Die Grünen zwischen Nische und Mitte

Angela Merkel erweist sich als eherne Kanzlerin und Martin Schulz nicht als Selbstläufer, die FDP kehrt zurück und die "Linke" verharrt im Abseits. Die Grünen gewinnen, wenn sie den von ihnen propagierten Wandel präzisieren und in ein Konzept von Sicherheit einbetten.

Schatten von Winfried Kretschmann
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Im Moment scheinen die Grünen Winfried Kretschmann zu verstecken, dabei brauchen sie ihn für einen Erfolg bei den Bundestagswahlen 2017

Ein Beitrag aus unserem Magazin Böll.Thema "Deutschland vor der Wahl".

Die ungeheure Verdichtung von Ereignissen innerhalb dieser Legislaturperiode hat die politischen Koordinaten des Parteienwettbewerbs einschneidend verändert. Am prägnantesten manifestiert sich diese Veränderung im Aufstieg der AfD zu einem ernst zu nehmenden Mitbewerber bei der Bundestagswahl, wenngleich sie – wie die Wahlen in Schleswig-Holstein und NRW gezeigt haben – ihren Zenit möglicherweise schon überschritten hat.

Schaut man auf die anderen Parteien, sind die Aussichten gemischt. Die Unionsparteien, die ihre internen Konflikte beigelegt haben, sind nach den drei Landtagswahlen zum Auftakt des Wahljahres mittlerweile wieder voll im Aufwind, während bei der SPD die Schulz-Euphorie nach drei Wahlniederlagen in Folge erst einmal verflogen ist. Grüne und Linke schlagen sich derweil mit niedrigen Umfragewerten herum, wohingegen die FDP vor einem möglichen Comeback steht. Der Ausgang der Wahl ist also völlig offen.

Die Themen des Bundestagswahlkampfes werden u. a. durch die Ereignisse vorgegeben, die die ablaufende Legislaturperiode bestimmt haben: die Flüchtlingszuwanderung, islamistische Terroranschläge, der Brexit, Donald Trumps Wahl zum amerikanischen Präsidenten und die Entwicklungen in der Türkei.

Die Flüchtlingszuwanderung kann sich im Sommer durch die Boote, die täglich über das libysche Meer nach Italien kommen, oder durch Drohungen Ankaras, den Flüchtlingspakt aufzukündigen, wieder krisenhaft verstärken. Unberechenbar bleibt auch die Terrorgefahr, die jederzeit die politische Stimmungslage in Deutschland und Europa beeinflussen kann.

Mindestens ebenso unberechenbar ist Donald Trump, der immer für eine unliebsame Überraschung gut ist. Hinzu kommt der populistische Virus, der überall in Europa in die Parteiensysteme eindringt. Daran ändert auch das Scheitern von Geert Wilders und von Marine Le Pen nichts.

Die einzige stabilisierende Konstante ist die ökonomische Lage in der Bundesrepublik, die durch ein relativ robustes, vom Export getriebenes Wachstum, niedrige Inflationsraten, einen stabilen, wenngleich zerklüftenden Arbeitsmarkt und sprudelnde Steuereinnahmen gekennzeichnet ist.

Sicherheit als Schlüsselbegriff

Wegen all dieser Ungewissheiten wird die entscheidende Frage des Wahlkampfes sein, wer die überzeugenderen Antworten auf die mit dem Begriff Sicherheit verbundenen Probleme geben wird. Als Klammerbegriff umfasst er vor allem zwei Dimensionen: innere und soziale Sicherheit. Nur wer in beiden Dimensionen zufriedenstellende Antworten liefert, hat die besseren Chancen, die Wahl zu gewinnen.

Es zeichnet sich bereits ab, dass die Unionsparteien vor allem auf das Thema «Innere Sicherheit» setzen werden. Nicht nur ihre Tonlage ist schärfer geworden, sondern die von ihnen vorgeschlagenen Gesetzespakete machen auch deutlich, dass sie der AfD dieses Feld nicht überlassen wollen. Inzwischen übernimmt die Union sogar ungeniert Positionen von der AfD, und nicht zuletzt der Vorstoß von de Maizière zur Leitkultur zielt darauf ab, dieser Konkurrenz zu machen.

Die SPD wiederum hat mit Martin Schulz den anderen Pol des Sicherheitsbegriffs besetzt und bietet sich den Wählern als Schutzmacht der «hart arbeitenden Menschen» an. Dazu hat Schulz weitreichende Korrekturen der Agenda 2010 angekündigt sowie die Rentenpolitik als Wahlkampfthema entdeckt.

