Habitat III: Co-producing Sustainable Cities?

Die Konferenz „Co-producing sustainable cities?“ thematisierte Bedingungen für eine nachhaltige Stadtentwicklung. Dabei richtete sie den Blick gezielt auf die Beziehung von Zivilgesellschaft und Stadtregierung.

Skyline von Shenzhen
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Die chinesische Stadt Shenzhen ist eine der am schnellsten wachsenden Städte der Welt

Die New Urban Agenda (NUA), die als Leitbild für eine nachhaltige Stadtentwicklung dienen und Antworten auf die enormen Herausforderungen der globalen Urbanisierung geben soll, ist nach langen Verhandlungen Anfang September in New York zu Papier gebracht worden. Doch die NUA weckt nicht nur Hoffnungen – sie schürt Kontroversen und lässt wichtige Fragen offen: Werden bei dem internationalen Abkommen tatsächlich implementierbare Verpflichtungen zur Bekämpfung der Armut und des Klimawandels formuliert? Wie steht es um das „Recht auf angemessenen Wohnraum für alle“ sowie weitere Grundrechte als Basis für ein menschenwürdiges Leben in den Städten der Zukunft?

Im Vorfeld der Habitat-Konferenz diskutierten Stadtplaner/innen, Kommunalpolitiker/innen, Aktivist/innen und Expert/innen auf der Konferenz „Co-producing sustainable cities?“ in der Heinrich-Böll-Stiftung (15./16. September 2016) über die Rolle von Lokalregierungen und Zivilgesellschaft in Städten. Der besondere Titel für die Konferenz richtete deshalb den Blick gezielt ins Mark des komplexen Themenstoffs: die vielschichtige Beziehung von Zivilgesellschaft und Stadtregierung und die Chancen sozialer Koproduktion für eine partizipative Beteiligungspolitik.

„Es hängt viel davon ab, mit welchem Wissen und welcher Wertorientierung Stadtregierungen, Verwaltungen, Stadtplaner/innen, Architekt/innen und Ingenieur/innen diese Zukunftsaufgaben angehen“, macht Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung in seiner Eröffnungsrede zur Konferenz deutlich. Gleiches gelte für die Beteiligung der städtischen Zivilgesellschaft bei Planungs- und Entscheidungsprozessen. „Dafür müssen Formen demokratischer Partizipation etabliert werden“ so Fücks, „die über die Wahl der kommunalen Parlamente und der Bürgermeister/innen hinausgehen. Wir dürfen die Stadtentwicklung nicht dem Zusammenspiel von Bürokratie und Investoren überlassen.“

Doch was steckt hinter dem Begriff „Co-producing“ und wie ist die Stadt in diesem Kontext zu verstehen?

Auftakt-Runde: New  Urban Agenda: Co-producing sustainable cities?

Philipp Misselwitz, Professor für internationalen Urbanismus und Design an der Technischen Universität Berlin, begreift Städte nicht nur als urbane Konzentrationen von Problemen, die gelöst werden müssen. Er sieht sie als „Drehscheiben von Koexistenz und Katalysatoren für die Vermittlung von Verschiedenheit und Vielfalt“. Genau diese Eigenschaft, geprägt von komplexen Verknüpfungen zwischen einer Vielzahl von Akteur/innen, macht auch ihr enormes Potenzial offensichtlich. Deshalb sind Städte – anders als Regierungen, Länder oder Regionen – schon per se „co-produced“.

Anders als bei einer Zusammenarbeit (collaboration) ist die Relation zwischen Zivilgesellschaft und Staat von der Wechselwirkung zwischen Konflikten und Partnerschaft geprägt. Und auch wenn diese nicht grundsätzlich harmonisch ist, können so doch Prozesse entstehen, in denen Raum für Demokratie und Gleichberechtigung entstehen kann.

Bis 2030 werden 1 bis 2 Milliarden neue Stadtbewohner/innen das Bild urbaner Zentren dramatisch verändern. Viele ziehen in die Städte, weil sie in den ländlichen Gebieten keine Perspektive mehr finden. Wenn sie dann in informellen Siedlungen Fuß fassen, können sie kaum auf eine funktionierende Infrastruktur hoffen und sie müssen befürchten, dass ihre einfachen Behausungen wirtschaftlichen Interessen wie Bauprojekten oder Großevents Platz machen müssen. Eine nachhaltige und soziale urbane Transformation kann deshalb nur erreicht werden, wenn sie „auch die arme Bevölkerung integriert und alle Stadtbewohner eine reelle Chance auf ein lebenswertes Zuhause in der Stadt bekommen“, erklärt Misselwitz.

Kein Recht auf Wohnraum – auf dem Land und in der Stadt

Doch diese Chancen bleiben Millionen Menschen – im globalen Norden wie Süden – verwehrt. Dies mobilisiert zivilgesellschaftliche Organisationen, die mit ihren Protestbewegungen zu einem Korrektiv für Fehlstellungen der Politik und fragwürdigen Priorisierungen von Regierungen werden. Doch die NUA definiert die Rolle für zivilgesellschaftliche Akteure nicht genau genug. Und so bleibt offen, ob die Lippenbekenntnisse für nachhaltiges Leben und Bürgerbeteiligung das Versagen von Regierungen verdecken und die Verantwortung für soziale Konzepte auf die Zivilgesellschaft übertragen will oder ob das Abkommen der Zivilgesellschaft ein reales Mitspracherecht zugestehen wird.

Welche Erwartungen kann man an eine Urbanisierungsstrategie der Vereinten Nationen überhaupt knüpfen, wenn diese aus einem weit gefassten Kompromiss entsteht? Unbestritten ist, dass die NUA einen transformativen Wandel fordert, um dem Klimawandel und wachsendem Ressourcenverbrauch zu begegnen: „Aber sie wird sicher keine Revolutionen einleiten“, macht Günter Meinert, Leiter des Sektorvorhabens Stadtentwicklung bei der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ), klar. Seine Beobachtungen der Verhandlungen lassen ihn zu dem Schluss kommen, „dass ein Konsens schwierig ist, weil Städte aus dem Norden und Süden mit völlig unterschiedlichen Ausgangspositionen an dem internationalen Vertragswerk gearbeitet haben“. Hinzu komme, dass dabei nicht erfahrene Stadtentwickler/innen und Architekt/innen federführend beteiligt waren, sondern vor allem Diplomat/innen und deren Berater/innen.

