Die salvadorianische Demokratie und die Absegnung des Machtwechsels

Wahlanalyse

Bei den Parlaments- und Gemeinderatswahlen in El Salvador am 4. März 2018 erlitt die aktuelle Regierungspartei FMLN massive Verluste. Dieser Ausgang wird aller Voraussicht nach die Richtung für die Präsidentschaftswahlen im kommenden Jahr vorgeben.

Parlaments- und Gemeinderatswahlen in El Salvador
Teaser Bild Untertitel
Die Parlaments- und Gemeinderatswahlen in El Salvador am 4. März 2018

Zugleich wurde ein wichtiger Aspekt des demokratischen Präsidialsystems, so wie es in dieser Region der Welt angepriesen und praktiziert wird, deutlich: die angestrebte partizipative Demokratie ist praktisch inexistent gegenüber der vorherrschenden Form einer erstarrten repräsentativen Demokratie.

Die zwei großen Parteien El Salvadors – die Republikanisch-Nationalistische Allianz (ARENA) und die Front Farabundo Martí zur Nationalen Befreiung (FMLN) – haben gezeigt, dass ein Machtwechsel innerhalb dieses bipolaren Systems, das gleichzeitig Spiegelbild einer polarisierten Gesellschaft ist, möglich ist. Trotzdem ist der Überdruss gegenüber den Parteien markant.

Einerseits durch den Betäubungseffekt einer vorgezogenen Medienkampagne, beschönigt als „interne” Wahlen der Präsidentschaftskandidaten der ARENA-Partei. Andererseits durch den politischen Verschleiß der machtbewussten Politischen Kommission der FMLN, die 8 Jahre lang in der Ausübung des Regierungsmandats ihren eigenen Marathon lief, ohne auf andere Lösungen als auf eine ausgehandelte „Regierungsfähigkeit“ zu setzen.

Sitzverteilung im Parlament

Die Ergebnisse der Parlamentswahlen - die Wahlbeteiligung lag bei nur 45% - zeigen nach Auszählung der Wahlakten, dass ARENA 823.197 Stimmen erhielt, während ihr stärkster Gegner, die FMLN, nur noch 475.265 Stimmen auf sich vereinen konnte. Was die Ergebnisse bei den Kommunalwahlen angeht, wird ARENA in 137 Gemeinden regieren (vorläufiges Eregbnis am 20.03.2018), in mehr als der Hälfte aller Kommunen im Lande.

Selbst in der strategisch wichtigen Hauptstadt San Salvador verlor die FMLN das Rennen um das bisher gehaltene Amt des Bürgermeisters. Diese dramatische Niederlage auf beiden Ebenen ist jedoch für die FMLN kein unbekanntes Szenarium.
 

Ergebnis der Kommunalwahlen (jeweils stärkste Partei)

 

Korruption und ein zunehmender Mangel an Glaubwürdigkeit

Die FMLN hat als Partei eine politische Vergangenheit, die direkt mit der – nach über zehn Jahren Bürgerkrieg und den Friedensverträgen von 1992 – etablierten Demokratie in El Salvador zusammenhängt. Bei den ersten demokratischen Wahlen von 1994 erhielt die FMLN 21 Parlamentssitze, ein ähnliches Wahlergebnis wie jetzt 2018.

Die FMLN begann also ihre Wahlkarriere in dem Wissen, dass es mehrere Anläufe brauchen würde, um an die Regierung und zu einer Mehrheit im Parlament zu kommen. Und sie hat große Schritte getan, um dies zu erreichen: 1997 erhielt ARENA 28 Abgeordnete, die FMLN schon 27; im Jahr 2000 gewann die FMLN zum ersten Mal eine Mehrheit von 31 Parlamentsabgeordneten, gegenüber 29 von ARENA.

