Kleine Volkskunde, Teil zwei: Das Völkische

Demonstration, zu der Berliner Kunst- und Kulturschaffende am 04. Novermber in die Hauptstadt eingeladen hatten
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„Wir sind das Volk!“ - am 4. November beteiligten sich hunderttausende Menschen an einer Demonstration in Berlin, zu der Berliner Kunst- und Kulturschaffende eingeladen hatten

Woher kommt der Begriff „völkisch“? Was impliziert er? Und welche Folgen haben völkische Zugehörigkeit und Identität? Die Kolumne von Jochen Schimmang.

Lang, lang ist‘s her, dass der erste Teil dieser kleinen Volkskunde erschienen ist. Damals, im Februar 2015, ließen sich die Dinge noch einigermaßen gelassen betrachten. Bei der sogenannten Sonntagsfrage etwa lag die Zustimmung zur AfD um die 6 Prozent. Die Umzüge von Pegida hatten ihren Zenit überschritten und erschienen eher als ein regionalfolkloristisches Problem im äußersten Osten der Republik. Entsprechend durfte der Autor beruhigend feststellen, dass das „atmosphärische 30er-Jahre-Revival keineswegs auf Deutschland beschränkt ist und anderswo viel bedrohlichere Formen annimmt“. Der Autor versprach, seine Volkskunde „vielleicht ein andermal“ fortzusetzen und dabei auch „vom Völkischen“ zu sprechen.

Höchste Zeit, das zu tun, weil das völkische Denken – und Handeln – keine Angelegenheit rechtsextremer Reservate mehr ist, sondern spätestens in dem Augenblick im politischen Diskurs angekommen war, als Frauke Petry im Interview mit der Welt am Sonntag in aller Unschuld darum bat, den Begriff „völkisch“ positiv zu besetzen, er sei doch nur das Adjektiv zum Volk. Zwar ist das Wort in der Tat vom Volk abgeleitet und taucht auch bereits im Grimm‘schen Wörterbuch auf, wurde aber im Alltagsgebrauch so gut wie nie verwendet, dagegen von einem deutschen Philosophen. Johann Gottlieb Fichte nämlich verwendete das Wort schon explizit als Synonym für „deutsch“. Und kurz nach der Reichsgründung schlug der Linguist und deutsche Sprachpurist Hermann von Pfister das Wort als Ersatz für das lateinische (!) „national“ vor.

„Völkisch“ war von Anfang an ein ethnisch gefärbter Kampfbegriff, der der Ausgrenzung und Abwertung anderer Ethnien diente, und als solcher wurde er im Kaiserreich und in der Weimarer Republik von den Alldeutschen und anderen nationalistischen Gruppen auch verwendet. Dass die Parteizeitung der NSDAP seit 1920 dementsprechend Völkischer Beobachter hieß, ist nur konsequent. In der Verwendung des Adjektivs als Kampfbegriff gab es von 1871 bis 1945 Kontinuität.

Das weiß Frau Petry natürlich auch, gibt sich aber gern ahnungslos. Und wenn sie es tatsächlich nicht weiß, kann sie ihr völkischer Parteigenosse Björn Höcke, Lautsprecher des entsprechenden Flügels in der AfD, gern darüber aufklären. Dieser Flügel ist in der Partei schließlich keine Randerscheinung mehr, sondern unaufhaltsam auf dem Vormarsch, nicht zuletzt deshalb, weil die graue Eminenz der Partei, Herr Gauland, seine schützende Hand darüber hält.

Wir - und die anderen

Erinnern wir uns noch einmal des Rufs „Wir sind das Volk!“ von 1989, während der sogenannten friedlichen Revolution. (Ich darf hier in Parenthese vielleicht die Minderheitenmeinung vertreten, dass die DDR ihr Ende nicht so sehr wegen dieser friedlichen Revolution gefunden hat, sondern wegen der schlichten Tatsache, dass sie seit Jahren pleite war: ein „failed state“ also.) Die Betonung bei diesem Slogan liegt selbstverständlich auf dem „Wir“ und schließt andere aus, von denen man sich abgrenzen will. Damals war es die Führung der DDR, heute sind es die sogenannten Eliten. Das Volk, das nicht mehr die Bevölkerung ist, ist immer identitär und das heißt: exklusiv. Es konstituiert sich als Volk überhaupt erst durch die Konstruktion eines Feindbilds. Wer nicht zu ihm gehört, ist tendenziell schon immer ein „Volksverräter“.