Immerhin wurden erstmalig auch zivilgesellschaftliche Organisationen und neue Netzwerke in die vielen Nebenkonferenzen, Expertentreffen und weitere Beteiligungsformate einbezogen – eine Neuerung innerhalb der Habitat lll-Prozesse, die es so während einer UN-Konferenz nicht gegeben hat und die ein positives Signal senden will. „Letztlich müssen aber Nationalregierungen politische Entscheidungen treffen, um einen Wandel in den Städten herbeizuführen“, erklärt Meinert.

Keine Debatte über die Ursache – das wirtschaftliche, neoliberale Leitbild

Und die Zeit drängt: 900 Millionen Menschen leben heute in Slums und liefern einen traurigen Beweis dafür, dass es noch nicht gelungen ist, menschenwürdige Bedingungen für alle Stadtbewohner/innen zu schaffen. Und es werden noch mehr Menschen von den Folgen der Urbanisierung betroffen sein. „Die Zuwanderung in die Städte nimmt zu – wir müssen deshalb verstehen, worin die Gründe dafür liegen“, mahnt Shivani Chaudhry, Menschenrechtlerin und Geschäftsführerin des Housing and Lands Right Network (HLRN) in Neu-Delhi.

So wie in Indien, wo 69 Prozent der Bevölkerung (840 Millionen) auf dem Land leben, sieht es weltweit in vielen weiteren Ländern aus: Menschen müssen in Städte ziehen, weil ihnen die Grundlage für ihre Existenz genommen wird – der Zugang auf Land. Aber wollen die Menschen auch wirklich umsiedeln? „Wäre der erste Schritt für die Lösung der Probleme in den Städten nicht eher eine soziale Agrarreform für die ländlichen Gebiete, damit Millionen Menschen in ihrer ursprünglichen Heimat bleiben können?“, fragt Chaudhry.

Das Abkommen vergebe die Chance, einen ganzheitlichen Ansatz zu suchen und eine nachhaltige Entwicklung in allen Regionen herbeizuführen, kritisiert die Menschenrechtsaktivistin. Mehr noch: Es scheint auch nicht gewollt, dass das Recht auf angemessenen Wohnraum als menschliches Grundrecht definiert, sondern lediglich als wirtschaftliche Größe bzw. Produktionseinheit aufgefasst wird. „Hinzu kommt, dass niemand über das wirtschaftliche, neoliberale Leitbild sprechen will, dass uns letztlich in diese Situation gebracht hat – mit all den Ungerechtigkeiten, mit denen wir es heute zu tun haben“, resümiert Chaudhry verbittert.

Doch dies ist nicht das einzige Defizit, das sie und viele andere Aktivist/innen in dem Abkommen identifiziert haben. Der NUA mangelt es vor allem an klar gesetzten Zielen und messbaren Kriterien, die als Indikatoren für eine Verbesserung dienen könnten. Erst kürzlich haben Urbanisierungsexperten darauf hingewiesen, dass die NUA auch nicht über eine Finanzierungsstrategie auf kommunaler Ebene verfüge. „Indigene Völker oder LGBTI-Personen, werden in dem Vertrag ebenso wenig thematisiert, wie die Entschädigungen für Vertriebene“, bemängelt Chaudhry und fordert, dass „Menschenrechte unbedingt in der NUA verankert werden müssen“.

Schwindende Handlungsspielräume für die globale Zivilgesellschaft

Dies scheint umso wichtiger, da Menschenrechtsorganisationen und die Zivilgesellschaft allgemein weltweit immer weiter unter Druck geraten. Dies gilt nicht nur für repressive Staaten – auch in Industrieländern werden die Handlungsspielräume für zivilgesellschaftliche Organisationen immer kleiner (shrinking spaces). Poonam Joshi, Direktorin des Europa-Büros beim Fund for Global Human Rights UK in London, befasst sich seit vielen Jahren mit den Manifestationen von Menschenrechtsverletzungen. Die Gründerin der Initiative Activism under threat betont, dass sich die Bedeutung der Zivilgesellschaft im Entwurf der NUA zwar deutlich niederschlage, nachhaltige Konzepte jedoch nur dann realisierbar werden, wenn lokale Regierungen auch rechtliche Grundlagen für zivilgesellschaftliches Wirken schaffen.

Die rapide Zunahme von gesetzlichen Einschränkungen, Kriminalisierungen und Angriffen auf Menschenrechtsaktivist/innen spricht jedoch eine andere Sprache. Laut dem Civil Society Watch Report CIVICUS-Report wird das Recht auf Versammlung, Vereinigung und Meinungsäußerung derzeit in 96 Ländern verletzt. Aktivist/innen werden isoliert und als politische Agenten oder Bedrohung gelabelt. Dies wirft die Frage auf, ob die ehrgeizigen Zielsetzungen der Sustainable Development Goals oder Leitbilder der NUA wirklich umgesetzt werden können, ohne dass Regierungen zur Verantwortung gezogen werden.

„Es liegt an den Verwaltungen, ein Umfeld zu schaffen, in dem zivilgesellschaftliches Engagement ausgeübt werden kann“, mahnt Joshi. „Co-production beinhaltet auch Konflikte – dies sollten Regierungen als normale und produktive Prozesse verstehen lernen.“

Von den Bürger/innen initiierte Koproduktion als Basis für eine partizipative Stadtgesellschaft

Dass die soziale Koproduktion noch weitaus radikaler gedacht werden kann, zeigen die Erfahrungen von Diana Mitlin. Die Professorin of Global Urbanism an der Universität von Manchester hat in den letzten zwanzig Jahren intensiv mit der Organisation Shack (Slum Dwellers International) sowie der Asian Coalition for Housing Rights zusammengearbeitet und neue Formen der bürgergeführten Koproduktion untersucht. Mitlin sieht in dem Modell eine essentielle Komponente inklusiver Stadtgestaltung.