Unterdessen blieb jedoch die Präsidentschafts- sowie die Regierungsmacht von ARENA bis 2009 intakt, nach Wahlniederlagen der jeweiligen FMLN-Präsidentschaftskandidaten, selbst mit populären Kandidaten wie Rubén Zamora oder Schafik Hándal. Erst im Jahr 2009 konnte sie die Regierungsmacht mit einem “Außenseiter” erreichen: Mauricio Funes, der - umgeben von Freunden und Gönnern, sowie einer Aura ohne offensichtliche parteipolitische Befleckung - die Periode des Machtwechsels im Präsidentenamt in El Salvador einleitete.

Dieser Machtwechsel begründete sich in jenem Moment allerdings vor allem durch einen Legitimitätsverlust ARENAs, durch gestiegene Korruption, Klientelismus und einen zunehmenden Mangel an Glaubwürdigkeit. Da der Staat auf eklatante Weise zum persönlichen, familiären und parteilichen Nutzen missbraucht und umfunktioniert worden war, hatte ARENA als Partei bei der Mehrheit der Bevölkerung an Überzeugungskraft verloren.

Diesmal ist es die FMLN, die aus Enttäuschung über den Stillstand im Land und über das Ausbleiben einer fortschrittlichen linken Politik nach acht Jahren Regierungsverantwortung, insbesondere von ihrer Kernwählerschaft drastisch abgestraft wurde. So könnte sogar die weitere Bedeutung der Partei für die nächsten Jahre ernsthaft in Frage gestellt werden.

Zwei unbewegliche Machtblöcke

Der Machtwechsel ist der perfekte Ausdruck eines Zweiparteiensystems. Die Wahlen 2018 bestätigen erneut, dass die Schwächung einer der großen Parteien zwangsweise die jeweils andere stärkt. Die kleineren Parteien (wie z.B. die Große Allianz der Nationalen Einheit, GANA, die Christdemokraten, PDC, sowie die Partei der Nationalen Versöhnung, PCN) profitieren hingegen von den restlichen Wähler*innenstimmen, die ihnen ihre Fortdauer einigermaßen sichern, während sie als Mehrheitsbeschafferinnen der großen Parteien fungieren.

Eine Demokratie unter dem Schema zweier unbeweglicher Machtblöcke kann nichts Anderes als fragwürdig sein und erzeugt eine falsche Empfindung von Hoffnung in einer Bevölkerung, die an immer dieselben Gesichter, unverdauliche Slogans und leere Worte gewöhnt ist.

Die Liste der nicht gelösten oder nicht angegangenen Probleme ist lang: die mangelnde öffentliche Sicherheit, die hohe Gewaltrate, die sich immer am Rand des Abgrunds bewegende Wirtschaft, die immer in Reichweite stehende Krise des Staatshaushalts, und das defizitäre öffentliche Bildungs- und Gesundheitssystem.

Dies waren auch diesmal Themen im Wahlkampf, aber es sind dieselben "alten" und ungelösten Schwierigkeiten in El Salvador. Zudem sind „Grauzonen“ der Macht – illegale oder auch legale Strukturen, welche die Demokratie untergraben –  sowie die hohe Migrationsrate in dieses Problemfeld eingebettet, ohne die entsprechende Aufmerksamkeit der Parteienlandschaft zu erwecken.

Ein Land mit derartigen Problemen, das derart an Versprechungen gewöhnt ist, wählt immer nur mit der vagen Hoffnung auf wenigstens eine minimale Lösung dieser Probleme.

Territoriale Machtstrukturen

Diese Wahlen bedeuten, trotz der unbestreitbaren Niederlage der FMLN, jedoch keine absolute Machtergreifung von ARENA im Sinne ihrer eigenen, triumphalen Rhetorik: Es wäre ein maßgebender Irrtum beider Parteien anzunehmen, dass die eine nur aufgrund ihrer Mängel verloren und die andere wegen ihres vielversprechenden Programmes gewonnen hat.

