammengefasst und bei seiner Rede den Kampf gegen Korruption und Klientelismus, die Förderung des Bildungs- und Gesundheitssystems und die Sicherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung betont.

Das Friedensabkommen mit der FARC wolle er nicht „in Stücke reißen“, wie der ehemalige Innenminister Uribes und Ehrenvorsitzende des Centro Democrático, Jorge Londoño, im Mai 2017 lautstark beim Parteitag gefordert hatte, sondern „Modifizierungen“ vornehmen. Duque hatte angekündigt, unter seiner Regierung und mit Unterstützung des Kongresses Gesetzesreformen vorzunehmen, insbesondere was die politische Beteiligung der FARC-Kommandanten im Kongress mittels der im Abkommen zugesicherten Sondersitze (fünf im Senat und fünf in der Repräsentantenkammer), die strafrechtliche Sanktionierung von internationalen Verbrechen und die Drogenpolitik angeht.

Gustavo Petro, den Duque in seiner Rede nicht direkt erwähnte, hatte zuvor den mehr als acht Millionen Wählerinnen und Wählern für ihre „freie Stimme“ gedankt und angekündigt, das Wahlergebnis anzuerkennen, nachdem er vor der ersten Runde noch seine Befürchtungen über mögliche Wahlmanipulationen zum Ausdruck gebracht hatte. Er kündigte an, als Senator in den Kongress einzuziehen – eine Option, die das kolumbianische Wahlrecht dem Zweitplatzierten der Präsidentschaftswahl zuerkennt - und sowohl dort gegenüber der neuen Regierung als auch außerhalb des Parlaments die Oppositionsrolle anzunehmen. 

Während die FARC 2002 bei Uribes Amtseinführung den Präsidentschaftspalast noch mit einer Granate beschossen hatte, gratulierte Rodrigo Londoño, ehemaliger Kommandant der FARC, Duque zu dessen Wahlsieg und forderte ihn dazu auf, das Friedensabkommen umzusetzen. Die Guerillagruppe ELN wandte sich an Duque mit der Aufforderung, die Friedensgespräche mit dieser fortzusetzen. Der deutsche Beauftragte des Auswärtigen Amts für den kolumbianischen Friedensprozess, Tom Koenigs, begrüßte in einer ersten Reaktion den versöhnlichen Ton Duques und sagte: „Wenn der Wille zum Frieden der Wille der neue Regierung ist, dann unterstützen wir diese Regierung.“ Die USA baten Duque um die Fortsetzung der Implementierung des Friedensabkommens und boten dieser Unterstützung beim Kampf gegen den Drogenhandel an.

Zurück zum Uribismus - Version 2.0?

Mit dem Sieg Duques kehrt der Uribismus – mit Duque als neuem Gesicht einer Version 2.0 - als politische Strömung um den Ex-Präsidenten Uribe nach dessen gewonnen Präsidentschaftswahlen 2002 und 2006 zurück an die Macht; 2014 war der der Politiker Oscar Iván Zuluaga als Kandidat des Centro Democrático gegenüber Präsident Santos noch knapp in der Stichwahl unterlegen. Ein Jahr zuvor hatte Uribe die Partei neu gegründet, nachdem Santos 2011 als Nachfolger Uribes dessen Politik der militärischen Konfrontation mit der FARC durch eine Verhandlungspolitik ersetzte, zum Missfallen von Uribe. Während der letzten vier Jahre stellte das Centro Democrático die einzige Oppositionspartei zur Regierung Santos da. Doch die Unterstützung der Parteien für Santos begann während des letzten Jahres zu erodieren, während dieser über schlechte Umfragewerte bei der eigenen Bevölkerung verfügte.

Nach der ersten Runde hatten die beiden traditionellen Parteien Partido Conservador und Partido Liberal, die Partei Cambio Radical um Santos ehemaligen Vizepräsidenten Germán Vargas Lleras, der bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen abgeschlagen auf Platz vier landete, und die Partei Partido de la U (2005 zur Wiederwahls Uribes von diesem und Santos gegründete Partei aus VertreterInnen verschiedener Parteien), die alle Santos während der letzten Jahre in einem Regierungsbündnis begleitet hatten, ihre Unterstützung für Duque angekündigt und so den Weg für eine breite Mehrheit im Parlament geebnet. Zusammen mit diesen und zwei kleineren religiösen Parteien (MIRA und Colombia Justa Libres) würde Duque über 75% der Sitze im Senat und eine ähnliche Mehrheit in der Repräsentantenkammer im neuen Kongress ab 20. Juli verfügen.

Die politischen Herausforderungen für die Zukunft

Der zukünftige Präsident Duque wird mit seinem Mentor Uribe über eine politisch einflussreiche Person im Kongress verfügen – zu seinem Nutzen, aber unter Umständen auch zu seinem Schaden, sollte Duque eine Politik der Versöhnung anstreben, aber nicht über den Rückhalt Uribes zu verfügen. Auch die Zusammenstellung seines neuen Kabinetts wird Aufschluss darüber geben, ob seine Ankündigung, die politische Polarisierung des Landes zu überwinden, von Erfolg gekrönt sein wird, oder neue Brüche durch die kolumbianische Gesellschaft bei relevanten politischen Themen gehen werden.