„Wenn Ressourcen und Dienstleistungen in einer Stadt zwischen staatlichen Stellen und Bürgergruppen gemeinsam geplant und organisiert werden, entsteht überhaupt erst ein Zugang für arme Bevölkerungsschichten zu diesen Leistungen“, argumentiert Mitlin. „Dies eröffnet auch die Möglichkeit, Stigmatisierungen der Menschen aufgrund ihrer Herkunft aufzulösen und nachbarschaftliche Organisationen aufzubauen, mit denen sie ihre Interessen langfristig vertreten können.“

Doch weil die internationale Entwicklungsarbeit versagt, finden sich solch inklusive Modelle in den urbanen Zentren weltweit noch zu selten, sagt Mitlin. So werden beispielsweise die Millenium Goal Targets für sanitäre Infrastruktur in Subsahara-Afrika nicht einmal annähernd erreicht. Noch schlimmer – der Zugang zu Wasser konnte etwa in den letzten 25 Jahren kaum verbessert werden: Er stieg von 39 Prozent im Jahr 1990 auf lediglich 40 Prozent in 2015 an. „Und auch wenn Regierungsbehörden den Wert der von Bürger/innen initiierten Koproduktion erkennen, fehlen ihnen oft die Instrumente und Herangehensweisen, um die Bevölkerung einzubeziehen“, erklärt die Stadtplanungsexpertin. Oft wollen die lokalen Behörden den Wert der Bürgerbeteiligung aber auch nicht anerkennen, selbst wenn dies bedeutet, dass Versorgungsleistungen für alle dann wieder abnehmen.

Panel I: Recht auf Stadt und die soziale Produktion des Wohnens

Dieses erste Panel beleuchtete ein global wichtiges und umstrittenes Thema der nachhaltigen Stadtentwicklung, nämlich das Wohnen, und wie sich dort das Zusammenwirken von Stadtregierungen und Zivilgesellschaft, also die Co-produktion darstellt. Moderator Dawid Bartelt, hbs-Büroleiter in Brasilien, leitete das Panel ein mit einem Blick aus dem Süden auf den Norden: „Eure Probleme möchten wir haben.“

Giselle Tanaka, Stadtplanerin und Forschungsprofessorin am Institut für Städtebau und Landesplanung an der Universidade Federal do Rio de Janeiro (UFRJ), schloss mit ihrer Schilderung der Kämpfe von Menschen aus einer informellen Siedlung in Rio de Janeiro gegen die Zwangsräumung nahtlos an die Diskussion des Eingangspanels über die menschenrechtliche Orientierung des Themas Wohnen an. Sie hatte im Rahmen der Bürgerbewegung Plano Popular da Vila Autódromo gemeinsam mit der UFRJ und anderen Mitstreiter/innen ein Alternativmodell zur Zwangsurbanisierung der Gemeinde vor.

Denn die Siedlung Vila Autódromo im Westen Rio de Janeiros musste sich gleich zwei Mal gegen drohende Zwangsräumungen wehren: Einmal im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2014 und ein weiteres Mal, als die Olympischen Spiele in diesem Sommer ausgetragen wurden. Die informelle Siedlung, in der zumeist eine einkommensschwache Bevölkerung beheimatet ist, geriet durch seine besondere Lage ins Visier der städtischen Umsiedlungspolitik und wurde durch den Kampf ihrer Bewohner/innen gegen die Vertreibung zum Symbol des Widerstands gegen die städtische Räumungspolitik.

Die Situation war dramatisch: Hunderte Menschen wurden gewaltsam aus ihren Häusern evakuiert, anderen drohte eine Umsiedlung an den Stadtrand von Rio de Janeiro – dorthin wo meist jegliche städtische Infrastruktur fehlte. Das Wohnungsprogramm der brasilianischen Bundesregierung „Minha Casa, Minha Vida“ wurde zum Inbegriff für die ungerechte Wohnraumpolitik Rios und die Profitgier mächtiger Immobilieninvestoren.

Zunächst organisierten sich die Menschen vor Ort und widersetzten sich erfolgreich allen Umsiedlungsbemühungen der Stadt, so dass der Bundesstaat Rio de Janeiro ihnen das formelle Nutzungsrecht ihrer Grundstücke zusprach. Doch damit war der Fall nicht erledigt. Als die Planung für die Olympischen Spiele aufgenommen wurde, geriet die Vila Autódromo sowie weitere umliegende Siedlungen erneut ins Visier der Stadtplanung. Der Volksplan der Bürgerbewegung von 2012 konnte die Umsiedlung zahlreicher Familien nicht verhindern. Viele hielten dem anhaltend brutalen Druck und den staatlichen Repressalien nicht stand. Von einst 500 Häusern in der Vila Autódromo stehen heute noch 50 – die Hinterbliebenen leben dort unter widrigsten Bedingungen.

Barcelona en Comu: Der Kampf gegen Zwangsräumungen

Die beiden Vertreter/innen aus Barcelona repräsentierten ein „Tandem der Ko-Produktion“ in Bezug auf Wohnen der besonderen Art. Santi Mas de Xaxás Faus, der der Plattform der Hypothekengeschädigten (Plataforma de Afectados por la Hipoteca, PAH) seit den Anfangstagen angehörte, schilderte die Anfänge der Hypothekenkrise und den Widerstand, der daraus entstanden ist. Spanien ist mit Blick auf den Immobiliensektor ein besonderer Fall: In den 1990 Jahren waren 99% des Wohnungssektors privat. Nur ein Prozent der Haushalte lebte in einer Mietwohnung. Alle Menschen investierten in privaten Wohnraum – das Dogma lautete: Man ist ja dumm, wenn man kein Haus kauft.

Auch Menschen, die absehbar die Kredite nicht würden bedienen können, wurden Kredite aufgeschwatzt. So entstand die Immobilienblase. Da in Spanien die Ausgaben für Wohnraum einen Großteil der Ausgaben in privaten Haushalten ausmachen, spitzte sich die Situation rasch zu: Mit der Wirtschaftskrise und einer steigenden Arbeitslosigkeit schlitterten viele Menschen in die Verschuldung – und konnten ihre laufenden Haus- und Wohnungskredite nicht mehr bedienen. So kam es zu zahllosen Zwangsräumungen und einer schweren Depression in der Bevölkerung. Die PAH machte sich seit 2009 für die Betroffenen stark. Sie organisierte den Widerstand gegen Zwangsräumungen.

