Schreckgespenst der Sezession

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Am 9. Januar 2017 fand in Bosnien-Herzegowina die Generalprobe für einen Staatsstreich statt. Doch längst geht es den Hintermännern nicht mehr nur um einen „Feiertag“. Das Projekt der Serbenrepublik lautet: Sezession.

Schreckgespenst der Sezession 

Bosnien-Herzegowina

Die Sezession der Republika Srpska (RS) vom bosnischen Staat ist nicht mehr nur reine Rhetorik, ein Wahltrick oder eine Provokation Milorad Dodiks oder etwa ein politisches Manöver, um seine täglichen Bedürfnisse zu stillen.

Es handelt sich um ein Projekt, an dem er, Milorad Dodik, Präsident der RS, wohl nicht alleine beteiligt ist. Wer seine möglichen Sponsoren oder Beschützer, vielleicht sogar Inspirationsquellen sind, ist unschwer zu erraten. Natürlich liegen dafür keine Beweise vor, aber dafür umso mehr Argumente.

Nachdem am 9. Januar 2017 in Banja Luka ganz offiziell der „Nationalfeiertag“ gefeiert wurde, der vom bosnischen Verfassungsgericht zuvor als illegitim eingestuft worden war, behaupteten mehrere Analyst/innen und Politiker/innen, dass dem Tag der RS viel zu viel Bedeutung beigemessen würde. Sie teilen uns mit, dass es sich um Symbolik und politische Manöver handeln würde. Ich bin gegenteiliger Meinung. Die Lage ist dramatisch. Die kontinuierliche Leugnung des Staates Bosnien-Herzegowina (BiH) und die Attacken gegen ihre Organe und Institutionen sind am Siedepunkt. Dies ist die größte Krise seit Unterzeichnung des Daytoner Friedensabkommens und eine ernstzunehmende Gefahr für die Sicherheit aller.   

Seit Jahren schon arbeitet Dodik kontinuierlich an der Destruktion und der Obstruktion der gesamtstaatlichen Institutionen. Er ist die stärkste politische Figur und der größte, aber nicht der einzige Störfaktor in BiH. Er hat eine Grenze überschritten, von der es kein Zurück mehr gibt. Mit dem Referendum vom September letzten Jahres und der Parade anlässlich des 9. Januars hat er die Sphäre des Irrationalen betreten.

Der Punkt, von dem es kein Zurück mehr gibt

Es sollte betont werden, dass die pompösen Feierlichkeiten am 9. Januar kein Zwischenfall waren, sondern die Folge von etwas sind. Nicht einmal Radovan Karadžić, der wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilte Serbenführer, hat je von Sezession gesprochen, höchstens von einer inneren Teilung der ethnischen Gemeinden. Seine Ambitionen gingen bis zum – um es im aktuellem Vokabular auszudrücken – Entitäts-Status. Dodik geht einen Schritt weiter. Er arbeitet an einer Ausgliederung der RS aus dem Gesamtstaat BiH und der Gründung eines eigenen Staates. Anschließend soll die Eingliederung in Serbien, vollzogen werden, wie er einen Tag nach der Parade in Banja Luka verkündet hatte.

Die Sezession ist sein strategisches Ziel und sein Projekt in der Phase der Realisierung, die Aufrechterhaltung und Verstärkung der Spannungen sein taktisches Werkzeug.

Dodiks reelles Problem ist die allgemeine Situation in der RS, die katastrophale Wirtschaftslage, die öffentlichen Finanzen, der niedrige Lebensstandard des Großteils der Bevölkerung, die wachsende soziale Unzufriedenheit. All das ist durch politische Manipulation momentan in den Hintergrund gedrängt worden. Hinzu kommen schwerwiegende Anschuldigungen gegen Dodik wegen Korruption und Amtsmissbrauchs. Bekannte Fälle, in denen es um den Kauf einer Villa in Belgrad und den Ruin einiger Banken in der RS geht.

Es scheint, als würde er den gleichen Weg gehen wie damals Slobodan Milošević. Ob er genauso oder ähnlich enden wird, hängt von den globalen Umständen ab. 

