Für einen neuen Digitalpakt

Die gewachsene gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedeutung des Internets, seine gleichzeitige Verengung auf wenige Plattformmärkte und die Zunahme algorithmengesteuerter Entscheidungen machen eine Ordnungspolitik erforderlich, die international wirkt und Wissenschaft und Gesellschaft einbezieht. 

Auch im zurückliegenden Bundestagswahlkampf wurde die Digitalisierung als zentrales Zukunftsthema für eine Gesellschaft im Umbruch diskutiert. Eine den großen Herausforderungen angemessene aktive Gestaltung des digitalen Wandels bleibt jedoch seit Jahren auf der Strecke. Dabei durchdringt die voranschreitende Digitalisierung längst alle Lebensbereiche. Angesichts neuer Technologien und Verfahren, die im Stande sind, unsere Solidarsysteme auszuhebeln und Menschen zu diskriminieren, brauchen wir endlich eine anpackende Digitalpolitik, die Chancen nutzt und Innovationen ermöglicht, sich gleichzeitig aber an Verbraucherrechten, Bürgernutzen und dem Gemeinwohl orientiert. Werte wie Freiheit, Offenheit, Teilhabe und Selbstbestimmung müssen Richtschnur des Handelns in der digitalen Welt sein.  

Kaum ein Politikbereich entwickelt sich so rasant wie die Netz- und Digitalpolitik. Noch vor kurzem wurde das Internet als herrschaftsfreier Kommunikationsraum und Ort einer Freiheit verheißenden Lebenskultur gefeiert, heute herrscht vielfach Ernüchterung. Zentralisierende Effekte einer neuen, digitalen Plattformökonomie, an der nur teilhaben kann, wer seine persönlichen Daten als Währung preisgibt, tägliche Meldungen über Sicherheitslücken und massenhafte Angriffe auf unsere digitalen Infrastrukturen sowie die durch Edward Snowden und eine Handvoll Journalisten aufgedeckte überbordende Überwachungsarchitektur haben die Euphorie von einst in dystopische Szenarien versinken lassen. Doch Resignation ist angesichts des voranschreitenden digitalen Wandels ganzer Gesellschaften keine Alternative. Vielmehr kommt es heute mehr denn je darauf an, ihn wertegeleitet zu gestalten. 

Ein Ordnungsrahmen für das Digitale

Ob Glasfaserausbau, Netzneutralität, E-Government, Open Data, Verbraucherschutz oder staatliche Sicherheitszugriffe: Ein offener, gleichberechtigter Zugang, ein effektiver Grundrechteschutz und sichere digitale Infrastrukturen sind nicht nur aus wirtschaftspolitischer Sicht für die Innovationsfähigkeit des Netzes zentral, sie sind vor allem das Fundament einer freien, zunehmend digital vernetzten Gesellschaft, an der Menschen selbstbestimmt teilnehmen können. Ohne ihr Vertrauen wird der digitale Wandel aller Gesellschaftsbereiche nicht funktionieren. Die Wahrung von Grundrechten im Digitalen kann der oder die Einzelne jedoch zweifellos nicht allein leisten. Vielmehr bleibt der Staat in der Pflicht, private Kommunikation, persönliche Daten und digitale Infrastrukturen effektiv zu schützen. Hierauf weisen renommierte Staatsrechtler seit Jahren hin – bislang ohne Resonanz. Noch immer irrlichtert die Bundesregierung im Nebel des Neulands – und kann sich beispielsweise noch nicht einmal entscheiden, ob sie durchgehende Ende-zu-Ende-Verschlüsselungen zum Schutz privater Kommunikation politisch unterstützt oder sie lieber doch bricht.

Diese Hasenfüßigkeit einer Herangehensweise, die das Digitale beinahe ausschließlich aus wirtschaftspolitischer Perspektive betrachtet und jeden regulatorischen Eingriff scheut, rächt sich heute bitter. Doch man sollte die Flinte nicht ins Korn werfen und das Netz willfährig denjenigen überlassen, die die viel zu zaghaften Regulierungsversuche der an ihre Grenzen geratenen Nationalstaaten und die mangelnden internationalen Vorgaben ausnutzen, um mühsam erkämpfte Grund- und Verbraucherrechte auszuhebeln. Ihnen müssen wir uns entschlossen entgegenstellen. Auch dürfen wir nicht zulassen, dass das Internet zunehmend für die Unterdrückung unliebsamer Meinungen und zur Verfolgung von Oppositionellen in zahlreichen Ländern dieser Welt missbraucht wird.  

Wir müssen uns besinnen, dass die Freiheit des Internets und die Vertraulichkeit seiner Kommunikation die Garanten des rasanten digitalen Aufstiegs waren.

Dies gilt es, angesichts akuter Bedrohungen entschlossen weiter zu entwickeln. Noch ist dafür das Fenster offen, doch die Zeit drängt. An dem Ziel, einen Ordnungsrahmen für das Digitale zu entwerfen, der innovative Geschäftsmodelle auch weiterhin ermöglicht, gleichzeitig aber Grund- und Freiheitsrechte wahrt und sie sowohl national wie auch international entschlossen durchsetzt, müssen wir festhalten.