„Wir haben zunächst Treffpunkte organisiert, damit die Menschen ihre Scham verlieren und sich nicht länger für die Misere verantwortlich machen“, erinnert sich Santi. Die PAH hat bereits Ableger in 200 Städten in Spanien und entwickelt neben nachbarschaftlichen Treffen auch Aktionen, Proteste und Kampagnen gegen die Zwangsräumungen. „Alle 15 Minuten wird in Spanien eine Wohnung zwangsgeräumt“, sagt Santi, „wir werden daher mit zivilem Ungehorsam weiter gegen die unmenschlichen Evakuierungen vorgehen“. Dazu gehört auch, dass die Aktivist/innen gemeinsam mit betroffenen Familien leerstehende Häuser besetzen. So werden aus einstigen Wohnungsbesitzern politisch motivierte Wohnungsbesetzer.

Laia Ortiz Castellvi, die grüne Dezernentin für soziale Grundrechte in Barcelona, repräsentiert eine Stadtregierung, die aus dieser Krise und aus der Protestbewegung hervorgegangen ist: „Barcelona en comu“ („Barcelona gemeinsam“). Die derzeitige Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, war ebenfalls eine Sprecherin von PAH. „Die Menschen haben gelernt“, so Laia Ortiz, „dass man etwas verändern kann“. Die neue Regierung von Barcelona ist Ausdruck eines neuen zivilgesellschaftlichen Selbstbewusstseins. Sie setzt einen starken Akzent auf inklusive Politik und versucht, soziale Ungleichheit abzubauen, denn eine „egalitärere Gesellschaft ist eine demokratischere Gesellschaft“ so Ortiz.

Im Bereich Wohnen vermittelt sie im Falle von Zwangsräumungen mit den Banken (denen die Wohnungen gehören) und sucht nach sozialverträglichen Lösungen für die Betroffenen. Mieten werden häufig subventioniert, da inzwischen 75 Prozent der Menschen zur Miete wohnen und auf die Straße gesetzt werden, weil sie die Miete nicht zahlen können. Zugleich versucht die neue Stadtregierung, mit Neubauprogrammen einen sozialen Wohnungssektor aufzubauen, teilweise auch in Kooperation mit Genossenschaften. „Aber das alles braucht Zeit“ sagt die Politikerin leicht resigniert auch an die Adresse ihres Landsmannes Santi, dem offensichtlich alles nicht schnell genug geht.

Die Lage auf dem Berliner Wohnungsmarkt

Jan Kuhnert, Mit-Initiator des Berliner Mietenvolksentscheids, gab zu, dass angesichts der Wohnungsprobleme in den Favelas der Megastädte und auch der Wohnungskrise in Spanien in Deutschland „auf hohem Niveau gejammert“ werde. Allerdings gebe es eine globale Gemeinsamkeit, dass sich die Wohnungsmärkte überall auf der Welt mit einer milliardenstarken „Investitionsfront“ konfrontiert sähen. Diese Marktöffnung hätte in Deutschland mit einiger zeitlicher Verzögerung stattgefunden. Kuhnert erläuterte zunächst die Unterschiede, die den deutschen Wohnungsmarkt im Gegensatz zu den Wohnungsmärkten anderer europäischer Länder kennzeichneten: In Deutschland gab es nach dem 2. Weltkrieg einen Bauboom. Mit Staatsmitteln wurde sowohl der soziale, gemeinnützige Mietwohnungsbau gefördert als auch das Wohneigentum. Es sei aber immer, anders als in Spanien, um stabiles Wohneigentum gegangen. Deutschland habe ein großes Volumen an sozial gebundenem Mietwohnungen geschaffen. Der Anteil an vermietetem Wohnraum sei vergleichsweise hoch (gewesen), in Großstädten wie Berlin bis zu 80 prozent. 1989 sei dann die Wohngemeinnützigkeit abgeschafft worden und damit der Eigentumsschutz auf die öffentlichen Investitionen in diesem Bereich. Der soziale gebundene Wohnraum sei von damals 3,5 Miliionen Wohneinheiten auf 1,4 Millionen geschmolzen und schmilzt weiter ab. Seither würden immer mehr Mietwohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt.

Kuhnert selbst engagiert sich auf verschiedene Weise für bezahlbaren Wohnraum: zum einen habe er im Auftrag der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen die Studie „Neue Wohnungsgemeinnützigkeit (NWG) – Wege zu langfristig preiswertem und zukunftsgerechtem Wohnraum (Wohnungsgemeinnützigkeit 2.0)“ verfasst. „Mit Hilfe dieses Förderkonzepts könnten Bauträger verpflichtet werden, Wohnungen dauerhaft sozial gebunden zu vermieten“, so Kuhnert. „Im Gegenzug erhalten sie dafür steuerliche Vergünstigungen.“ Damit könne ein diverser Markt mit unterschiedlichen Akteur/innen entstehen, die sich auf eine zuverlässige Rendite verlassen können.

Zudem sei er an dem Berliner Mietenvolksbegehren beteiligt gewesen. Der Volksentscheid sollte den Berliner Senat zum Handeln zwingen, und das ging nur mit einer ausformulierten Gesetzesvorlage, die abgestimmt werden sollte. Der Volksentscheid kam allerdings nicht zustande, weil sich die Initiatoren auf dem Verhandlungswege mit der Politik geeinigt habe. Daraus sei das „Wohnraumversorgungsgesetz“ entstanden. Dieses sähe eine stärkere öffentliche Aufgabe für die städtischen Wohnungsbauunternehmen vor – beispielsweise sei formuliert, dass „Zwangsräumungen zu vermeiden“ seien und Modernisierungen, die häufig die Preise in die Höhe trieben, mit den Mieter/innen abzustimmen seien.