Allerdings haben seine Ankündigungen bei den letzten Landtagswahlen keinen Schub gebracht. Angesichts der guten ökonomischen Lage ist ein Wahlkampf, der vorrangig und abstrakt auf soziale Gerechtigkeit setzt, riskant. Ohne die Verbindung mit wirtschaftlicher Kompetenz, glaubwürdigen Positionen in der Inneren Sicherheit und europapolitischen Initiativen, die sich von dem Kurs der Unionsparteien abgrenzen, wird es Martin Schulz schwer haben, bis zur Bundestagswahl auf Augenhöhe mit der Kanzlerin zu bleiben.

Dabei bietet der Sieg von Emmanuel Macron der SPD mögliche Anknüpfungspunkte für eine europapolitische Offensive, z. B. in Bezug auf die von Macron geforderten Investitionen Deutschlands in seine und die europäische Infrastruktur. Gerade auf diesem Gebiet könnte der erfahrene Europapolitiker Schulz seine Stärken ausspielen.

An Eurobonds sollte man sich dagegen nicht die Finger verbrennen. Schulz muss sich also etwas einfallen lassen, um die Differenzen zur Politik der Kanzlerin deutlicher herausstellen zu können. Die Angriffspunkte müssen aber gut gewählt sein, denn Merkel genießt als zuverlässige Krisenkanzlerin bei vielen Bürgerinnen und Bürgern immer noch Vertrauen.

Eine Achillesferse des Wahlkampfes der SPD bleibt die Koalitionsperspektive. Rot-Rot-Grün stößt in den Westländern, wo es die Linke, abgesehen vom Saarland, kaum in die Landtage schafft, auf wenig Gegenliebe und liefert den Unionsparteien Munition für einen Lagerwahlkampf. Aber auch die vage Aussicht auf eine Ampelkoalition mobilisiert nicht gerade die SPD- und Grünen-Wähler. Dennoch ist das Rennen noch nicht gelaufen, auch wenn die CDU nach den drei Landtagswahlen unbestreitbare Vorteile genießt.

Die unvorteilhafte Ausgangslage der Grünen

Für die Grünen sind die Konstellationen zur Bundestagswahl alles andere als günstig. Nur das Wahlergebnis in Schleswig-Holstein gibt Anlass zur Hoffnung, während die Verluste bei der «kleinen Bundestagswahl» in NRW an den Negativtrend anknüpfen, der sich – von einer Ausnahme abgesehen – seit der verpatzten Bundestagswahl durch viele Landtagswahl­ergebnisse der Grünen zieht.

Sieht man vom herausragenden Wahlergebnis in Baden-Württemberg ab, haben die Grünen fast überall deutlich verloren und nur in wenigen Fällen bescheidene Zugewinne erzielt. In Mecklenburg-Vorpommern und im Saarland reichte es nicht einmal mehr für den Einzug in die Landtage.

Überdeckt wurde der Negativtrend durch die hohe Zahl an Regierungsbeteiligungen auf Landesebene. Das hat sie zwar im Laufe der Legislaturperiode zu einem Machtfaktor im Bundesrat gemacht, aber dadurch sind die Widersprüche zwischen dem oft zum Pragmatismus neigenden Regierungshandeln auf Landesebene und der Oppositionshaltung auf Bundesebene umso deutlicher geworden.

Auch die als Initialzündung und Mobilisierung gedachte Urwahl der beiden Spitzenkandidaten ist weitgehend verpufft. Die Wahl von zwei Politikern des realpolitischen Lagers, die in den Medien bereits als Signal für Schwarz-Grün interpretiert wurde, geschah ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, zu dem Schwarz-Grün als vermeintliche Koalitionsoption in weite Ferne gerückt war.

Die Frage ist, wie die Grünen, wenn sie die Koalitionsfrage dieses Mal wie angekündigt offen halten, rot-grüne Wähler für sich mobilisieren können, denn bei einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Merkel und Schulz werden rot-grüne Wähler voraussichtlich zu Lasten der Grünen für die SPD optieren. Bisher haben die Grünen auf diese Herausforderung keine Antwort gefunden. Sie sitzen koalitionspolitisch in der Falle, weil in ihrer Wählerschaft bevorzugte Koalitionen rechnerisch nicht möglich und mögliche Koalitionen nicht attraktiv sind.

Die Grünen ohne Führungszentrum

Wie konnte es dazu kommen, dass die Grünen – ausgenommen Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein – in den meisten Bundesländern und im Bund nach der Bundestagswahl 2013 nicht mehr in die Spur gefunden haben? Die gegenwärtige Schwäche fing mit der strategischen Fehlentscheidung an, die Bildung einer schwarz-grünen Koalition nach der letzten Bundestagswahl zu verweigern.

