„Radio Lotte“ erprobt Brechts Radiotheorie in Weimar

Ein Stadtradio, erst recht ein Bürgerradio, ist Lokaljournalismus in seiner reinsten Form: Es beschäftigt sich mit allen Themen, die sich in einer Stadt so ergeben, nutzt das komplette Potenzial der Stadt – sowohl den Aspekt, dass die Leute aus der Stadt selber das Radio machen, als auch den Effekt, dass die Menschen und Ereignisse in der Stadt zu 100 Prozent Niederschlag finden, und muss dabei eine gesunde Ausgewogenheit zwischen extrem unterschiedlichen Hör-Interessen bieten.

Von Jugendlichen bis zum Rentner/innen, von Politikverdrossenen bis zu Engagierten – unsere Hörer/innen wollen alle gleichermaßen von uns informiert werden und zwar so umfassend, dass sie keine weitere Quelle brauchen.

Unser Anspruch ist, als Radio Inklusion zu leben. Radio LOTTE sendet aus dem Niketempel, am Goetheplatz, mitten in Weimar. Der wurde 1860 für die „Lesegesellschaft“ errichtet. Ihre Vision führt Radio LOTTE fort: Wir wollen als „Bürgermedium“ Bildungsschranken überwinden, Grenzen abbauen und alle Mitglieder der Gesellschaft zusammenbringen.

Dabei geht es um einen proaktiven Austausch, es geht darum, im Sinne der Brecht'schen Radiotheorie den Sender zum Empfänger und den Empfänger zum Sender zu machen. Radio LOTTE ist nicht nur Stimme, sondern auch Ohr für seine Bürger/innen. Darüber hinaus werden die Hörer/innen zum Sender, indem sie ihre Themen einbringen. Und das nicht nur über Post an die Redaktion – auch beim Bäcker, auf dem Spielplatz und in der Stadt werden unsere Redakteurinnen und Redakteure als solche erkannt und angesprochen.

Seit seiner Gründung im Jahre 1999 ist Radio LOTTE (RLW) ein vitaler, prozessorientierter Sender, der davon lebt, dass es einerseits ein effizient arbeitendes Team gibt, welches bei Radio LOTTE verwurzelt ist und den feinen und robusten Sender organisatorisch und inhaltlich trägt. Das es darüber hinaus schafft, ein formatiertes Tagesprogramm mit eigenständigen Lokalnachrichten zu produzieren. Dazu erhält es reichhaltige und wertvolle Impulse von außen, die es immer wieder in einem feinfühligen Akt der Balance einzubinden und in den Kosmos der Radiotätigkeit zu integrieren gilt.

Zu Beginn war Radio LOTTE ein Nicht kommerzielles Lokalradio, entwickelt aus der Tradition der Freien Radios. Seit der Neufassung des Thüringer Mediengesetzes sind alle Bürgermedien im Freistaat gleichgestellt.

Die neun Thüringer Bürger- und Ausbildungssender sichern neben den öffentlich-rechtlichen Rundfunkprogrammen des MDR und den landesweiten Privatradioprogrammen als eines von drei Lokalmedien die pluralistische Berichterstattung in den Städten und Gemeinden Thüringens.

Getragen von einem Verein, Radio LOTTE Weimar e.V., wurde uns 1999 die erste Sendelizenz erteilt. Zu Beginn teilten wir uns die Frequenz und damit die Sendezeit mit Radio Funkwerk, dem Offenen Kanal aus Erfurt. Am 1. Juni 2015 dann erteilte die Thüringer Landesmedienanstalt die 24-Stunden-Lizenz. Komplett neuer Bestandteil: Ein eigenständiger zugangsoffener Bereich – unser „OKAY“-Fenster.

Die Stadt Weimar unterstützt uns vorrangig mental und ideell. Die Arbeit unserer mehr als 100 ehrenamtlicher Mitarbeiter/innen wir finanziell unterstützt, auch aus dem Kulturetat fließen uns ein paar Mittel zu.

Ein wichtiger Teil der Finanzierung stammt aus dem LOTTE-Club, einer Art Förderverein, der Freunde und Fans der Idee eines Stadtradios versammelt, die durch individuelle Spenden unsere Arbeit erleichtern.

Der Hauptteil der Finanzierung kommt von der TLM. Deren Haushalt und die Zuschüsse für die Bürgerradios sind dort sehr transparent dargestellt.