Für diese Einigung mit dem Senat sei er aus der Mieter/innenbewegung kritisiert worden. Kuhnert stellte allerdings die Frage in den Raum: „Wollen wir nur protestieren, oder mischen wir uns ein?“ Diese Art von Fortschritt, die aus der Reibung zwischen Konflikt und Kompromiss entstehe, sei eben auch eine „Ko-produktion.“ Kuhnert erteilte in der Diskussion der Option, die sozialen Wohnraumversorgungsprobleme durch „Selbstbau“ der Mittellosen lösen zu wollen, eine Absage: Die Wohnungsversorgung „alkoholisierter arbeitsloser Männer“ bleibe eine öffentliche Aufgabe. Bei allen Unterschieden in dieser internationalen Debatte zeigte sich, dass „bezahlbarer Wohnraum als öffentliche Aufgabe“ überall eine entscheidende Rolle für das „Recht auf Stadt“ spielt.

Zweiter Konferenztag

Sabine Drewes, Referentin für Kommunalpolitik und Stadtentwicklung der Heinrich-Böll-Stiftung, stellte in ihrer Begrüßung die Verbindung zum vorangegangenen Tag her. In den Panels wurden die Themen unter drei Aspekten betrachtet.

  1. Nachhaltigkeit: Die UN-Konferenz Habitat III stehe unter diesem Motto. Nachhaltigkeit sei auch deswegen eine Herausforderung, weil sich mit der zunehmenden Urbanisierung die Lebensstile veränderten. Die CO2-Emissionen im Verkehrsbereich könnten sich bis zur Mitte des Jahrhunderts verdoppeln oder auch halbieren - je nach Pfad, den die Entwicklung der Menschheit einschlüge. Ähnlich sehe es beim weltweiten Abfallaufkommen aus. Mobilität und Abfall seien aber auch soziale Themen, da es immer um die Verteilung der Lebenschancen und –qualität gehe.
  2. Ko-Produktion: Das Verständnis von Ko-Produktion sei ein weites; es gehe um die Dynamik zwischen Stadtregierungen und Zivilgesellschaft – von Beteiligung bis zur gemeinsamen Erbringungen kommunaler Dienstleistungen. Stadtregierungen würden von der New Urban Agenda als wichtige Akteure anerkannt. Eine Stadtentwicklung können aber nicht nachhaltig sein, wenn die Stadtregierungen und –verwaltungen die Zivilgesellschaft nicht beteilige.
  3. Last but not least ginge es um das globale Lernen zwischen Nord und Süd und um die Frage, wie sich Städte in Zukunft bei der Umsetzung der Habitat-Agenda praktisch austauschen könnten.

 

Panel II: Abfallwirtschaft, verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen und kommunale Daseinsvorsorge

Joan Marc Simon, Geschäftsführer von Zero Waste Europe, beschrieb eingangs die weltweite Abfallsituation. 1,3 Milliarden Tonnen Abfall fielen jährlich an. Das entspräche z.B. dem Gewicht von 3,2 Miliionen Boings 747 inklusive Passieren und Gepäck. Ein Drittel davon käme aus Asien, unter anderen 80 Prozent des weltweiten Plastikmülls. Der Müll wandere dann zu den größten Anteilen ins Meer, auf Mülldeponien und in die Verbrennung. Recycling allein könne keine Antwort darauf sein. Seit 1950 hätte sich die Produktion von Plastik verzwanzigfacht. 95 Prozent des Verpackungsmaterials aus Plastik ginge nach einem sehr kurzen Lebenszyklus verloren. Das Müllproblem sei das wesentliche Symptom einer linearen Ökonomie, in der das Wirtschaftswachstum proportional zum Müllaufkommen steige. Die EU versuche, Akzente in Richtung Kreislaufwirtschaft zu setzen. Die deutsche Regierung träte allerdings als Bremserin auf, indem sie sich z.B. verbindlichen Recyclingquoten widersetze.

Städte stellten das Zentrum der Zero-Waste-Strategien dar. Simon erinnerte daran, dass noch vor vierzig Jahren auch in Europa die informelle Müllsammlung vorherrschte, in der meist sehr arme Leute die Abfälle gesammelt hätten. Seine Heimatstadt Barcelona sei damals dem Ziel Zero Waste sehr nahe gewesen. Nordeuropa sei in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert zu einem formalisierten System mit professioneller Müllabfuhr und Müllverbrennung übergegangen. Die Effizienz sei fraglich, und dieses System sei sehr teuer und daher schlecht exportierbar. Der Zero-Waste-Geschäftsführer stellte zwei gute Beispiele für Zero-Waste-Kommunen vor: Zum einen die erste Zero-Waste-Kommune in Europa, die italienische Stadt Capannori.

Dort sei das Abfallaufkommen um 40 Prozent gesunken. Die Zero-Waste-Bewegung sei dort durch zivilgesellschaftlichen Protest gegen eine Müllverbrennungsanlage entstanden. Capannori hätte ein Forschungszentrum etabliert, dass die Zusammensetzung des Abfalls fortwährend analysiere und daraus Vorschläge zur Müllvermeidung entwickle. Er zitierte auch ein Beispiel aus dem globalen Süden: Ein Quartiersprogramm in Taguig in Metro Manila. Dort wurde eine haushaltsnahe Müllsammlung gemeinsam mit informellen Müllsammlern organisiert. Die Müllsammler wurden formal angestellt, ihr Einkommen habe sich verdreifacht. Der Abfall werde zu 80 Prozent recycled. So habe diese Art der Müllabfuhr Leben verändert. Diese Bottom-up-Herangehensweise sei effizienter und nachhaltiger als die Müllverbrennung.

Recycling und der informelle Sektor

Daran schloss Sonia Dias, eine Vertreterin der Organisation Women in Informal Employment Globalizing and Organizing in ihrem Vortrag nahtlos an. Zu Beginn der 1990er Jahre hatte sie für die Stadtverwaltung von Belo Horizonte gearbeitet und erzählte vom Lernprozess der Stadtverwaltung, die während der ersten Legislaturperiode der Arbeiterpartei die Abfallwirtschaft neu organisiert hat. Damals lebte eine Reihe armer Stadtbewohner/innen davon, dem Müll auf wiederverwertbare Stoffe zu durchsuchen und diese zu verkaufen. Diese informellen Müllsammler/innen, zumeist Frauen, waren sozial geächtet, mussten oft neben ihrem Müll schlafen um ihn zu bewachen und wurden nicht selten von der Polizei zusammengeschlagen.

