„Weniger verwalten und mehr gestalten“

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"Es ist wichtig, geflüchteten Jugendlichen mehr Raum für aktive Beteiligung zu geben"

Welche Angebote brauchen unbegleitete Geflüchtete und was muss die Politik besser machen? Ein Interview mit Resa Deilami, der Kinder und Jugendliche nach der Flucht betreut.

Resa Deilami ist Diplom-Psychologe und arbeitet in der sozialpsychiatrischen Beratungsstelle für Kinder und Jugendliche der Region Hannover. Im Interview erzählt uns der gebürtige Iraner, der 1994 selbst als Geflüchteter nach Deutschland gekommen ist, über seine Erfahrung bei der Versorgung, Beratung und Integration von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten.

Heinrich-Böll-Stiftung: In welcher Weise haben Sie mit unbegleiteten jungen Geflüchteten zu tun?

Resa Deilami: Zum einen in meiner Funktion als therapeutische Fachkraft der Beratungsstelle. Wie alle anderen Kinder und Jugendlichen der Region Hannover können unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sich bei uns in der Beratungsstelle melden, wenn sie infolge einer psychischen Erkrankung oder einer seelischen Krise fachliche Unterstützung benötigen. Die Spanne reicht von leichten Depressionen bis hin zu selbstverletzendem Verhalten oder Suizidalität. Zum anderen arbeite ich direkt mit den Jugendlichen in den regionseigenen Einrichtungen und biete der Clearingstelle und den Fachkräften der Einrichtungen wöchentliche Fallsupervision.

Welche Angebote brauchen unbegleitete Geflüchtete?

Resa Deilami, Diplom-Psychologe in der sozialpsychiatrischen Beratungsstelle für Kinder und Jugendliche der Region Hannover
Diese jungen Menschen kommen mit ganz unterschiedlichen Ressourcen, Erwartungen, Fluchtmotivationen zu uns. Sie befinden sich – ob begleitet oder unbegleitet – in doppelten Transformationsprozessen. Einerseits sind sie im Transformationsprozess vom Kind zum Erwachsenen, also der Pubertät, und andererseits sind sie dabei, sich nach der Flucht aus ihrem Herkunftsland hier im Aufnahmeland neu zu orientieren und sich anzupassen. Sie brauchen daher innovative, bedarfsgerechte und zielgruppenspezifische Angebote. Neben der Beschulung und erzieherischen Arbeit brauchen diese Jugendlichen verständliche Informationen über ihre gesetzliche Lage, Rechte und Pflichten Werte und Normen und praktische Hilfestellungen für die Alltagsbewältigung in Deutschland. Es ist außerdem sehr wichtig, diesen Jugendlichen mehr Raum für aktive Beteiligung, Eigenermächtigung und Eigenverantwortung zu geben. Sie müssen besser gefördert und gefordert werden. Dazu brauchen wir einen neuen Blick auf unser Verständnis von Hilfe und von Integration. Bedarfsgerecht heißt zum Beispiel, dass wir pädagogisch basierende Online-Angebote in Form von Informations- und Unterhaltungsportalen brauchen, die diesen Jugendlichen auch in ihrer Muttersprache zuverlässige Informationen und Unterstützung liefern und ihnen das Leben in Deutschland näher bringen. Hierzu gibt’s bereits erste gute Angebote von Freischaffenden, die gebündelt und gefördert werden müssen.

Gibt es auch spezielle Angebote für junge Geflüchtete, die 18, 19 Jahre alt und somit nicht mehr minderjährig sind?

Es gibt sie, aber meines Erachtens müssen sie besser abgestimmt und erweitert werden. Junge Geflüchtete, die vorher in einer Einrichtung für Minderjährige waren, müssen manchmal nach dem Erreichen der Volljährigkeit unmittelbar in eine Notaufnahme für Erwachsene wechseln – obwohl sie laut dem achten Sozialgesetzbuch bis zum 27. Lebensjahr Anspruch auf Hilfe für junge Volljährige haben. Speziell für diese Zielgruppe müssen passgenaue Anschlusshilfen gewährleistet und den jungen Menschen transparenter kommuniziert werden.

Wie nehmen Sie die unterschiedlichen Gruppen unbegleiteter Minderjähriger des derzeit hohen Zuzugs wahr? Wie sollte die aufnehmende Gesellschaft mit den Traumata dieser jungen Menschen umgehen?

