Reproduktive Rechte in Brasilien: "Wir müssen Widerstand leisten!"

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Slogan zur Legalisierung der Abtreibung auf einer brasilianischen Straße

Konservative attackieren in Brasilien über lange Jahre erkämpfte Rechte zur Selbstbestimmung der Frau über den eigenen Körper. Die brasilianische Aktivistin Guacira de Oliveira (CFEMEA) gibt im Interview einen Überblick zum Stand der Debatte.

Auf der letzten Nationalen Konferenz zum Thema Frauenpolitik im Dezember 2011 hat Brasilien die 1995 beschlossenen Vereinbarungen der Pekinger Aktionsplattform bekräftigt und erklärt, die nationale Strafgesetzgebung zur Abtreibung zu revidieren, um die Rechte, die Gesundheit und das Leben der Frauen zu schützen. Bisher ist aber nichts geschehen. In einem Interview mit der Heinrich-Böll-Stiftung gibt Guacira de Oliveira einen Überblick über den derzeitigen Kampf um die sexuellen und reproduktiven Rechte der Frauen in Brasilien.

Guacira de Oliveira ist Vorstandsmitglied der CFEMEA (Feministisches Studien- und Beratungszentrum), einer Organisation zur Stärkung der Demokratie und der Rechte der Frauen in Brasilien. Als Mitglied der brasilianischen Delegation der Zivilgesellschaft reiste sie 1995 zur Weltfrauenkonferenz der Vereinten Nationen nach Peking und stellte dort die Forderungen der brasilianischen Frauenbewegungen vor.

Welche Fragen standen bei der Konferenz ganz oben auf der Tagesordnung?

Guacira de Oliveira: Die brasilianischen Frauenbewegungen hatten zahlreiche Forderungen. Im Jahre der Weltfrauenkonferenz  - 1995 - war Brasilien eine noch junge Demokratie; die neue Verfassung war erst 1988 verabschiedet worden. Es fehlte an fast allem: Eine politische Teilhabe gab es ebenso wenig wie die öffentliche Debatte über  geschlechtsspezifische Arbeitsteilung,  über Rassismus und Gewalt gegen Frauen; von sexuellen und reproduktiven Rechten und überhaupt von sozialen Rechten war nicht die Rede. Es gab aber eine lebendige Frauenbewegung und Brasilien schickte die größte zivilgesellschaftliche Frauendelegation nach Peking.

Dem brasilianischen Kongress - der seit der Rückkehr zur Demokratie so konservativ ist wie nie zuvor - liegen Dutzende von Gesetzesentwürfe vor, die darauf abzielen, den Frauen bereits erkämpfte Rechte wieder zu entziehen oder die in eine antidemokratische und konservative Richtung gehen. So gibt es zum Beispiel die Forderung, Schwangerschaftsabbrüche härter zu bestrafen. Illegale Abtreibungskliniken waren zur Schließung gezwungen, nachdem die Medien Todesfälle in diesen Kliniken ausgeschlachtet hatten. Was ist davon zu halten?

Vor der letzten Nationalen Konferenz zum Thema Frauenpolitik hatten alle Konferenzen auf bundesstaatlicher und kommunaler Ebene mehrheitlich gefordert, die Strafgesetzgebung zur Abtreibung - wie von der Weltfrauenkonferenz 1995 empfohlen - zu revidieren. Auch wenn dies an sich auf der Nationalen Konferenz zur Frauenpolitik so beschlossen wurde, ist in der öffentlichen Gesundheitspolitik nichts davon zu spüren. Ebenso wenig ist im Nationalen Plan für Frauenpolitik davon die Rede. Im Gegenteil: Viele der ins brasilianische Parlament eingebrachten Gesetzesvorschläge gehen dahin, den Schwangerschaftsabbruch noch stärker als bisher zu kriminalisieren und die Gesetzgebung in einem nie dagewesenen Maße zu verschärfen. Das ist ein Rückschlag. Der fundamentalistischen, konservativen Offensive ist es gelungen, die Debatte in geradezu beängstigender Intensität auszubremsen.

Der jüngste Versuch, diese Debatte  im Kongress wieder voranzubringen, ist der Gesetzesentwurf 882/2015 (siehe Info-Box unten) des Abgeordneten Jean Wyllys (PSOL), an dessen Ausarbeitung CFEMEA beteiligt war. Angesichts der konservativen Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses halten einige soziale Bewegungen den Zeitpunkt der Vorlage dieses Entwurfes für verfrüht. Halten Sie es für möglich, dass er überhaupt ernsthaft debattiert wird?

Meiner Meinung nach müssen wir jetzt Widerstand leisten. Angesichts der enormen konservativen Offensive können wir nur mit politischem Widerstand reagieren. Aber es ist sehr schwierig, geeignete Kanäle für eine Debatte über Jean Wyllys' Projekt zu finden, das wir selbst als fortschrittlich einschätzen. Es gibt nicht einmal genügend Raum, die Diskussion anzustoßen.