Die neue Stadtverwaltung betrachtete die Müllsammler/innen als „informelle Recycler“ und arbeitete mit einer ihrer Kooperativen zusammen. Gemeinsam bauten sie eine neue Abfallwirtschaft auf, in der Recyclinghöfe und eine Haushaltsmüllsammlung eingerichtet wurden. Die Kooperativen der informellen Recycler wurden mit der Müllsammlung und –trennung beauftragt, wodurch die Recycler ein geregeltes Einkommen bekamen. Gleichzeitig waren sie aber keine städtischen Angestellten, sondern in Kooperativen selbst organisiert. Dadurch war die Abfallwirtschaft von Belo Horizonte eine echte Ko-Produktion von Zivilgesellschaft und Lokalregierung. Die Recyclinghöfe verbesserten die Arbeitsbedingungen der Müllsammler/innen deutlich und boten sogar Kinderbetreuung an.

Sonia Dias hob die Genderdimension ihrer Arbeit hervor. In den Müllkooperativen traf die Stadtverwaltung häufig auf Frauen, die unter häuslicher Gewalt litten und ein geringes Selbstbewusstsein hatten. Durch den neuen Job bekamen sie eine größere Selbstachtung, die sich positiv auf ihr Lebensumfeld auswirkte und den Frauen auch ermöglichte, Führungspositionen in den Kooperativen zu übernehmen.

Zero Waste in Ljubljana

Erika Oblak von Ecologists without Borders schilderte die Geschichte Ljubljanas zur ersten Zero-Waste-Hauptstadt Europas. Im Jahr 2002 führte die slowenische Hauptstadt die getrennte Müllsammlung ein, allerdings mit Straßencontainern. Damals lag die Quote getrennt gesammelten Abfalls bei 10 Prozent. 2006 wurde die Biotonne in Haushalten eingeführt und 2012 die Tonnen für Verpackungen und Papier. Der Anteil des getrennt gesammelten Mülls war bis 2014 auf 55 Prozent gestiegen. Die getrennte Abfallsammlung ist der erste Schritt zu Zero Waste und entscheidend für Recyclingquoten, besonders wenn der Biomüll getrennt gesammelt wird. Diese Müllfraktion eignet sich sehr gut zur Wiederverwendung als Kompost oder Biogas.

2012 kündigte der Bürgermeister an, eine Müllverbrennungsanlage bauen zu wollen, mit der Begründung, man könne nicht mehr als 60 Prozent des Abfalls getrennt sammeln. Die zivilgesellschaftliche Opposition organisierte daraufhin eine Exkursion von Politik und Verwaltung aus Ljubljana in die italienische Zero-Waste-Kommune Contarina. Contarina hatte zu der Zeit eine Recyclingsquote von 85 Prozent und wird 2020 96 Prozent schaffen. Diese Exkursion gab den Ausschlag dafür, dass der Stadtrat von Ljubljana die Stadt 2014 zur Zero-Waste-Kommune erklärte. In diesem Jahr, 2016, ist die slowenische Hauptstadt die Europäische Umwelthauptstadt. Der Bürgermeister sei zu Recht stolz auf diese Errungenschaften.

„Co-production is the answer“

In der Diskussion verwies ein Teilnehmer darauf, dass Ko-Produktion in der Abfallwirtschaft auch Ko-Verantwortung sowohl der Produzenten (im Sinne der Produktverantwortung) als auch der Konsument/innen bedeuten müsse. Eine andere Teilnehmerin fragte nach der Bedeutung der geplanten Obsoleszenz, der absichtlichen Verringerung der Lebensdauer von Produkten durch die Hersteller. Sowohl Joan Marc Simon als auch Erika Oblak betonten, dass der Zero-Waste-Ansatz gute Ansätze zu einer verbesserten Produktverantwortung biete. Oblak berichtete aus der Stadt Capannori, die auch Simon bereits zitiert hatte, dass vom dortigen Abfall-Forschungszentrum Vorschläge für recycelbare Kaffeekapseln erarbeitet wurden, die von der Industrie auch aufgegriffen wurden. „Ko-Produktion ist die Antwort“, schloss Joan Marc Simon die Diskussion. Er meinte damit nicht nur die Zusammenarbeit mit sozialen Gruppen wie die Slow-Food-Bewegung und Repaircafés, die die Zero-Waste-Kommunen suchen sollten. Zero Waste als Bottom-up-Organisationsform der Abfallwirtschaft funktioniere überall auf der Welt und müsse die herkömmlichen Lösungen der Deponierung und Müllverbrennung ablösen. Auch Deutschland müsse sich von der Vorstellung verabschieden, es hätte sein Müllproblem im Griff.

Panel III: Mobilität, Lebensqualität und Gesundheit

Moderator Axel Harneit-Sievers, Leiter des Böll-Büros in Delhi, leitete diese Diskussion ein mit der Beobachtung, die gemeinsame Klammer dieser Runde sei offenbar die Suche nach Alternativen zum Auto, das er als „größten Fluch der Städte“ bezeichnete.

Anumita Roychowdhury, Geschäftsführerin des Bereichs Forschung und Interessenvertretung des Centers for Science and Environment New Delhi, skizzierte die die Verkehrssituation in Delhi als dramatisch: „Die Luftverschmutzung produziert internationale Schlagzeilen.“ In Delhi sterbe pro Stunde ein Mensch an Erkrankungen, die durch die Luftverschmutzung verursacht werden. Die Hauptursache der giftigen Emissionen sei der Verkehr. Dabei sei die Ausgangslage der indischen Metropole prinzipiell nicht schlecht: Für die 38 Millionen Wege, die die Bevölkerung täglich zurücklege, würden nur 15 Prozent das Auto nutzen. Alle anderen würden den Umweltverbund nutzen. Die Motorisierung steige allerdings exponentiell.