Wir nehmen die Minderjährigen unterschiedlich in ihrer Herkunft, ihrer Fluchtmotivation und ihrer Fluchtgeschichte wahr. Geflüchtete Jugendliche sind keine homogene Gruppe: Die Bandbreite reicht von Analphabeten bis hin zu Musterschülern. Von ärmeren, ländlich sozialisierten Jugendlichen bis hin zu Jugendlichen, die aus Wohlstandsfamilien einer Großstadt kommen. So sind auch die möglichen Traumata multiperspektivisch zu betrachten. Der Begriff Trauma wird zurzeit medial relativ inflationär benutzt. Ich verwende ihn eher vorsichtig. Aktuell begegne ich in meiner Arbeit vorwiegend Traumata, die in den Herkunftsländern als Fluchtursache oder auf der Flucht selbst entstanden sind. Bei einigen dieser Jugendlichen ist jedoch auch ein gewisses „Trauma des Ankommens“ zu beobachten. Neben möglichen negativen Erfahrungen bei der Ankunft in Deutschland erhalten manche Jugendliche vor und während ihrer Flucht ein Bild vom Leben bei uns, das sich hier als anders oder ganz falsch erweist. Manche glauben z.B., dass sie sehr schnell uneingeschränkten Aufenthalt bekommen und rasch den Nachzug der Familie ermöglichen können. Viele haben wenig Kenntnis davon, dass die aufnehmenden Kommunen an der Grenze ihrer Machbarkeit sind und dass vieles noch im Entstehen ist. Somit fehlt manchen die Geduld und sie werden psychisch auffällig. Andere bleiben im „Funktionsmodus“ und konzentrieren sich auf materiell-existenzielle Dinge wie Wohnraum und Aufenthaltsstatus. Es dauert oft eine gewisse Zeit, bis diese Dinge geklärt sind und die Jugendlichen sich angekommen fühlen. Erst dann zeigt sich in der Regel ihr therapeutischer Bedarf und sie können ihre Traumata durch Therapien aufarbeiten. Daher ist eine individuelle Fallanalyse im Kontext „Trauma“ von großer Bedeutung. Die aufnehmende Gesellschaft sollte mit dem Thema Trauma realistisch, sach- und zeitgerecht und vor allem differenziert umgehen und langfristig kultursensible Therapieangebote bereitstellen.
 
Ist eine geschlechtersensible Arbeit mit unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten notwendig? Wie wird das in Hannover umgesetzt?

Aus meiner Sicht ja. Nicht nur bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, sondern auch insgesamt befindet sich die Jugendhilfe in Hannover im Bereich Gender Mainstreaming auf dem richtigen Weg. Ich persönlich arbeite vorwiegend mit männlichen Jugendlichen, da mehr als 90 Prozent der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge die zu uns kommen, Jungen sind. Ich weiß, dass viele Mädchen und junge Frauen in der Region Hannover in den bestehenden geschlechtersensiblen stationären Angeboten integriert werden und auch weibliche Ansprechpartnerinnen haben.

Was sind Ihre persönlichen Empfehlungen für die Integration unbegleiteter Minderjähriger?

Schon vor der „Krise“ war meines Erachtens die Integrationspolitik in Deutschland verbesserungswürdig. Wir müssen aus den vergangenen Fehlern lernen. Das bedeutet konkret, dass wir mehr in den Bereich Integration – von der Konzipierung bis zur Umsetzung – investieren müssen. Jetzt an der falschen Ecke zu sparen wird zur Folge haben, dass manche dieser jungen Menschen auf die schiefe Bahn geraten oder in Teilen des sozialen Hilfssystems landen. Das muss verhindert werden. Gesetz- und Bildungsbarrieren müssen abgeschafft werden und der Zugang zu den Regelangeboten muss geflüchteten Jugendlichen erleichtert werden, um diese leichter in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt zu integrieren. Es herrschen nach wie vor viele bürokratische Strukturen und Abstimmungsprobleme zwischen den relevanten Bereichen wie Jugendhilfe, Bildung und Arbeit. Die Ressourcen der Migrantenselbstorganisationen und der Ehrenamtlichen müssen besser gebündelt werden. Auf der bundespolitischen Ebene werden unbegleitete jugendliche Geflüchtete, so kommt es mir manchmal vor, mit der Jugendhilfe alleine gelassen. Die gesamtpolitische Ebene, besonders der Bund als Gesetzgeber, muss sich mehr mit der Integration von dieser Gruppe befassen, und einen zielgruppenspezifischen Integrationsplan samt adäquaten Präventionsmaßnahmen als Begleitung erstellen.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft von jungen Geflüchteten?

Ich wünsche mir, dass jugendliche Geflüchtete nach der Erstversorgung nicht allein gelassen werden. Ich hoffe, dass wir sie in unserer Mitte integrieren können und nicht an kriminelle oder radikale Strömungen verlieren. Dafür brauchen wir ein solides Präventions- und Integrationskonzept unter der Berücksichtigung von Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung der jungen Menschen. Also ein bisschen weniger verwalten und mehr gestalten und mitgestalten lassen. Aus meiner Erfahrung ist Integration nicht nur Deutsch zu können und „nicht auffällig“ zu werden. Integration ist gelungen, wenn diese jungen Menschen trotz kultureller Unterscheide freiwillig, pflichtbewusst und eigenermächtigt mit und unter uns leben wollen und nicht neben uns am Rand der Gesellschaft leben müssen.

Das Interview führte Lara Röscheisen.

 

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