Bewusst testet Dodik seit Monaten die Grenzen der Ausdauer und Geduld Brüssels, beziehungsweise Washingtons aus. Jedes Mal, wenn eine adäquate Reaktion ausbleibt, ermutigt ihn dies und hievt seine Selbstsicherheit und Herablassung auf die nächsthöhere Stufe. Einen Tag nach den illegitimen Feierlichkeiten sagte er, die RS würde sich im kommenden Zeitraum der Frage nach einem Austritt aus dem Abkommen der Streitkräfte BiH widmen, beziehungsweise das Prozedere für die Wiedereinführung einer eigenen RS-Armee prüfen. Womöglich ist dies das fehlende Glied dafür, dass die Generalprobe für einen Staatsstreich tatsächlich in einen klassischen Putsch münden könnte (der Austritt der RS aus dem Staat BiH). Dies wäre ein sehr abenteuerliches Unterfangen, das nicht alle überleben würden. Dodik würde es politisch nicht überleben, und nach Einschätzung einiger Militäranalysten auch die RS nicht. Für den Fall, dass es beide überleben sollten, wäre BiH als Staat das Opfer.    

Russische Interessen auf dem Balkan  

Interessant ist die Frage, worauf Dodiks Kraft basiert in seinem Verhältnis zu den in BiH akkreditierten internationalen Akteur/innen. Besonders intrigant, manchmal sogar grob, ist sein Verhalten den Repräsentanten der US-Botschaft gegenüber, insbesondere der Botschafterin. Daher ist die Vermutung logisch, dass er insgeheim von Belgrad unterstützt wird, sich aber auch der Unterstützung Russlands im Peace Implementation Council (PIC) gewiss ist.

Russland hat in den vergangenen Jahren seine Interessen und seine Präsenz auf dem Balkan deutlich gemacht. Dies wiederum ist eine Folge ihrer Bestrebungen, neben ihrer gewachsenen wirtschaftlichen Macht auch ihren Status als Weltmacht wiederzuerlangen. Das Mindeste, was Russland auf dem Balkan will und auch erwartet, ist, involviert und konsultiert zu werden bezüglich der Entscheidungen zu Schlüsselfragen, was in den letzten 20 Jahren nicht der Fall war. Dies geschieht aber nicht aus Sorge um die Serben, Serbien oder die RS, sondern vielmehr zur Steigerung ihres Ansehens und der Verbesserung ihres Status im Machtkampf mit den USA, aber auch, um die Aufmerksamkeit der USA und der Weltöffentlichkeit vom Ukraine-Problem in eine andere Richtung zu lenken. Auf globaler Ebene spielt sich gerade eine Umgestaltung und Neudefinierung der Machtverhältnisse ab.

In diesem Kontext kann man Dodik als einen Player für die globalen Interessen Russlands betrachten. Ob ihm eine kurzlebige oder längerfristige Rolle zugeteilt wird, hängt von der großen Unbekannten ab, die der neue US-Präsident mit sich bringt und den künftigen globalen Beziehungen mit Russland.  

Die gegenwärtige bosnische Frage (Krieg und Krise in BiH, beziehungsweise die fortgesetzte Nachkriegsagonie) ist eine geostrategische Frage sui generis. Einfach ausgedrückt, die bosnisch-herzegowinische Gesellschaft vor 1990 stand nicht in einem unversöhnlichen Konflikt miteinander, aber äußere Faktoren waren so stark, dass sie innere Probleme verursacht und die Gesellschaft in einen Konflikt gesteuert haben.

Außerdem war der Krieg in BiH (präziser: der Krieg gegen BiH, nicht gegen die Bosniak/innen) nur eine Fortsetzung der Kriege auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien (Slowenien, Kroatien, und erst dann BiH).

Die aktuelle Lage in BiH ist in dreierlei Hinsicht problematisch.

  1. Ihre unmittelbare Umgebung (Serbien und Kroatien), sowie die geostrategische Neuordnung auf globaler Ebene (die Beziehungen USA-Russland).
  2. Fehlende innere Konsistenz, Charakter etablierter Politiken und ein Regierungsmodell in BiH.
  3. Das vorherrschende Bewusstsein in der Gesellschaft. Das Bewusstsein der meisten Bürgerinnen und Bürger könnte mit einem Begriff aus der Soziologie, der Anomie, beschrieben werden. Das ist ein Zustand, in dem eine Person nicht glaubt, dass sich die Lage in der Gesellschaft ändern könnte, beziehungsweise er etwas tun könnte, um seine individuelle Existenz zu verbessern. Dies behindert die Potenziale der Bürgerinnen und Bürger und blockiert ihre Aktionen.