Die Grünen haben sich dadurch bundespolitisch in eine Randlage manövriert und die Möglichkeit verbaut, ihr wichtigstes ökologisches Projekt, die Energiewende, an verantwortlicher Stelle zu gestalten. Dafür hätte man durchaus den einen oder anderen schmerzhaften Kompromiss mit den Unionsparteien im Koalitionsvertrag eingehen können.

Im Zusammenspiel mit den vielfältigen Regierungsbeteiligungen auf Landesebene hätte dies die Grünen in eine zentrale Position bei vielen Entscheidungen gebracht, die im Laufe der Legislaturperiode anstanden. Hinzu kommt, dass es nach der Bundestagswahl nicht gelungen ist, auf Bundesebene ein neues strategisches Zentrum in der Partei zu etablieren.

Die Parteilinke um Jürgen Trittin war nach dem schlechten Wahlergebnis angeschlagen, die Realos waren zum Teil gespalten. Das führte dazu, dass sich die Koordination grüner Politik von der Bundesebene auf die Länder verlagerte, insbesondere auf Baden-Württemberg. Die Kamingespräche in der dortigen Berliner Landesvertretung unter Beteiligung aller maßgeblichen grünen Akteure entwickelten sich zum eigentlichen Machtzentrum – eine Entwicklung, die insbesondere bei der Parteilinken zunehmend auf Misstrauen und Widerstand stieß.

Aus dieser Konstellation gingen Konflikte hervor, die dann u. a. auf dem Parteitag in Münster Ende 2016 im Streit um die Vermögenssteuer eskalierten. Trittin ließ sich die Gelegenheit nicht nehmen, Winfried Kretschmann zu zeigen, wer auf Parteitagen Herr im Hause ist. Statt die Kräfte zu bündeln, belauerten sich die verschiedenen Flügel, um zu verhindern, dass eine Richtung zu stark wird.

Auch die beiden aus der Urwahl hervorgegangenen Spitzenkandidaten haben dieses Dilemma nicht lösen können, weil ihnen die Autorität zur Führung der Partei fehlt. Des Weiteren haben die Grünen in Fragen der Flüchtlingspolitik und der inneren Sicherheit, beides Themen, die die politische Agenda in den letzten beiden Jahren bestimmt haben, widersprüchliche und wenig überzeugende Positionen entwickelt, die oft noch von alten grünen Identitätspolitiken bestimmt waren.

Symptomatisch waren die verhängnisvollen Aussagen von Simone Peter Anfang 2017 zum Silvestereinsatz der Kölner Polizei. Man hat den Eindruck, dass die Grünen noch zu sehr in alten Stereotypen verharren. Das betrifft z. B. auch die Haltung zum Freihandel oder zum Aufbau einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft, beides Themen, die durch Trumps Ankündigungen eine neue Perspektive erfordern.

Nicht einmal in Bezug auf die Ökologie gelingt es ihnen im Moment, Umweltthemen so zu präsentieren, dass sie mit gesellschaftspolitischen und zukunftsträchtigen Herausforderungen verbunden werden.

Während die Liberalen Digitalisierung als Modernisierungsthema erfolgreich in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes stellen, schaffen es die Grünen nicht, zu vermitteln, dass in der Digitalisierung möglicherweise auch ein zentraler Schlüssel für die ökologische Modernisierung der Gesellschaft liegt – obwohl Baden-Württemberg auf diesem Gebiet längst einer der Vorreiter ist.

Für eine Trendwende brauchen die Grünen Kretschmann und Habeck

Man hat den Eindruck, dass ein Teil der Grünen Angst davor hat, mehr als eine Nischenpartei zu sein. Die gegenwärtigen Umfragen zeigen, dass das ein gefährliches Spiel ist. Die Kernwählerschaft schmilzt schnell auf 5 bis 8 Prozent zusammen, wenn es der Partei nicht gelingt, sich für breitere Wählerschichten zu öffnen.

Es ist bezeichnend, dass die Grünen ihren beliebtesten und erfolgreichsten Politiker, Winfried Kretschmann, eher verstecken, als mit ihm offensiv Wahlkampf zu betreiben. Man lässt ihn in Baden-Württemberg machen, aber versucht zu verhindern, dass seine politische Linie auf Bundesebene Einfluss gewinnt.

Mit Verhinderungsstrategien erzielt man aber keine Wahlerfolge. Für diese brauchen die Grünen einen Winfried Kretschmann genauso wie einen Robert Habeck, der sich in Schleswig-Holstein bei der Landtagswahl mehr als wacker geschlagen hat.

Dieser Beitrag erschien zuerst in unserem Magazin Böll.Thema "Deutschland vor der Wahl".