Die Regierungsfähigkeit des Landes wurde in den letzten Jahren ständig durch die Blockade seitens der im Parlament vertretenen Opposition (ARENA) untergraben. Insbesondere, wenn es um reale, nationale Notwendigkeiten ging: wie das Wassergesetz, das Gesetz zur Ernährungssouveränität oder die Forderung, kriminelle Gruppen zu bekämpfen ohne Machtmissbrauch oder eine Verletzung der Menschenrechte.

Das Land ist ein fruchtbarer Boden für außergerichtliche Hinrichtungen geworden. Die Bevölkerungsgruppen, die von der Kriminalität tagtäglich betroffen sind, tolerieren dies de facto mit Wohlwollen. Dies ist eine Zeitbombe, die in Wahlzeiten immer auch als As unter dem Ärmel ausgespielt wird. Darüber hinaus wäre es ein gravierender Fehler, bei der Analyse die tatsächlichen territorialen Machtstrukturen in großen Teilen des Landes außer Acht zu lassen.

Dort geben Familienangehörige und Anhänger/innen krimineller Jugendbanden – basierend auf vorausgegangenen geheimen "Abmachungen" – ebenfalls ihre Wahlstimmen ab, und begünstigen damit bestimmte Politiker/innen oder ihre Parteien. Solche "Abmachungen" oder "Verhandlungen" können als Akzeptanz der Schwäche der staatlichen Institutionalität im Land interpretiert werden.

Dabei haben beide großen Parteien die Notwendigkeit erfahren, mit eben diesen realen territorialen Machtstrukturen zu verhandeln und zu Abmachungen zu kommen. Meist allerdings nur bei Wahlen und mit fragwürdigem Erfolg.

Möglicher demokratischer Rückschritt

So sind die Wahlergebnisse auch das Tor zu zwei relevanten Phänomenen eines möglichen demokratischen Rückschritts, sowohl im partizipativen als auch im repräsentativen Sinne. Einerseits bedeutet ein von der Rechten dominiertes Parlament (mit möglicher Blockbildung von ARENA, PCN und GANA) die Lahmlegung und Blockade von Diskussionen über anstehende grundlegende Themen: Beispielsweise die Einhaltung der Menschenrechte, insbesondere bei repressiven Maßnahmen gegen Jugendliche, sowie das Recht auf Gesundheit und Schutz der Frauen, die Respektierung sexueller Vielfalt oder den Umweltschutz.

Allerdings könnte die Rückkehr der fundamentalistischen Rechten an die Macht durchaus noch tiefer greifen. Mehrere nun anstehende und weitreichende Entscheidungen werden voraussichtlich von ARENA im Parlament bestimmt werden: die Wahl der Verfassungsrichter/innen (das Verfassungsgericht ist diejenige Instanz, die derzeit über rechtsstaatliche Angelegenheiten einen entscheidenden Einfluss besitzt);  ebenso die 2019 anstehende Wahl des Generalstaatsanwaltes (zur Zeit die einzige Instanz im direktem Kampf gegen Korruption und weitgehend unterstützt von den USA);  die Wahl der Ombudsperson für Menschenrechte, die Wahl der Richter/innen des Obersten Wahlgerichts; und die Wahl der Richter/innen des Rechnungshofes.

Die mehr als nur symbolische Krönung der Rechten wäre möglicherweise der Erfolg eines ARENA-Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen 2019 (obwohl die grundsätzlichen Entscheidungen im Land jenseits des Präsidentenamts getroffen werden).

Wir sprechen von einer Rechten, deren Vergangenheit nur auf Grund der immer noch andauernden Straffreiheit nicht aufgearbeitet worden ist. Und wir sprechen von einer politischen Kraft, die historisch sowie auch zuletzt in fast zwei Jahrzehnten an der Regierung (1992-2009) stets die Wirtschaftselite auf Kosten des größten Teils der Bevölkerung begünstigt hat.

