Kooperation statt Konfrontation

Human Rights Council in Genf
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Human Rights Council in Genf

Ohne Frieden keine nachhaltige Entwicklung – das hat die internationale Staatengemeinschaft endlich anerkannt. Über Prävention, eine neue Kultur der Zusammenarbeit und das Ende des Schubladendenkens.

Die auf den ersten Blick recht banale Feststellung in der Präambel der Agenda 2030, dass es ohne Frieden keine nachhaltige Entwicklung geben kann und ohne nachhaltige Entwicklung keinen Frieden, ist bei genauerer Betrachtung ein fast nicht für möglich gehaltener Meilenstein internationaler Kooperation. Denn mit dieser Formulierung rückt Frieden ins Zentrum des neuen globalen Rahmen - werks. Trotz erheblicher Widerstände einiger Staaten ist es gelungen, Frieden sowohl als wichtige Voraussetzung für nachhaltige Entwicklung als auch als eigenständiges Nachhaltigkeitsziel – in SDG 16 – aufzunehmen. Die Agenda 2030 erkennt damit an, dass Entwicklung einerseits mehr ist als reines Wirtschaftswachstum und andererseits von Krieg und Gewalt die größten Gefahren für Nachhaltigkeit ausgehen. Letzteres belegt auch die Tatsache, dass alle sieben Länder, die wahrscheinlich kein einziges Millenniumsentwicklungsziel (MDGs) bis Ende 2015 erreichen werden, von Gewalt betroffen sind. (1) Jedes zweite Kind ohne Zugang zu Primärbildung lebt in einem Land, in dem ein gewaltsamer Konflikt ausgetragen wird. (2) Vor diesem Hintergrund sind die Trends besorgniserregend: Zunehmend wird sich extreme Armut in Konfliktregionen konzentrieren. Mindestens 62 Prozent der Ärmsten werden nach Berechnungen der OECD im Jahr 2030 in fragilen und von Konflikten betroffenen Staaten leben. Konflikt und Gewalt werden zur „letzten Meile“ der Bekämpfung extremer Armut.

„Wir sind entschlossen, friedliche, gerechte und inklusive Gesellschaften zu fördern, die frei von Furcht und Gewalt sind. Ohne Frieden kann es keine nachhaltige Entwicklung geben und ohne nachhaltige Entwicklung keinen Frieden.“ _ Aus der Präambel der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung zu „Frieden“ (Peace)

Darüber hinaus machen die aktuellen Schlagzeilen deutlich: Die Welt wird wieder unsicherer. Nahm in den vergangenen Jahrzehnten die Anzahl bewaffneter Konflikte weltweit ab, stieg sie dem Uppsala Conflict Data Program zufolge zuletzt wieder an. (3) Symptomatisch dafür steht die weltweite Flüchtlingskrise mit derzeit etwa 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Gewalt ist aber nicht nur ein Problem der ärmsten Länder: Auch in aufstrebenden Ländern steigt das Konfliktpotenzial aufgrund der Ausgrenzung vom sozio-ökonomischen Fortschritt. Radikalisierung und schwindender sozialer Zusammenhalt sind besorgniserregende Entwicklungen in Deutschland und Europa.

Die SDGs sind daher auch eine Reaktion auf eine komplexer, umstrittener und vernetzter werdende Welt. Sie bieten damit das Potenzial, den entwicklungspolitischen Diskurs wieder in die richtige Richtung zu lenken. Denn im Zentrum der MDGs standen eher ausgewählte Symptome von Armut und Ungerechtigkeit und weniger ihre tiefer liegenden Ursachen. Vor allem haben sie nicht berücksichtigt, dass gesellschaftlicher Wandel ein inhärent politischer Prozess ist. Im Gegenteil haben sie eher Anreize geliefert, Fortschritte technisch zu messen und entsprechend die Ressourcen zu investieren. Bei den SDGs kann zumindest keiner behaupten, sie seien zu eng geführt. Allerdings wird bereits versucht, die 17 Ziele und 169 Unterzeile als zu komplex und deshalb wenig zielführend zu diskreditieren. Diese Sehnsucht nach einem technischen Entwicklungsverständnis à la MDGs ist jedoch wenig hilfreich.