Die äußeren Faktoren, die so genannte internationale Gemeinschaft, insbesondere Serbien und Kroatien, erlauben BiH nicht, erwachsen zu werden, sich zu konsolidieren, zu stabilisieren und Prozesse für eine Rekonstruktion der Gesellschaft einzuleiten. Dieser Umstand zementiert die gegenwärtige Lage in BiH. BiH ist eine Gesellschaft, die sich nicht bewegt, sich nicht weiter entwickelt. Deshalb kommt es kontinuierlich zu Exzessen wie dem aktuellen Beispiel des „Nationalfeiertages“ der RS. Vom kausalen Aspekt betrachtet, sind es eigentlich gar keine Zwischenfälle, sondern die logische Folge des Kontexts in und um BiH.

Um es zu konkretisieren: Das Office of the High Representative (OHR) und PIC erfüllen nicht mehr die Funktionen, die ihnen bei ihrer Gründung zugedacht wurden. Wenn solche offenkundig verfassungswidrigen Handlungen, wie die Parade am 9. Januar in Banja Luka eine ist, ohne Sanktionen bleiben, dann wird dies in einer Sezession münden und jene, die den Staat BiH untergraben, nur zusätzlich bestärken.

Die Parade vom 9. Januar wäre Grund genug, um OHR oder PIC zu schließen oder aber effizientere Kontroll- und Unterstützungsmechanismen zur Erhaltung des Friedens im Rekonstruktionsprozess BiH zu fordern. Die Empfehlungen und Besorgnisbekundungen dieser Institutionen werden entweder ignoriert oder ihnen als Schwäche ausgelegt.

Es gibt ausreichend Gründe, um nicht nur an der Effizienz besagter Strukturen, sondern auch an ihren Absichten zu zweifeln. Wenn sie wollte, könnte die internationale Gemeinschaft die wichtigsten Probleme schnell und einfach lösen, genauso wie sie damals, als der Wille da war, die Kriege in BiH beendet haben. Sie könnten zum Beispiel die anti-zivilisatorische Praxis der Diskriminierung und der Segregation im Bildungssektor (zwei Schulen unter einem Dach) unterbinden.

Andererseits haben Serbien und Kroatien ihre Kriegsziele noch nicht aufgegeben. Nur versuchen sie es diesmal auf eine andere Art. Dies geschieht vor allem durch Unterstützung von politischen Akteur/innen, die die Schwäche des Gesamtstaates zum Ziel haben. Sowohl Belgrad als auch Zagreb spielen ein doppeltes Spiel. Nach außen hin unterstützen sie die Souveränität und die territoriale Integrität BiH´s, in der Praxis jedoch werfen ihre Handlungen Zweifel auf. Und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wird.

Die Merkmale der etablierten Politiken  

Natürlich liegt die Hauptverantwortung überwiegend bei den einheimischen Akteur/innen. Die etablierten Politiken in BiH und die politischen Machthaber gründen ihre politische Pragmatik auf der ideologischen Matrix der ethnischen Repräsentation und erhalten konstant Ressentiments, Spannungen, Konflikte und Ängste aufrecht. Sie fabrizieren und halten ein kontrolliertes Chaos. Eine Regierung, die nicht ein einziges vitales gesellschaftliches Problem zu lösen vermag, kann sich nur durch das Schüren von Angst der Bürger/innen und dem Produzieren von Chaos an der Macht halten. Daher ist die ideologische Matrix aus den 90er Jahren über die Unversöhnlichkeit der ethnischen Gruppen, bzw. die Notwendigkeit der Abgrenzungen voneinander immer noch so lebendig und aktiv. Die Vollkommenheit des ethnischen Prinzips und seine vollständige territoriale Anwendung stellt eine Einleitung in die Sezession dar, über die jetzt in einem Teil BiH´s als legitimem politischem Ziel gesprochen wird.

Auch im politischen Marketing sind wir Zeugen einer Matrix aus den frühen neunziger Jahren, nämlich der Vorbereitungszeit des Krieges gegen BiH. Erneut sind Bosniaken, bzw. islamische Radikale, sowie bosnisch-herzegowinische Muslime eine Bedrohung für Serben und Kroaten und auch (das christliche) Europa. Das so genannte politische Sarajevo (ein propagandistisches Syntagma und eine Finte) wird als der Hauptunruhestifter in BiH und als Sicherheitsrisiko für die Region und Europa dargestellt.

