Podiumsdiskussion: „Belarus trotz(t) Lukaschenko“

Karte: Administrative Teilung Belarus

Unter dem Motto „Belarus trotz(t) Lukaschenko – Wege zur gesellschaftlichen und kulturellen Emanzipation“ lud die Heinrich-Böll-Stiftung am 02. November 2015 zu einer Podiumsdiskussion ein. Am Tisch saßen sich verschiedene Akteure aus Minsk und Berlin gegenüber: der Dichter und Schriftsteller Ihar Babkov, der Philosoph Uladzimir Matskevich, der Künstler und Designer Michal Anempadystau und die Autorin Maryna Rakhlei. Moderiert wurde der Abend von Walter Kaufmann von der Heinrich-Böll-Stiftung.

Gemeinsam diskutierten die Teilnehmer über ein Belarus-Bild, das in der deutschen Öffentlichkeit sowie in der Europäischen Union kaum existent ist – nämlich über das Bild eines modernen, zukunftsorientierten Landes, in dem gesellschaftlich, kulturell wie intellektuell eine Menge passiert. „Normalerweise wird das Land nur mit wenigen Klischees erwähnt“, sagte Walter Kaufmann in seiner Einführung. Eines finde dabei am häufigsten Verwendung: das Klischee von Belarus als „der letzten Diktatur Europas“. „Doch diese Aussage ist mindestens so falsch und absurd wie die Rede vom Ende der Geschichte“, so Walter Kaufmann.

Wie es sich in dem autoritären Land lebt und arbeitet, wollte er von seinen Gästen wissen. Aktuelle Ereignisse, wie beispielsweise das jüngste und wenig überraschende Ergebnis der Präsidentschaftswahl oder Lukaschenkos Engagement beim Minsker Gipfel, sollten dabei außen vor bleiben.

Autoritäre Modelle vs. Europas Demokratie

Den Anfang in der Diskussion machte Uladzimir Matskevich. Der Politikwissenschaftler und Philosoph hat 20 Jahre in Moskau gelebt, seit zwei Jahren ist er wieder in Minsk zuhause. Er sieht in der Existenz solcher Diktaturen wie in Belarus und Russland aufgrund der Nähe zu Europa eine große Gefahr für die europäische Politik und europäische Lebensweise. Den belarussischen Weg als rückständig zu bezeichnen, möchte er jedoch nicht. Diese ersten Diktaturen in einer modernen, humanistischen Welt seien ein anderes Gesellschaftsmodell, das es zu analysieren gilt. „Wir dachten lange Zeit, wir sind Außenseiter, weil wir es nicht geschafft hatten, den Prozessen zu folgen, die überall im postsowjetischen Raum stattgefunden haben, also der Übergang vom sowjetischen Totalitarismus bis zur Demokratie nach dem westlichen Muster“, so Uladzimir Matskevich. Doch heute stellt er fest: „Das ist keine Art zu spät zu kommen, sondern eine andere Herangehensweise an die Probleme, die viele Länder bewegen.“  Es gebe viele, die die Diktaturen unterstützen. „Auch ohne das Fälschen von Wahlergebnissen, egal ob in Belarus oder Russland, würden Lukaschenko und Putin gewinnen“, so seine Überzeugung.

Als besonders gefährlich sieht er vor allem den Prozess der Monopolisierung der Medien, der Bildung und Kultur. Gegen diese Entwicklung anzukämpfen – das sei das Ziel seiner Politik und die der anderen belarussischen Intelektuellen. „Wir hoffen, dass sich die Situation ändern wird und wir uns einmal an allen europäischen Prozessen beteiligen können. Wir wollen nicht nur Geld von Europa bekommen. Wir möchten als gleichberechtigte Partner an allen europäischen Prozessen teilnehmen. Wir möchten zu Lösungen der Probleme in Europa beitragen, weil auch wir davon betroffen sind“, sagte Uladzimir Matskevich.

Die belarussische Realität und Identität

Ihar Babkov unterstrich im Anschluss den Aspekt, dass Belarus weder rückwärtsgewandt noch dumm sei – und vor allem auch mehr als Autoritarismus und Lukaschenko. „Das ist eine viel zu vereinfachte Darstellung der belarussischen Realität“, so der Schriftsteller, der auch als Dozent an der Universität tätig ist.

Eine der Wirklichkeiten in seinem Land sei die Mehrsprachigkeit und die multikulturelle Tradition. „Das ist unser größter Reichtum und auch die größte Herausforderung“, so Ihar Babkov. Denn die Umgebung sei bisher noch eine konfliktgeladene: Auf der einen Seite seien die russische Sprache und Kultur sehr ausgeprägt, auf der anderen die belarussische. Er beobachtet zwischen diesen beiden Welten einen Kampf, der vor allem in den Köpfen ausgetragen wird. Die Lösung des Konflikts, so die Idee einiger Intellektueller seit den 1990er-Jahren, könne nur darin liegen, eine dritte oder sogar vierte Sprache und Kultur in den Grenzraum aufzunehmen. „Dann hört die Situation auf, eindeutig zu sein“, so Ihar Babkov.    

Zugleich skizzierte er eine ständige Identitätssuche der Belarussen. „Sie glauben immer noch nicht an ihre eigene Existenz. Ein Pole kann nur Pole sein, ein Franzose nur ein Franzose, ein Deutscher nur ein Deutscher. Und der Belarusse? Was ist mit ihm? Er zweifelt ständig. Er ist kein ausgereifter Belarusse, ein bisschen Russe, ein bisschen Pole, ein bisschen Litauer. Auf unsere Güter schreiben wir dann Made in Europa. Das ist ein Spiel mit unterschiedlichen Komponenten – aber  ich denke, das ist ein schöner Gesichtszug der belarussischen Identität.“ Diese Flexibilität würde Europa auch gut stehen.