Kein Standardrezept für globalen Frieden

Strategien und Rezepte für eine friedliche Entwicklung lassen sich nicht auf globaler Ebene definieren, sondern müssen in lokalen Prozessen errungen und an den lokalen Kontext angepasst werden. Die Agenda 2030 kann diesen Weg nicht präskriptiv für jedes Land festlegen – und erhebt diesen Anspruch auch gar nicht. Man mag darüber hinaus ar gumentieren, dass die SDGs keine Antwort auf den Ordnungsverfall in vielen Regionen liefern. Und es stimmt auch, dass die SDGs für akute Krisen – wie in Syrien, Libyen, Jemen oder dem Südsudan – erstmal nicht viel mehr als eine positive Vision bieten.

Aber vielleicht wird genau diese derzeit dringend benötigt. Schließlich beobachten wir, wie Nationen zunehmend im individuellen, kurzfristigen Interesse handeln und nicht im globalen, langfristigen Interesse. Die Außenwelt wird mehr als Bedrohung anstatt als Kooperationspartner für die Lösung globaler Herausforderungen gesehen. Die Welt braucht vielleicht mehr denn je eine langfristige Vision, die die tiefer liegenden Ursachen der heutigen Probleme angeht, um von Krisenreaktion auf Krisenprävention umschalten zu können. Die Agenda 2030 kann trotz der aktuellen, akuten Krisen- und Kriegssituationen dabei helfen, den Blick auf die langfristigen Herausforderungen friedlicher Entwicklung zu lenken.

Und sie kann zumindest Orientierung geben und die wesentlichen Elemente benennen, die für eine friedliche und nachhaltige Entwicklung notwendig sind. Tatsächlich sind viele wichtige Anliegen aus der Friedensförderung in SDG 16 eingeflossen: unter anderem die Reduzierung von Gewalt, die Berücksichtigung globaler Konflikttreiber wie Waffenhandel und illegale Finanzflüsse, die gerechte Bereitstellung von Sicherheits- und Justizdienstleistungen, transparente, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen, die Eindämmung von Korruption, inklusives Wachstum oder die Partizipation aller sozialen Gruppen an politischen Entscheidungsprozessen. Darüber hinaus ist ein wesentlicher Konfliktfaktor, nämlich die Ausgrenzung bestimmter sozialer Gruppen oder von Regionen, auch in anderen Zielen verankert. So spricht SDG 10 zum Beispiel die Reduzierung von sozialen und ökonomischen Ungleichheiten zwischen sozialen Gruppen an. Damit gibt die Agenda 2030 den Akteuren vor Ort ein Instrument in die Hand, um gesellschaftlichen Wandel auch gegen Widerstände einzufordern. Idealerweise werden sich Regierungen daran messen lassen müssen, ob sie die Agenda im Rahmen eines offenen gesellschaftlichen Dialogs über den jeweiligen Weg zur friedlichen Entwicklung umsetzen.

Externe Akteure sind gefordert, diese Dialogräume zu stärken. Denn komplexe Probleme – wie chronische Armut, Marginalisierung und strukturelle Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen – sind in erster Linie politischer Natur und lassen sich nicht mit vorgefertigten technischen Ansätzen von außen lösen. Selbst scheinbar technische Herausforderungen wie die Bereitstellung sozialer Dienstleistungen oder das Management natürlicher Ressourcen haben immer einen politischen Kern. Nachhaltige Entwicklung ist das Ergebnis eines komplexen, unüber - sichtlichen und endogenen gesellschaftlichen Prozesses, der sich von außen weder steuern noch kontrollieren lässt.

Die SDGs erfordern hier auch ein Umdenken der internationalen Gebergemeinschaft, sich weniger als Problemlöser, sondern vielmehr als Begleiter innergesellschaftlicher Prozesse zu begreifen. Ausgangspunkt muss ein gemeinsames Verständnis der politischen Interessen aller beteiligter Gruppen und deren Beziehungen untereinander sein. Erst danach lässt sich entscheiden, ob und wie Entwicklungszusammenarbeit die Prozesse unterstützen kann.