Gelingt es nicht, auch international grundlegende Übereinkünfte zu treffen, beispielsweise, was ein Verbot des Ausspähens digitaler Kommunikation und IT-Angriffe auf zivile Infrastrukturen angeht, stehen die bisherigen Errungenschaften tatsächlich offen infrage. Nicht nur Regierungen, sondern auch multinationale Unternehmen müssen begreifen, an welcher Schwelle wir derzeit stehen. Auch Google, Facebook & Co., die sich heute vielfach nicht an nationalstaatliche Vorgaben, nicht einmal an unsere Verfassung gebunden fühlen und stattdessen lapidar auf selbstgesteckte, international geltende Gemeinschaftsstandards verweisen, müssen begreifen, dass Vertrauen die Grundlage aller Geschäfte im Digitalen ist und langfristig nur Demokratien die für gute Geschäfte notwendige Rechtssicherheit garantieren. Die von grüner Seite vorangetriebene EU-Datenschutzgrundverordnung zeigt, dass eine notwendige Regulierung, die gleichzeitig Innovationen ermöglicht und Unternehmen einen einheitlichen Rechtsrahmen bietet, durchaus umsetzbar ist.

Derzeit stehen wir vor allem vor zwei großen regulativen, sich direkt aus dem Wandel der Netzarchitektur ergebenden Herausforderungen, auf die wir schnellstmöglich Antworten finden müssen. Zum einen die Verengung des Internets auf einzelne Plattformmärkte und zum anderen die Zunahme automatisierter, durch Algorithmen vorgegebener Entscheidungen. Für beide Phänomene ist zentral, bestehende Regulierungsmechanismen wie das Wettbewerbs- und Kartellrecht an neue digitale Realitäten anzupassen. Zudem müssen wir auch neue Regulierungsinstrumente in den Blick nehmen und uns beispielsweise fragen, ob wir die Hersteller von Hard- und Software nicht sehr viel stärker in Verantwortung und Haftung nehmen sollten.  

Merkels «Digitale Agenda» greift zu kurz 

Der Einsatz von künstlicher Intelligenz, Robotik und automatisierten Entscheidungsprozessen ist heute bereits vielfach Realität. Menschen werden in zunehmend mehr Lebenssituationen von automatisierten Systemen (algorithmic decision making) beobachtet und bewertet. Diese Verfahren haben das Potenzial, bestehende gesellschaftliche Solidarsysteme, wie etwa die Krankenversicherungssysteme, auszuhebeln und sich so auch auf die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen negativ auszuwirken. Deshalb müssen diese neuen digitalen Technologien zwingend nach ethischen Kriterien gestaltet werden. Die Liste unbearbeiteter, digitalpolitischer Großbaustellen ist lang, die Ratlosigkeit, mit der sich die zurückliegenden Bundesregierungen dem Thema genähert haben, groß. Die bisherige «Digitale Agenda» der Regierung Merkel greift viel zu kurz. Ethische Fragestellungen thematisiert sie so gut wie gar nicht. Gerade die ethische Dimension algorithmischer Entscheidungen und das komplexe Thema der Überprüfbarkeit von Algorithmen müssen intensiver auch gesamtgesellschaftlich diskutiert werden. Eine kommende Bundesregierung ist gut beraten, einen breiten Stakeholder-Prozess in Gang zu setzen, um Antworten auf diese zentralen Fragen zu finden. Sie würde dafür in Politik, Wissenschaft und in der digitalen Bürgerrechtsbewegung Verbündete finden – vorausgesetzt, ihr mangelt es nicht wie bisher an Gestaltungswillen.

Um Dinge auch tatsächlich umsetzen zu können, müssen wir die Kompetenzen in der Netz- und Digitalpolitik auf Bundesebene bündeln.

Ob es nun zukünftig ein eigenes, allein federführendes Ministerium oder, wie von der Enquete-Kommission «Internet und digitale Gesellschaft» des Bundestags interfraktionell vorgeschlagen, eine Person am Kabinettstisch mit koordinierender Funktion und zusätzliche Stabsstellen in allen Häusern gibt, ist letztlich nicht entscheidend. Vielmehr ist es essenziell, das Denken in klassischen Kategorien der bisherigen Ressortzuschnitte zu überwinden. Die disruptiven Kräfte der Digitalisierung nötigen uns ein organisatorisches Neudenken ab. Die Zusammenarbeit der Ministerien, die Einbindung der Zivilgesellschaft, die Ermöglichung von Experimentierräumen, auch und vor allem in der Verwaltung, die internationale Beratung und Koordination regulativer Vorgaben, die Orientierung an grundlegenden demokratischen und ethischen Prinzipien – all das muss zwingend mitgedacht werden. Die Bundesrepublik könnte und sollte in diesem Prozess eine Führungsrolle einnehmen. Die Voraussetzungen hierfür sind gut: Wir bringen nicht nur das politische Gewicht, sondern auch jede Menge Know-how mit.

Gelingt es uns nicht, mühsam erkämpfte Standards auch im Digitalen zu verteidigen, werden wir sie sehr schnell auch andernorts verlieren. Die Zeit drängt. Packen wir es an!  


Konstantin von Notz ist stellvertretender Vorsitzender und netzpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion von Bündnis90/Die Grünen.

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