Ein Land – zwei Kulturmodelle

Dass die belarussische Kultur heute aus zwei Kulturmodellen besteht, damit befasste sich der Minsker Künstler Michal Anempadystau in seinem Beitrag. Auf der einen Seite stehe das belarussische, auf der anderen das sowjetische Modell.

Das belarussische Modell sei das europaorientierte, das im Laufe der Jahrhunderte von verschiedenen Ethnien und Konfessionen geprägt worden ist. „In dem Raum lebten die baltischen Völker, die slawischen, die Tataren, später die Juden, dann kamen aus Russland die Altgläubigen, die von dort geflüchtet waren.“ Dieses multikulturelle Moment drang bis ins 20. Jahrhundert vor, als die erste belarussische Republik gegründet worden war. „Belarus hatte am Anfang vier Staatssprachen, es war sogar das einzige Land weltweit, dass das Jiddisch als Amtssprache hatte“, betonte der Minsker Künstler. „All das bezeichne ich als belarussische Tradition.“

Das zweite belarussische Kulturmodell bezeichnet Michal Anempadystau als das sowjetische. Es habe sich ohne grundlegende sowjetische Werte herausgebildet und trage bestimmte russische Mythen und Fragmente der russischen Geschichte in sich. Es sei ein Mosaik-Modell wie das belarussische – „aber nicht stabil“. „Dieses Modell fängt nun an zu zerbröseln, die Identität wird ausgehüllt; es werden Informationskriege geführt, die dazu beitragen, dass dieses Modell sich selbst zerstört.“

Der Staat vertrete zwar teilweise das belarussische Modell, indem er einige historische Aspekte daraus wähle, handle jedoch nicht unabhängig. „Es gibt viele Dinge, die für die Existenz einer Kultur aber wichtig sind, die nur der Staat schaffen kann: ob die Ausbildung, die wissenschaftliche Arbeit oder die Medien.“

Trotz der staatlichen Abhängigkeit habe sich eine unabhängige belarussische Kultur entwickeln können, meint Michal Anempadystau. „In den vergangenen 20 Jahren sogar recht erfolgreich, ich weiß selbst nicht, warum und wie.“ Doch der Weg in die Zukunft sei deshalb noch lange nicht eingeschlagen. „Wir müssen die geschichtlichen Hintergründe auferstehen lassen, sodass wir die Kultur der Zukunft bauen können.“

Politische Relevanz von Kultur

Die Frage, welche politische Relevanz die belarussische Kultur im Alltag habe, beantwortete Maryna Rakhlei. Auf der einen Seite beobachtet die in Berlin lebende Minskerin die Gespräche von Fachleuten und Journalisten, die sich um EU-Sanktionen und Poltik drehen. „Wenn man sich aber mit Freunden oder der Familie trifft, spricht man über Kultur und Geschichte.“ In den vergangenen Jahren habe sich eine Vielzahl von privaten Initiativen auf dem Gebiet der belarussischen Sprache, Literatur und Geschichte entwickelt, die von staatlicher Seite akzeptiert wird. „Man möchte wissen, was hinter dem Begriff Belarus steckt“, so die Autorin und Programmmitarbeiterin beim German Marshall Fund. „Man fängt an, sich zu definieren. 'Ich bin kein Pole, kein Russe, ich bin anders'.“

Diesen Identifikationsprozess beobachtet sie vor allem in dem Teil der Bevölkerung, der seit mehreren Generationen in Belarus lebt. Doch es gebe auch einen zweiten, einen sowjetisch geprägten Teil. Das seien Menschen, die während der Sowjetzeit beispielsweise in Wladiwostok geboren wurden, in Riga studiert haben und dann erst in Minsk sesshaft geworden sind. Zwischen beiden Polen gebe es eine Kluft, die vor allem durch weitere Bildungsinitiativen – besonders für jüngere Generationen – geschmälert werden könnte.

Europa und Belarus

Was es mit der belarussischen Kritik an der Europäischen Union auf sich hat, wollte Walter Kaufmann zum Abschluss von seinen Gästen wissen. „Ist die EU heute noch etwas Attraktives für Belarus?“, so der Moderator.

Uladzimir Matskevich stellte daraufhin klar, dass er, wenn er Kritik an der Politik der Europäischen Union ausübe, nicht gegen Europa kämpfe. Denn er stehe hinter den Werten, die die EU vertrete. Doch die Politik der Akteure möchte er kritisieren dürfen – „das ist eine ganz normale europäische Kritik“. Denn er beobachtet im Umgang mit belarussischen Problemen „einen gewissen Dilettantismus, Fehler“. Darauf reagiere er mit anderen Intelektuellen.  „Wir kämpfen auch gegen unser eigenes Regime, soweit wir es eben können.“ Ein Regime, das nicht unabhängig agiere.

Um zukünftig eine echte, partnerschaftliche Zusammenarbeit mit der EU zustande zu bekommen, seien vor allem zwei Dinge notwendig: aufrichtiges Interesse aneinander und Toleranz. Beides fordert er auch im Umgang mit Russland ein. „Wenn wir sagen, Russland interessiert uns gar nicht, dann sind wir schwach für den Informationskrieg aus Russland. “

Ihar Babkov stellte klar, dass er sich als Europäer fühle, sich mit den europäischen Werten identifiziere. „Das sind nicht die Werte von McDonalds. Nein. Das sind die Werte von kleinen Orten, an denen sich die Menschen wohl fühlen, an denen sie sich frei fühlen. Ich denke die Belarussen stehen diesen Werten sehr nah. Wir sind in der Tat Europäer.“

Berlin, 4. November 2015

Maria Ugoljew