Risiken und Nebenwirkungen

Bei der Umsetzung der Agenda 2030 ergeben sich Gefahren und Grenzen, die zum Teil politischer Natur, zum anderen auch im System internationaler Kooperation selber angelegt sind: Erstens ist SDG 16 trotz aller Errungenschaften keinesfalls perfekt. Den Unterzielen fehlt eine innere Logik, und eine Reihe von friedensrelevanten Aspekten ist nicht adäquat abgebildet. Zum Beispiel gibt es keine Verpflichtung auf gewaltfreie Konflikttransformation, keinen Hinweis auf Toleranz als wesentliche Voraussetzung für inklusive Gesellschaften und auch keine Erwähnung von Aussöhnung als wichtige Bedingung für gesellschaftliches Zusammenleben nach Zeiten von Gewalt und autoritärer Herrschaft. Kompromisse mussten ebenfalls eingegangen werden bei Formulierungen zu guter Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit und Freiheitsrechten. Besser wäre es auch gewesen, wenn die Schnittstellen zwischen Frieden und anderen Sektoren – wie Bildung, Gesundheit, Land oder Energie – in den Zielen expliziter dargestellt wären. Eine kohärente Friedenspolitik lässt sich daher nur bedingt auf Grundlage der Agenda 2030 entwickeln und umsetzen.

Zweitens besteht die Gefahr, dass die SDGs als Blaupause missverstanden werden und die globalen Ziele und Indikatoren eins zu eins in nationale Strategien überführt werden. Es wäre jedoch nicht nur vermessen zu erwarten, dass nationale Prioritäten global festgelegt werden können, gerade in SDG 16 sind die Unterziele sehr vage formuliert. Was heißt zum Beispiel „Alle Formen der Gewalt und die gewaltbedingte Sterblichkeit überall deutlich verringern“? Hier braucht es partizipative Prozesse auf nationaler Ebene, um diese Ziele präziser zu formulieren und ein ambitioniertes, aber gleichzeitig realistisches Zielniveau zu definieren.

Drittens birgt die Nutzung von eher vagen Begriffen und Zielformulierungen auch das Risiko der Vereinnahmung durch kurzfristige Sicherheitsinteressen zur Terrorismus- und Kriminalitätsbekämpfung. Die Agenda 2030 eröffnet anderseits Möglichkeiten für den politikfeldübergreifenden Dialog zwischen Entwicklungs- und Sicherheitspolitik. Die Herausforderung wird dabei sein, die langfristigen Ansätze der Agenda 2030 in den Vordergrund zu stellen. Hierfür sind Partnerschaften wie die Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung hilfreich, die staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure aus dem entwicklungs- und friedenspolitischen Bereich zusammenbringen.

„Die Agenda 2030 gibt den Akteuren vor Ort ein Instrument in die Hand, um gesellschaftlichen Wandel auch gegen Widerstände einzufordern.“

Viertens müssen friedenspolitische Organisationen auch über die Inhalte von SDG 16 die Deutungs- und Kommunikationshoheit behalten. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob von der Stärkung friedlicher Gesellschaften und inklusiver Institutionen die Rede ist oder, wie bereits häufig zu lesen ist, SDG 16 auf die Förderung starker Institutionen reduziert wird. Hier lauert die Gefahr, dass gescheiterte Statebuilding- Ansätze wiederholt, anstatt transformative Ansätze gestärkt werden.