Zwar sei es gelungen, mehr Buslinien einzurichten und diese mit Gas fahren zu lassen, aber diese Maßnahmen würden durch die zunehmende Motorisierung überkompensiert. Die klassische Lösung der Politik sei, mehr Straßen zu bauen. Es käme aber darauf an, wie die Straßen gebaut würden – ob sie beispielsweise Bus- und Fahrradspuren vorsähen und für Fußgänger/innen und Radfahrer/innen sichere Querungen. Das sei nicht der Fall. Wenn man aber Radfahren und zu Fuß gehen nicht sicherer mache und die Luftqualität verbessere, könne man die Menschen auch nicht überzeugen, diese Fortbewegungsarten zu nutzen – ein Teufelskreis.

Roychowdhury beklagte die Machtverteilung im Straßenverkehr: Wie könne man von Demokratie sprechen, wenn die Interessen von Fußgängern, die immerhin 60 Prozent der Bevölkerung Delhis ausmachten, keinen wesentlichen Einfluss auf die politischen Entscheidungen hätten? Eine andere Ungleichheit bezieht sich auf die Stadtplanung: So lebten in der 17 Millionen-Stadt nur 1Prozent der Bevölkerung im Stadtzentrum, in von Parks umgebenen Einfamilienhäusern. Die Armen müssten an den Stadtrand ziehen und zehn bis zwanzig Kilometer zur Arbeit zurücklegen. Diese Machtverhältnisse müssten verändert werden, um den Vormarsch des Autos aufzuhalten. Dazu sah die Umweltaktivistin allerdings keine Alternative, denn man solle nicht die Fehler wiederholen, die andere auf der Welt schon gemacht hätten. In Indien sei das Problem auch nicht eine mangelnde Gesetzgebung, sondern ein mangelnder Vollzug.

Die derzeit in Delhi regierende Aam Aadmi Partei (‚Partei des einfachen Mannes’) ist verkehrspolitisch vor allem durch die Maßnahme aufgefallen, vierzehn Tage lang täglich alternierend gerade und ungerade Auto-Nummernschilder fahren zu lassen. Selbst diese Maßnahme hätte laut Roshan Shankar, Berater der Regionalregierung von Delhis, schon sehr viel Überzeugungsarbeit durch Freiwillige erfordert. Shankar bedauerte, dass die Regionalregierung von Delhi keine Zuständigkeit für Bodenpolitik, Polizei und öffentliche Ordnung hätte.

Der Regierungsberater schilderte anschaulich den Weg der gegen Korruption gerichteten Aam Aadmi Party zur Macht: Aus einer Protestbewegung hatte sich eine Partei gebildet, die schließlich 2015 selbst zur Regierung wurde - nach dem Motto: „The only way to take back power was not through pressuring the government to legislate new things, it was to become the government itself.“ Er erläuterte die Prinzipien der neuen Regierung: Diese richte sich gegen Korruption und Lobbyismus. Vorher waren die Bestechungsgelder bei den öffentlichen Dienstleistungen eingepreist. Die Aam Admi Party hätte dafür gesorgt, dass 60% des Budgets nun in öffentliche Schulen, Gesundheitsversorgung und Mobilität fließe. Delhi hat kürzlich beschlossen, 3.000 neue gasgetriebene Busse anzuschaffen. Der Hauptunterschied zu den anderen Parteien sei aber die Bürgerbeteiligung. Die Partei habe das Ziel, möglichst viele Menschen zu konsultieren und in Entscheidungen einzubeziehen, etwa in Form von Bürgerhaushalten. Die Regierung solle dezentralisiert werden.

Das Auto als Statussymbol

Sipho Eric Nhlapo von der Johannesburg Road Agency schilderte, dass das Auto und seine Symbolkraft in der südafrikanischen Gesellschaft im Zusammenhang mit dem Erbe der Apartheit gesehen werden müsse. So werde ein Auto höher bewertet als Wohneigentum. Es sei das nachdrücklichste Zeichen für den sozialen Aufstieg. Ein Auto zu besitzen bedeute: „You’ve made it, my child.“ Fahrrad fahren dagegen würde mit der weißen Mittelklasse in Verbindung gebracht. Daher habe der neu gewählte Bürgermeister des ANC auch den Radwege-Ausbau vorerst gestoppt.

Johannesburg hatte aber dennoch zuvor eine „Road and Transport Strategy“, die auf die lebenswerte Stadt setze und auf Fahrradfahren, zu Fuß gehen und den öffentlichen Nahverkehr. Eine weitere Ausweitung des Autoverkehrs in Johannesburg sei im Prinzip nicht länger tragbar. Der modal split des MIV liege zur Zeit bei 40 Prozent, Transport sei der größte Faktor der CO2-Emissionen. Wenn man dem Auto noch mehr Raum gäbe, bekäme man nur dieselben Probleme, die andere Städte damit hätten. Hoffnung mache das Ecomobility World Festival, das Johannesburg im Jahr 2015 ausgerichtet hatte. Ein Stadtteil wurde für Fahrzeuge mit konventionellem Antrieb gesperrt, umweltfreundliche Fortbewegungsarten wurde promoted. Das Ergebnis war, dass hinterher 24 Prozent der Bürger/innen Johannesburgs den Event als positiv bewerteten und 57 Prozent ihm neutral gegenüberstanden, was bedeute, dass man die Menschen erreichen könne. Als Problem sah der Verkehrsexperte, dass in Südafrika gute Lösungen z.B. aus Europa als „nicht übertragbar“ bezeichnet würden.

Pierre Serne berichtete von seinen Erfahrungen als Regionalrat von Europe Ecologie-le-Verts (die Grünen Frankreichs) der Region Paris. Paris ist ein europäisches Paradebeispiel für die Umgestaltung einer autogerechten Stadt. Das war Paris fast ausnahmslos bis zum Ende der 1990er Jahre, als eine linke Regierung mit Beteiligung der Grünen an die Macht kam. In den letzten 15 Jahren fand in Paris – zumindest teilweise – eine Verkehrswende statt: Zehn neue Tramlinien wurden gebaut – mittlerweile hat Paris das drittgrößte Tramnetz Europas. Auch neue Busspuren wurden gebaut und das Fahrradverleihsystem „Vélib‘“ etabliert.

