Die Hoffnung im Beliebigen

Russische Kampfjets auf dem Flughafen Basil al-Assad in Latakia
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Russische Kampfjets auf dem Flughafen Basil al-Assad in Latakia

Diese Nachricht kam für viele überraschend: Wladimir Putin ordnet den Abzug russischer Truppen aus Syrien an. Dies ist als Botschaft an Bashar al-Assad zu lesen. Über die Auswirkungen und Hintergründe.

Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln: Wer die US-Syrien-Politik der letzten Jahre verfolgt hat, mag in der jüngsten Ankündigung Russlands, sich teilweise aus Syrien zurückzuziehen, die östliche Entsprechung sehen. Der Vorschlag Putins im letzten Herbst, der Westen möge sich gemeinsam mit Russland gegen ISIS zusammenschließen, war kaum auf dem Tisch, als schon die ersten Flugzeuge auf dem Weg nach Syrien waren, um im Alleingang direkt militärisch zu intervenieren. Ebenso unerwartet kommt jetzt die Ansage, sich zurückzuziehen. Überrumpeln statt abstimmen, lautet die Devise.

Der Unterschied zwischen beiden – gerade in Hinblick auf das Lavieren der EU – ist, dass Russland eine Strategie verfolgt. Es möchte sich beliebig in den Konflikt einmischen, ohne Verantwortung zu übernehmen, und ihn zu lösen ist kein Selbstzweck. Vielmehr dient Syrien Putin als Instrument, um zu demonstrieren, dass man Russland international nicht ignorieren kann.

Die Bilanz der sechs Monate direkter russischer Intervention in Syrien ist verheerend. Schätzungsweise 2.000 Zivilisten sind durch russische Luftangriffe gestorben. Darüber geht Russland ebenso nonchalant hinweg, wie es behauptet, Fortschritte im Kampf gegen den Terrorismus in Syrien gemacht zu haben – obwohl sich die Angriffe auf ISIS in Grenzen hielten, ja, der Terrormiliz gar in die Hände spielten. Der syrische Journalist Rami Jarrah stellte bei seinen Recherchen an den Frontlinien fest, dass in Auseinandersetzungen zwischen Rebellen und ISIS stets erstere aus der Luft angegriffen wurden. Er brachte dies auf den Punkt, indem er sagte: "Die Russen sind die Luftwaffe des IS."

Kalte Füße auch bei syrischen Verbündeten

Realpolitisch ist es insofern ein positives Signal, wenn Russland nun ankündigt sich zurückzuziehen, weil es zumindest die Möglichkeit birgt, ISIS als Schreckgespenst des Westens nicht noch zu befördern und den Verantwortlichen für die meisten Toten in Syrien, Assad, nicht bedingungslos zu unterstützen. Auch mehren sich die Berichte, dass andere Verbündete des syrischen Regimes ob der Erklärung kalte Füße bekommen. Die Website NOW berichtete, die libanesische Hisbollah wolle ihr Engagement ebenfalls herunterfahren und die Washington Post zitierte einen Hisbollah-Vertreter, der aussagte, der russische Rückzug sei "schockierend" und bringe die Pro-Regime-Miliz unter ungebührlichen Druck.

Wenn man weniger destruktives Verhalten bereits als einen Fortschritt sieht, kann diese diplomatische Offensive in der Tat Anlass zur Hoffnung geben. Doch die verhalten positive Reaktion auf den neuesten russischen Schachzug speist sich möglicherweise mehr aus der Hoffnung, zu einer Lösung des Konfliktes in Syrien zu kommen, als aus handfesten Anhaltspunkten.

Theoretisch hat Russland eine Reihe von UN-Resolutionen mitgestaltet, die die Gewalt in Syrien einhegen und die die Situation von Zivilisten unter Belagerung verbessern sollen. Praktisch hat es, ebenso wie die anderen Mitglieder des Sicherheitsrates, nichts zu deren Umsetzung getan. Theoretisch hat Russland internationale Normen gestärkt, in dem es nach dem Einsatz von Chemiewaffen gegen die syrische Bevölkerung dazu beigetragen hat, dass das syrische Regime sein enormes todbringendes Kontingent zerstören lässt und der internationalen Chemiewaffenkonvention beitritt. Trotz zahlreicher Belege dafür, dass das Regime nicht alle Bestände deklariert und weiterhin gegen die Konvention verstoßen hat, sind dazu keine kritischen Worte zu hören.

Stattdessen demonstriert Russland weiterhin, dass es weder von internationalen Normen, noch von Selbstverpflichtungen etwas hält.