In der Präambel der Agenda 2030 wird die integrierte Natur der Ziele betont und gefordert, die Dinge im Zusammenhang zu sehen. Frieden und Inklusivität definiert sie damit als wesentliche Bedingung für die Erreichung anderer Ziele. Die viel beschworene Große Transformation kennt nicht nur Sieger und wird Widerstände und neue Konflikte mit sich bringen, deshalb bedarf sie der Begleitung durch zielgerichtete Prävention und Konfliktbearbeitung. Dies erfordert eine neue Kultur der Zusammenarbeit von Entwicklungs-, Friedens- und Umweltorganisationen, ein Ende des Schubladendenkens und die Entwicklung von integrierten Strategien und politikfeldübergreifenden Partnerschaften zum Austausch von Erfahrungen und Wissen. Aus Friedensperspektive wäre es zumindest wichtig, einen konfliktsensiblen Ansatz bei der Verfolgung aller Ziele zu wählen und die Friedenspotenziale in anderen Sektoren zu suchen und zu nutzen.

Friedensförderung als globale Zukunftsaufgabe

In einer Welt ökonomischer, politischer, sozialer und ökologischer Vernetzung sind auch Konfliktursachen nicht allein lokaler Natur. Die Dynamik von gewaltsamen Konflikten wird von regionalen und globalen Faktoren beeinflusst – gleichzeitig haben gewaltsame Konflikte Auswirkungen auf globale Entwicklungen. Kein Land der Welt kann allein mit nationalen Maßnahmen wirksam gegen den illegalen Handel mit Waffen, Drogen, Konfliktrohstoffen oder Menschen vorgehen. Es ist daher begrüßenswert, dass die SDGs im Gegensatz zu den MDGs für alle Länder konzipiert wurden und universelle Gültigkeit beanspruchen. Frieden wird damit zu einem gemeinsamen globalen Ziel – Friedensförderung zur globalen Zukunftsaufgabe.

Auch für reiche Länder heißt dies, ernsthaft zu prüfen, wie sich SDG 16 in nationale Ziele und Indikatoren sowie Verfahren und Instrumente übersetzen lässt. Um SDG 16 gerecht zu werden, hat Deutschland beispielsweise die Verantwortung, die negativen Wirkungen eigenen Handelns auf die Dynamik lokaler Konflikte in anderen Ländern zu reduzieren. Zum Beispiel braucht es verpflichtende Regelungen zum Umgang mit Rohstoffen, deren Abbau und Handel Konfliktparteien und Gewaltakteuren zur Finanzierung dienen, was wiederum komplexe Konfliktdynamiken beeinflusst. Einige Bausteine für eine globale Partnerschaft zur Umsetzung von SDG 16 wären:

  • eine restriktivere Rüstungsexportpolitik, unter anderem die Reduzierung des Exports kleiner und leichter Waffen sowie eine effektivere Endverbleibskontrolle,
  • die Bekämpfung illegaler Finanzströme und die Rückführung gestohlener Vermögenswerte (4),
  • die Stärkung von Haftungs- und Sorgfaltspflichten entlang der Wertschöpfungsketten (5),
  • die Gestaltung einer menschenrechtskonformen und friedensorientierten Migrations- und Flüchtlingspolitik (6) sowie
  • eine nachhaltige Ernährungs- und Energiepolitik, die die negativen Folgen hinsichtlich des Flächenverbrauchs in Entwicklungsländern und die damit verbundenen Konfliktpotenziale berücksichtigt.

Diese unvollständige Liste zeigt bereits, dass die Verantwortung für die Umsetzung nicht nur bei entwicklungspolitischen Akteuren liegt und die Prioritäten und Umsetzungsschritte in einer breiten Debatte definiert werden sollten, die vor Zielkonflikten nicht zurückschreckt.

Mit der Agenda 2030 und insbesondere SDG 16 gibt es die Chance, die unterschiedlichen nationalen und globalen Konfliktursachen stärker ins Blickfeld zu nehmen und die globale Verantwortung für die Prävention von gewaltsamen Konflikten – und nicht die Reaktion darauf – in den Vordergrund zu stellen. Wichtig wird es sein, einer Vereinnahmung durch kurzfristige Sicherheitsinteressen und einem einseitigen Fokus auf starke Institutionen zu widerstehen und eine kohärente Umsetzungsstrategie zu entwickeln.

 

Dieser Beitrag erschien erstmals in Ausgabe 143 der Zeitschrift politische ökologie.