Diese Politik zeitigte auch schon Erfolge: So sei der Autorverkehr in den letzten 10 Jahren um 30 Prozent zurückgegangen. Nur noch 40 Prozent der Haushalte würden ein Autor besitzen. Die Ziele der Verkehrspolitik in der Region Paris seien trotz Regierungswechsel in einem Sustainable Urban Mobility Plan (SUMP) festgehalten worden und blieben ehrgeizig: Paris strebe eine absolute Verringerung des Autoverkehrs an. Dafür müssten alle zehn Jahre die ÖPNV-Kapazitäten um 20 Prozent erhöht werden. Die Region investiere derzeit drei Milliarden € pro Jahr in den Verkehr, bis 2020 werden es fünf Milliarden € sein. Nur der Radverkehr ließe noch zu wünschen übrig: er hab sich zwar in zehn Jahren verdoppelt, aber nur von minimalistischen einen auf zwei Prozent.

„How can we glamourise the bicycle“

In der Diskussion ging es schwerpunktmäßig zurück zum Ausgangspunkt, nämlich der Frage, ob Alternativen zur autozentrierten Stadt in verschiedenen Teilen der Welt möglich seien. Anumita Roychowdhury argumentierte mit Verve, dass das Streben nach Autobesitz nicht unvermeidbar sei, und formulierte als gemeinsame Aufgabe: „How can we glamourise the bicycle“? Sie adressierte das Thema Verkehrsmittelwahl noch einmal als Demokratiefrage, denn die Mehrheit der Nicht-Autobesitzer hätten keinen Einfluss auf die Politik. Sie mahnte an, dass Autobesitzer im Grunde für die gesundheitlichen Schäden und für die teure Infrastruktur zahlen müssten. Ihrer Meinung nach unternehme auch die neue Regierung von Delhi nicht genug gegen diese Schieflage. Roshan Shankar entgegnete darauf, dass die Regierung nicht stark genug sei, um den Autoverkehr zurückzudrängen. Die Fragestellungen dieses Panels erwiesen sich als erstaunlich global diskutierbar.

Abschlussrunde: Ko-Produktion nachhaltiger Stadtentwicklung nach Habitat III: Wie weiter?

Philipp Misselwitz bat zunächst die deutschen Gäste, die bisher noch nicht in Erscheinung getreten waren, zu erläutern, welche Interessen ihre Organisationen in Bezug auf die NUA hätten.

Stefan Schurig, Direktor für Klima und Energie beim World Future Council, führte zwei Bereiche an, in denen der WFC aktiv gewesen sei: Erstens habe die Organisation versucht, die Sensibilität für den ökologischen Fußabdruck der Städte zu stärken. Das gängige Entwicklungsmodell sei immer noch linear: Der Input bestehe aus Rohstoffen und Energie, der Output aus Müll und Emissionen. Der WFC wollte daher mit dem Begriff der regenerativen Stadt die Idee eines zukünftigen zirkularen Stoffwechsels in die NUA zu bringen. Das sei aber misslungen. Zweitens habe der WFC einen Vorschlag gemacht, wie Stadtpolitik und der Dialog zwischen Städten und Nationalregierungen auf nationalstaatlicher Ebene institutionalisiert werden könne und dafür National Urban Policy Commissions vorgeschlagen. Aus Schurigs Sicht spreche aus der NUA zu sehr die Sorge der Nationalregierungen über den wachsenden Einfluss der Lokalregierungen.

Das Verhältnis von Nationalregierungen und Lokalregierungen treibt auch den Deutschen Städtetag (DST) um. Die DST-Referentin für internationale Angelegenheiten, Sabine Drees, bestätigte, dass die NUA sich in ihren Augen viel zu zentralistisch lese. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass 65 Prozent der Sustainable Development Goals kommunal relevant seien, fragte sie: „Wie kann Stadtentwicklung global ohne die Federführung von Städten vorankommen?“ Bei der UN hätten die Kommunen keinen Sitz am Entscheidungstisch. In der NUA würde weder eine effektive Dezentralisierung noch die kommunale Selbstverwaltung erwähnt. Ohne Letztere seien die Kommunen aber nur Ausführungsorgane der Nationalregierungen.

Laia Ortiz Castellvi, Dezernentin für soziale Rechte der Stadt Barcelona, unterstrich diese Sichtweise: „We don’t need a guideline for the cities. We need global policy that is coordinated with the need of cities“. Dennoch begrüßte das Podium, dass sich die NUA überhaupt mit dem Verhältnis von National- und Lokalregierungen beschäftige und die Rolle der Lokalregierungen positiv erwähne.

Aus dem Publikum wurde die Frage gestellt, was die Diskutant/innen von Benjamin Barbers Vorschlag einer neuen Institution des „Global Parliament of Mayors“ hielten. Das wurde wiederum vorwiegend kritisch betrachtet. Sabine Drees verwies auf bereits bestehende internationale Zusammenschlüsse wie „United Cities and Local Governments“ (UCLG). Stefan Schurig schätze Barber, glaube aber nicht, dass die Bürgermeister und Lokalregierungen „es schon richten werden.“ Es sei manchmal effektiver, wenn Nationalregierungen gute Gesetze machten wie etwa das Erneuerbare-Energien-Gesetz, ohne dass es keine Energiewende in Deutschland gegeben hätte.

Schließlich ging es um die Zukunft der nachhaltigen Stadtentwicklung im internationalen Austausch. Hat die NUA die Bereitschaft zum internationalen Austausch erhöht? Sabine Drees bekräftigte, dass diese Bereitschaft wachse. Sie berichtete von dem internationalen Netzwerk „Connective Cities“, an dem der Städtetag beteiligt sei. Dort würden kommunale Praktiker/innen und Expert/innen passgenau und praxisnah zusammengebracht. Die Beratung ginge auch von Süd nach Nord. Roshan Shankar, Berater der Regionalregierung von Delhi, identifizierte Bürgerbeteiligung als gutes Thema für den internationalen Austausch. Auch die Bürger/innen müssten seiner Meinung nach etwas über Bürgerbeteiligung lernen. In internationalen Lern- und Umsetzungs-Netzwerken zu Beteiligung und Nachhaltigkeit zwischen Städten liegt möglicherweise auch die Zukunft der New Urban Agenda.

Mitarbeit: Emily Kelling

Dieser Artikel ist Teil unseres Dossiers: Habitat III - Nachhaltige Stadtentwicklung.