Diesem Mythos muss die Realität entgegen gestellt werden. Hypothetisch gesprochen, würden die politischen Ziele der Nationalisten in BiH und ihrer Sponsoren aus der Nachbarschaft realisiert werden, d.h. würden sich die Bosniaken in den fast hermetisch geschlossenen Raum um Sarajevo und Mittelbosnien, plus einer Enklave in der Bihac-Krajina-Region einschließen, dann wäre dies ein dramatisches Szenario mit ausgeprägtem Bedrohlichkeitsfaktor und unvorhersehbaren Konsequenzen für die Sicherheit in der Region und Europa. Eine Gettoisierung führt früher oder später zur Bildung einer geschlossenen Gesellschaft mit all den Auswirkungen, die daraus hervorgehen können.  

Eine dieser Konsequenzen ist die xenophobisch motivierte Angst vor der Außenwelt und die Angst vor der Vernichtung, was vom psychologischen Aspekt aus gesehen eine günstige Voraussetzung dafür ist, dass man offen für die Anwendung radikaler Maßnahmen wird. Gewisse Indikatoren zeigen, dass es bereits leichte Tendenzen in diese Richtung gibt, die sich im Falle der o.g. Hypothese über eine Radikalisierung intensivieren würden. Solch eine bosniakische Enklave wäre ein interessanter Spielraum für einen globalen Terrorismus. Die Wahrscheinlichkeit für das Aktivieren eventuell vorhandener Schläfer oder die Einschleusung von Tätern von außen würde wachsen.

Ein einheitliches, stabiles und multikulturelles BiH stellt gemäß ihrer besten historischen Traditionen also die Interessen aller, vor allem der Bürger/innen BiH´s dar, aber auch der Nachbarländer und Europas. Man kann sich vorstellen, was beispielsweise mit dem Tourismus in Kroatien passieren würde, sollte BiH zerstört und ein Teil von ihr Brennpunkt des Terrorismus oder Zufluchtsstätte für Terroristen werden.

Vielleicht ist es gar nicht paranoid zu fragen, ob es Kräfte oder Interessengruppen gibt, vielleicht auch Staaten, die sich negative Entwicklungen in BiH wünschen oder diese noch bekräftigen. Es ist nicht überflüssig, uns noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, dass die ersten so genannten Mudschaheddins inmitten des Krieges nach Bosnien kamen, und zwar unter schwierigsten Bedingungen, als das von der Armee BiH kontrollierte Gebiet vollkommen eingekesselt war.

Natürlich ist die führende politische Kraft der Bosniaken in BiH (die SDA) weder unschuldig noch naiv in dieser Geschichte. Auch für sie ist die Aufrechterhaltung der Spannungen von Vorteil und manchmal fachen sie sie selbst auch an.

Wie dem auch sei, die Ähnlichkeiten der politischen Parteien, die sich als die Beschützer der so genannten nationalen vitalen Interessen darstellen, sind frappierend – sowohl hinsichtlich der Ideologie als auch des politischen Pragmatismus. Die Mehrheit der politischen Machthaber wird fast ausnahmslos (und mit ausreichend Argumenten) der gesetzeswidrigen oder korrupten Taten verdächtigt. Einige von ihnen waren oder sind noch immer Gegenstand strafrechtlicher Untersuchungen. Dass sie nicht verurteilt wurden ist eher das Resultet von Unfähigkeit (Unprofessionalität und Unselbständigkeit) des Rechtssystems in BiH als ihrer Unschuld. Sicher ist jedoch die Anhäufung ihres enormen Reichtums während ihrer Amtszeit und die öffentliche Meinung über ihr korruptes Vorgehen. Der Wahrheit zuliebe sollten wir daran erinnern, dass es auch unter den Politiker/innen so genannter „bürgerlicher“ Parteien auch Verdachtsmomente gibt. Anscheinend ist es eine universelle Krankheit der bosnisch-herzegowinischen Politik. Akademisch ausgedrückt: Sie haben die Ideologie getötet und die Politik auf reinen Klientellismus reduziert.   

Ins Deutsche übersetzt von Alma Sukić, Büro Sarajevo der Heinrich-Böll-Stiftung.

Dieser Artikel erschien zuerst auf der Website unserer Büros in Sarajevo.