Kein vollständiger Abzug

Zum perfekten Zeitpunkt entledigt es sich verbal jeglicher Verantwortung: An dem Tag, an dem die Gespräche in Genf wieder aufgenommen werden sollen, sendet es ein versöhnlich klingendes Zeichen an den Westen und lobt sich seiner Fortschritte gegen den Terrorismus. So erfolgreich sei sein Kampf gegen Terror in Syrien verlaufen, dass nun das syrische Regime übernehmen könne. Die Kriegsverbrechen, die die gezielten russischen Angriffe auf syrische Märkte, Krankenhäuser und Schulen darstellen, werden vom Westen folgerichtig nicht thematisiert.

Gleichzeitig ist aber von einem vollständigen Abzug nicht die Rede. "Hauptkräfte", die nicht näher spezifiziert werden, sollen zurückgezogen werden. Gleichzeitig fügt Russland seinem vorherigen Marinestützpunkt in Tartous einen Luftwaffenstützpunkt nahe Latakia hinzu, belässt sein elaboriertes Luftabwehrsystem dort und behält sich damit vor, weiterhin den Luftraum über Syrien zu kontrollieren.

Mit Bodentruppen hat es sich genauso wenig wie der Westen engagieren wollen. Dass das Assad-Regime mit seiner demografisch ungünstigen Strategie, die Minderheiten in Geiselhaft zu nehmen, während es die sunnitische Mehrheit dazu zwingt, das Regime als mindestens ebenso gefährlichen Gegner wie ISIS zu begreifen, kein erfolgsträchtiger Partner gegen Daesh ist, dürfte den Strategen in Moskau bewusst sein. Erwartbar insofern, dass Putin einen geeigneten Moment suchte, sich diesem Dilemma zu entziehen.

Neue Verfassung? Nein.

Doch die russische Vollmundigkeit dient nicht nur gegenüber dem Westen als Machtdemonstration. Sie richtet sich auch an Bashar al-Assad und sein Regime, das nicht müde wurde, die drei Punkte, die der UN-Sondergesandte Staffan de Mistura als Teil der Verhandlungen benannte, von vornherein zurückzuweisen. Transition? Nicht ohne Assad. Neue Verfassung? Nein, nur im Rahmen der bestehenden syrischen Konstitution solle agiert werden. Wahlen unter UN-Aufsicht? Auf keinen Fall, denn das sei eine rein syrische Angelegenheit. Das syrische Regime, mittlerweile vollständig von ausländischer Unterstützung abhängig, selbst wenn es nur darum geht, Territorien zu halten, machte deutlich, dass es zu keinerlei Zugeständnissen bereit wäre, was de Mistura veranlasste zu erklären, wenn die Betroffenen sich dermaßen hartleibig geben würden, würde er den Fall zurück in den Sicherheitsrat geben.

Russland möchte sich weder vom Westen noch von seinen mutmaßlich Verbündeten vorführen lassen. Mit Wien hat es den Weg für Genf freigegeben und dementsprechend dient der erklärte Rückzug auch als eine Erinnerung an Assad, dass er sich nicht zu viel herausnehmen sollte.

Im optimistischsten aller Szenarien bewirkt die indirekte Drohung Russlands an das syrische Regime das, was eine westliche Interventionsdrohung hätte erreichen können: das syrische Regime zu Kompromissen zu nötigen. Doch so klar, wie es ist, dass der Westen keine Maßnahmen ergreifen wird, um Assad zu entmachten, ist gleichzeitig, dass er im Moment eine zu wichtige Trumpfkarte der russischen Hand auf internationaler Ebene ist. Russland möchte ihm vielleicht einen Denkzettel verpassen, aber nur, wenn es dafür eine greifbare Befriedigung seiner eigenen Interessen vom Westen bekäme, würde es ihn tatsächlich preisgeben.

Sofern Russland weiterhin die Erfahrung macht, dass seinen kargen konstruktiv wirkenden Worten mehr Aufmerksamkeit als seinem tatsächlichen Handeln geschenkt wird, das dazu oft in einem unversöhnlichen Kontrast steht, wird es darauf setzen und mit seiner beliebigen Politik außerhalb internationaler Normen fortfahren. Und es wird zum selbstgewählten Zeitpunkt die Bombardements der syrischen Oppositionsgebiete wieder aufnehmen, wenn die Aufmerksamkeit der restlichen Welt wieder einmal nachgelassen hat. Es seien ja nur "zwei Flugstunden" bis dahin, wie russische Kommentare nüchtern anmerkten.

Dieser Text erschien erstmals am 18. März 2016 auf Alsharq.