Allerdings schaffen wir die 7 Std. Programme nur auf Basis von Mindestlohn und sind dazu noch trotzdem auf ehrenamtliches Engagement angewiesen. So arbeitet die Musikredaktion, die ja für ein Radio extrem wichtig ist, komplett ehrenamtlich. Abends, nach ihrem Broterwerb, sitzen die Kolleg/innen im Dachgeschoss und gestalten Playlisten und Rezensionen, besuchen in der Freizeit Konzerte und berichten darüber.

Ebenso die Spezialsendungen im Abendbereich. Und selbst die 5-6 angestellten Mitarbeiter/innen könnten ohne ständig mehr zu leisten, unseren eigenen Anspruch nicht erfüllen.

Unabhängige Berichterstattung, qualitativ gutes und unabhängiges Bürgerradio sollte aber eigentlich ohne Selbstausbeutung und ohne ständige Sorge um Geld möglich sein.

Aber immer wieder, egal, ob für die NSU-Berichterstattung, für Außensendungen, für einen Wasserschaden in der Küche – müssen wir zusätzliche Gelder finden. Fördermittel verlangen oft einen Eigenanteil, Doppelförderung schließt sich aus, die Antragsformulare und Abrechnungen werden immer umfangreicher.

Die dafür verwendete Energie würden wir nur zu gern ins Programm investieren. Eigentlich müssten wir den Umfang unserer aktuellen Sendungen reduzieren. Aber das wiederum würde nicht nur unserem eigenen Anspruch widersprechen, auch unsere Hörer/innen würden davon enttäuscht. Wenn es, wegen Krankheit oder Urlaub, tatsächlich einmal so eng wird, dass wir weniger senden, wird das sofort bemerkt und heftig kritisiert.

Die Tagsüber-Redaktion besteht derzeit aus 2 FSJlerinnen, zwei Redakteuren, ehrenamtlichen Moderator/innen und Redakteur/innen (mal mehr, mal weniger) und einem Techniker. Zwischen 19 und 68 Jahren alt. Glücklicherweise gibt es manchmal Verstärkung durch Praktikant/innen, die müssen allerdings erst eingearbeitet werden.

In der Landtagsberichterstattung und bei größeren Projekten arbeiten wir mit den anderen Thüringer Bürgerradios zusammen. Aber auch dort funktioniert viel übers Ehrenamt. Das bedingt, dass es unglaublich schwer ist, sich zu vernetzen und alles zu koordinieren.

LOTTE ist Träger oder Kooperationspartner für zahlreiche Projekte, welche sein gesellschaftliches Engagement unterstreichen und sein Programm inhaltlich wie auch geistig wesentlich erweitern. Regelmäßig sendet RLW mit der Fahrrad-Rikscha von „draußen“. Egal, ob von Kongressen wie: „Bürgermedien – Medienbürger“ oder vom NSU-Prozess, von Musik- und Theaterfestivals, wir können schnell und unkompliziert dort hinkommen, wo etwas passiert.

Durch das vielfältige Engagement und den Ideenreichtum von Radio LOTTE wird der traditionelle Radiobegriff gesprengt. Durch die Schaffung neuer Kommunikationsmöglichkeiten und Formen der demokratischen Mitbestimmung im Gemeinwesen verlässt das Bürgerradio die Ebene der Kommunikation in eine Richtung: damit vermischen sich tatsächlich die Rollen von Sender und Empfänger.

Nur gemeinsam mit einem motivierten Team –und der politischen und finanziellen Unterstützung durch die Landesmedienanstalt und die Stadt, aber auch das Gemeinwesen als Ganzes – kann man erreichen, was Radio Lotte gelingt, nämlich eine breite Basis für eine demokratische und tolerante Zivilgesellschaft zu schaffen.  

Radio Lotte entwickelt Visionen und Utopien und ist Vorbild für eine rege Diskursplattform, die die Entwicklung der demokratischen Kommunikation stets fördert und vorantreibt.

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Grit Hasselmann ist Journalistin, nach Stationen bei Radio PSR, MDR & ZDF ist sie seit drei Jahren Programmdirektorin bei Radio LOTTE und moderiert am liebsten „Ungeschnitten – Politik bei LOTTE“.

www.radiolotte.de

Mediathek: http://www.radiolotte.de/radio/

Magazin der Thüringer Landesmedienanstalt #01/2016: Bürgermedien in Thüringen.