Stärkung der rechten Parteien

Das Panorama dieser Wahlen - ohnehin schon getrübt für Instanzen, die sich für eine partizipative Demokratie im Land einsetzen - wird noch komplizierter durch einen außergewöhnlich hohen Anteil an ungültigen Stimmen. Die 178.538 ungültigen Stimmen und 47.822 Enthaltungen bei diesen Wahlen, die neben anderen Gründen sicher auch auf die Verdrossenheit bezüglich des traditionellen politischen Parteiensystems zurückgehen, stehen möglicherweise für die generelle Ablehnung des Parteiensystems.

Diese „Lösung“ stärkt aber ironischerweise die rechten Parteien, deren "harte" Kernwählerschaft den Ausschlag gegeben haben. Demgegenüber könnten wohl nur mehr Demokratie und Alternativen innerhalb der Parteien selbst die allgemeine politische Teilnahme im Land verbessern und stärken.

Auch die Schaffung innovativer Alternativen ist immer noch ein unerforschtes Gebiet, das zwar bei der erwachsenen Bevölkerung wenig Vertrauen genießt, aber durchaus Optionen jenseits der Wahlmaschinerie der beiden großen Parteien darstellen könnte. Die Jugend steht vor der größten Herausforderung, und das schon bei den Präsidentschaftswahlen 2019.

Jetzt hat sie zunächst die konservativen Kräfte durch ihre eigene Inaktivität des Nicht-Wählens gestärkt, in der Erwartung eines „spontanen” Wandels bei den Parteien selbst und unter der (falschen) Vermutung, dass diese ihre Positionen überdenken oder andere Optionen in Bezug auf die Problematik des Landes schaffen würden.  

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Wahlergebnisse 2018 das Misstrauen der Bevölkerung gegenüber den politischen Parteien, und zwar ausnahmslos gegenüber allen Parteien, zum Ausdruck bringen. Die parlamentarische Vertretung der FMLN nimmt drastisch ab, während ARENA gestärkt aus den Wahlen hervorgeht, wenngleich ohne einen realen Anstieg der Zahl ihrer Wähler selbst.

Eine linke progressive Mehrheit in weiter Ferne

Der Triumph ARENAs ist Resultat der Enttäuschung und des Misstrauens gegenüber FMLN. Sich nach einem Dritten Weg sehnend, hat die Mehrheit der Bevölkerung mit ihrer Wahlabstinenz nun die Büchse der Pandora geöffnet: Die Rückkehr der politischen Rechten, wie auch in anderen Ländern Lateinamerikas, könnte nun erneut die Reorganisation des Staates unter den gleichen Macht-Regeln bedeuten, die in der jüngeren Vergangenheit ihren Sturz provoziert hatten.

Dies, zusammen mit einer FMLN, die bislang immer noch keine Absicht zu kategorischer Reflexion, interner Selbstkritik oder gar zu einer zwingend notwendigen Erneuerung ihrer Strukturen erkennen lässt, wird ein institutionelles Kräftemessen provozieren, bei dem erneut die Dringlichkeit zur Schaffung eines "nationalen Plans" zur Debatte stehen wird. Zu erwarten ist aber, dass Interessen und Gegensätze diese Debatte fraktionieren.

Die politische Reform, Inklusion und partizipative Demokratie in den Parteien, eine erneuerte und nachhaltige Wirtschaft, reorganisierte Staatsfinanzen, Sicherheitspolitik als wichtigste Herausforderung, sowie die Garantie verfassungsmäßiger Menschenrechte werden weiterhin die Bringschuld der aktuellen Demokratie bleiben, unabhängig davon, welche der politischen Parteien bei den kommenden Präsidentschafts- und Regierungswahlen erfolgreich sein wird.

Die Gefahr ist allerdings gestiegen, dass eine linke progressive Mehrheit in El Salvador in weite Ferne rückt.