Innenpolitisch wird er auf eine Opposition aus Alianza Verde, Polo Democrático und dem Linksbündnis Lista de los Decentes (Liste der Anständigen) um Gustavo Petro stoßen, die - wenngleich sie zahlenmäßig nicht über mehr als 25% im Kongress verfügt – über die gesellschaftliche Mobilisierung diverser sozialer Sektoren (indigene, afro-kolumbianische und kleinbäuerliche Organisationen, Umwelt- und Tierschutzaktivisten, Student/innen, etc.), die Umsetzung des Friedensabkommens geltend machen, den Widerstand gegen extraktive Projekte forcieren und die Beschränkung der Rechte von LGBTI-Gruppen zu verhindern suchen werden. Ein besonderes Augenmerk werden die Oppositionsparteien auf den Kampf gegen Korruption und Klientelismus werfen.

Das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen gibt Anlass zur hoffen, dass mit dem Friedensabkommen neue Themen auf die politische Agenda kommen, darunter Fragen der Wirtschaft-, Arbeits-, Steuer-, Gesundheits-, Bildungs- und Umweltpolitik. In seinem Wahlprogramm betonte Petro etwa die Bedeutung einer angemessenen Politik zum Klimawandel, den Ausstieg aus dem extraktiven Wirtschaftsmodell, dass auf dem Abbau und Export von Kohle und Öl fußt, der fossilen Energiegewinnung und die Investition in erneuerbare Energien. Das gute Abschneiden Petros bietet die Möglichkeit einer neuen gesellschaftlichen Gegenbewegung, die sich für die Überwindung sozialer Ungleichheit, die Einhaltung der Menschenrechte, den Kampf gegen Korruption sowie die Einforderung des Umweltschutzes starkmachen wird.

Dennoch wird die Frage der Umsetzung des Friedensabkommens und der Sicherheitspolitik weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Nach einer Verfassungsänderung von 2017 können nach der geltenden Rechtslage FARC-Kommandanten mit den ihnen im Friedensabkommen garantierten Sitzen ab Juli im Kongress vertreten sein. Die Verfassungsänderung sieht ferner vor, dass die Regierungen bis 2030 verfassungsrechtlich dazu verpflichtet sind, das Friedensabkommen entsprechend der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel so weit wie möglich und „bona fides" umzusetzen.  

Hinsichtlich der Drogenpolitik hatte der Verteidigungsminister Santos´ kürzlich öffentlich eingestanden, dass Kolumbien über mehr als 180.000 Hektar Kokaanbauflächen verfügt, womit sich die Anbaufläche gegenüber 2012 fast vervierfacht hat. Dies stellt eine Herausforderung für die Umsetzung des Friedensabkommens dar, wonach eine freiwillige Vernichtung durch Koka-Bauern und -Bäuerinnen im Gegenzug zu wirtschaftlichen Alternativen mittels Regierungsprogrammen der zwangsweisen Vernichtung, insbesondere durch die momentan suspendierte Methode des Versprühens von Unkrautvernichtungsmittels aus der Luft, vorzuziehen ist.

Verschiedene bewaffnete Gruppen, darunter paramilitärische Gruppen, FARC-Dissidenten und die ELN streiten um die Kontrolle über den Anbau und die Kommerzialisierung von Koka. Während Petro eine Politik der Förderung von wirtschaftlichen Alternativen für Kleinbauern und -bäuerinnen zum Kokaanbau und den Kampf gegen die Finanzströme des Drogenhandels favorisiert, setzt Duque mit seinen Vorschlägen auf eine zwangsweise Vernichtung der Anbauflächen, um die Anbauflächen zu reduzieren. Insoweit werden auch die USA eine wichtige Rolle spielen, die die Drogenpolitik Santos kritisch sehen und mehrfach kritisiert haben. Vor wenigen Wochen haben sie die Auslieferung eines ehemaligen FARC-Kommandanten wegen des Vorwurfs von Drogendelikten beantragt, die laut Anklage der US-Ermittler nach Unterzeichnung des Friedensabkommens begangen worden sein sollen. Der Auslieferungsantrag, über den Duque als neuer Präsident möglicherweise in wenige Wochen entscheiden müsste, hat in Kolumbien zu politischen Spannungen geführt.

Außenpolitisch wird sich Duque mit der angespannten Beziehung zu Venezuela angesichts der großen Zahl von venezolanischen Migrant/innen, die nach offiziellen Angaben auf mehr als 800.000 geschätzt werden, beschäftigen müssen. Duque hatte bereits angedeutet, dass das Problem die venezolanische Regierung sei und eine regionale politische Lösung gesucht werden müsste. Bei seiner Rede nach dem Wahlsieg hatte Duque außenpolitische Themen nicht angesprochen und innenpolitisch die Überwindung der Polarisierung für ein friedliches und gesellschaftlich geeintes Kolumbien als zentrales Thema in Aussicht gestellt. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob sich diese Ankündigung bewahrheiten wird oder nicht.