Volksverräterinnen und -verräter gibt es noch gar nicht so lange, denn der Volksverrat als Straftatbestand wurde erst von den Nazis erfunden. Vorher gab es nur den Landesverrat – auch das ist ein sehr ambivalenter Begriff, doch das ist ein anderes Thema.

Die Attraktivität des Völkischen liegt daher in einer „Ihr-und-Wir“-Konstellation. Wir sind das Volk, Ihr seid es nicht, ist die vollständige Fassung des berühmten Slogans. Mit den anderen zusammen einen gemeinsamen Feind oder gemeinsame Feinde zu haben – Menschen, die nicht dazugehören – garantiert zugleich, dass man selbst dazu gehört.

Nun ist Zugehörigkeit etwas, nach dem sich in irgendeiner Form die meisten Menschen sehnen. Sie kann vielerlei Gestalt annehmen. Man kann regional und sozial verankert sein, man kann mit anderen einen bestimmten Lebensstil pflegen oder auch nur Mitglied im Fanclub eines bestimmten Bundesligavereins sein, man kann sich in urbanen alternativen Milieus verschanzen: alles Umstände, die ein gewisses Minimum an der zum Leben notwendigen Wärme schaffen.

Auch diese Formen der Zugehörigkeit, so harmlos sie sein mögen, schließen notwendig andere aus. Die Konstruktion von Identität richtet sich immer gegen andere. Die Frankfurter Schule – zur Erinnerung: eine einstmals sehr einflussreiche philosophische Fraktion in den Nachkriegsjahrzehnten der Bundesrepublik – wusste das, mehrheitlich aus persönlicher leidvoller Erfahrung. Deshalb verteidigte Adorno das Nichtidentische gegen den Identitätszwang.

Neue völkische Bewegungen in Deutschland

Die Völkischen ihrerseits verteidigen sich gegen das Nichtidentische, gegen „Multikulti“ und „Umvolkung“. Letzteres ein Begriff, der nun wirklich direkt aus der nationalsozialistischen Volkstumspolitik-Kiste stammt und in dessen Umfeld auch Begriffe wie „Volksdeutsche“ und „Passdeutsche“ gehören. Völkische Zugehörigkeit und Identität, dass wissen wir aus der Geschichte, ist nur um einen hohen Preis zu haben. Der wird bestimmt einerseits durch die aggressive Bereitschaft zur Ausgrenzung und in letzter Konsequenz zur Vernichtung des Anderen. Andererseits schließt er auch die Bereitschaft zur totalen Selbstaufgabe ein. Der Volksbegriff der Nazis kulminierte schließlich in der Parole: „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“ Die Folgen sind bekannt. 

Vielleicht ist es noch nicht so ganz klargeworden, dass es in unserem Land wieder eine völkische Bewegung gibt, die sich inzwischen vielfache Organisationsformen geschaffen hat. Etwa die sogenannten völkischen Siedler in Mecklenburg, in Sachsen-Anhalt, in Thüringen, Hessen, Bayern, in der Lüneburger Heide und im Wendland. „Die netten Öko-Nazis von nebenan“, wie es in einem Artikel der Hamburger Morgenpost über das Dorf Wibberse im Wendland hieß. Es ging um Siedler, die Großfamilien gründen und Landwirtschaft betreiben, ökologisch bewusst, versteht sich, denn es gilt auch, „Widerstand zu leisten gegen die beabsichtigte Vergiftung der Lebensräume unseres Volkes“.

Im vergangenen Jahr habe ich mit meiner Frau Urlaub in dieser Region gemacht, am Rande des Wendlands, und unsere Freunde erzählten uns von einem kleinen Mädchen aus der entfernteren Verwandtschaft, das jahrelang bei einer dieser netten Familien zu Besuch war, bis es eines Tages nach Hause kam und fragte: „Mama, wer war eigentlich Herr Hitler?“ Eine berechtigte Frage der Kleinen, denn Herr Hitler hing da als Bild an der Wand, und von ihm war viel die Rede. Damit hörten die Besuche natürlich sofort auf.

Die Völkischen besetzen Räume, buchstäblich und im übertragenen Sinn. Man darf sie ihnen nicht kampflos überlassen. Denn hier geht es unter anderem auch – um einen berühmten Begriff zu gebrauchen – um kulturelle Hegemonie. Aber das ist ein Extrakapitel.