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums war Schwangerschaftsabbruch im Jahr 2013 die fünfhäufigste Ursache für Müttersterblichkeit. 1990 war dieser noch die dritthäufigste Ursache; dennoch hat Brasilien das Milleniumsentwicklungsziel verfehlt, die Müttersterblichkeitsrate von 1990 bis 2015 um 75% zu verringern. Außerdem geht diese Zahl nach einem Bericht der Partnerschaft für Mütter-, Neugeborenen- und Kindergesundheit (PMNCH, [Anm. d. Red. eine von der Weltgesundheitsorganisation koordinierte Initiative]) von 2014 weltweit in nur drei Ländern noch langsamer zurück als in Brasilien. Wie sehen Sie die Haltung der Regierung Rousseff dazu?

Ich finde, die Regierung war in dieser Frage zu zurückhaltend. Der Umgang mit der Abtreibungsfrage ist von ausschlaggebender Bedeutung für die Lösung Problems der Müttersterblichkeit in Brasilien. Die Präsidentin hat zwar ein Programm auf den Weg gebracht, in dem es um Gesundheitsfürsorge für Mutter und Kind geht (Programm Rede Cegonha), leider aber nicht um die sexuellen und reproduktiven Rechte. Die brasilianische Regierung hat auf anderen Gebieten bedeutsame Verbesserungen erreicht, mit denen sich Brasilien international neu positionieren konnte, aber zur grundlegenden Frage der Abtreibung innerhalb der Debatte um Müttersterblichkeit ist nichts passiert, weil sich hierfür niemand von der Regierung engagiert und die Frage überhaupt keine politische Priorität genießt.

Die neuen Reproduktionstechnologien der Pharmaindustrie haben einige ethische Fragen aufgeworfen, die wiederum mit patriarchalischen Werten in Zusammenhang stehen. Das Unternehmen Facebook bietet seinen Mitarbeiterinnen an, die Kosten für das Einfrieren von Eizellen zu übernehmen, um ihnen einen Anreiz zu geben, die Schwangerschaft  auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Können diese neuen Technologien und Behandlungsmethoden als Rechte angesehen werden?

Sie können ein Recht sein - oder sie können ein Geschäft sein. Das so zu regeln, dass es zu einem Recht wird, ist eine wichtige Aufgabe. Die Pharmaindustrie übt einen beträchtlichen Einfluss auf den brasilianischen Kongress aus. Und da Wahlen und Politik generell durch den Privatsektor beeinflusst werden, ist zu befürchten, dass neue, regulierende Politiken im Bereich der Reproduktionstechnologien eher wirtschaftlichen Interessen gerecht werden als den sexuellen und reproduktiven Rechten der Frau. Interessanterweise enthält die brasilianische Verfassung eine Bestimmung, nach der es Unternehmen untersagt ist, mit Dienstleistungen oder Zwangspraktiken in die Familienplanung einzugreifen. In den 1980er Jahren mischten sich Unternehmen direkt in die Familienplanung ihrer Mitarbeiterinnen ein, indem sie sie zur Verhütung oder sogar Sterilisation verpflichteten. Das wurde dann durch den Staat rechtlich verboten und mit dem Gesetz zur Familienplanung wurde 1996 die Beratung zur Familienplanung als Aufgabe des öffentlichen Gesundheitssystems definiert. Heute  - mit den neuen Technologien der künstlichen Befruchtung – wird jedoch die alte Praxis der Nötigung wieder aufgegriffen, und zwar mit dem Angebot Eizellen einzufrieren. Von Achtung irgendwelcher Rechte kann nicht die Rede sein. Hinter dieser Art von Offerte steckt ja häufig eine gegen die Rechte der Frauen gerichtete Absicht. 

Info-Box
Jean Wyllys‘ Projekt 882/2015, an dessen Ausarbeitung sich zahlreiche Expert/innen und Akteure aus der Zivilgesellschaft sowie u.a. Mitarbeiter/innen aus dem Gesundheitsministerium beteiligten, ist einer von momentan drei Gesetzesentwürfen, die die Rechte der Frauen auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper stärken sollen.

Zum Vergleich: Im August 2014 lagen dem brasilianischen Nationalkongress 39 Gesetzesentwürfe vor, die darauf abzielten, die sexuellen und reproduktiven Rechte noch weiter einzuschränken. Der Entwurf 882/2015 sucht die aktuelle Gesetzgebung in diesem Bereich zu verbessern: Ein Schwangerschaftsabbruch ist bisher nur im Falle einer Vergewaltigung oder bei Lebensgefahr für die Schwangere erlaubt.

Der Oberste Gerichtshof genehmigte 2012 weiterhin die Abtreibung von Föten mit Anenzephalie. Mit dem neuen Gesetz soll eine selbstbestimmte und sichere Unterbrechung der Schwangerschaft bis zur 12. Woche möglich sein, und im Falle sexueller Gewalt, der Lebensunfähigkeit des Fötus oder bei Gefahr für Gesundheit bzw. Leben der Schwangeren auch ein späterer Abbruch. Weiterhin wird der Staat stärker in die Pflicht genommen, Kinder und Jugendliche in den Schulen aufzuklären, seine Bürger und Bürgerinnen über Verhütungsmethoden und Familienplanung zu informieren und den Zugang zu Verhütungsmitteln zu gewährleisten.

Die notwendige ärztliche Versorgung und Betreuung von Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch wünschen, soll über das öffentliche Gesundheitssystem gesichert werden. Erstmalig in ein nationales Gesetz aufgenommen würde mit Wyllys‘ Gesetzesentwurf das Konzept der sexuellen und reproduktiven Rechte, das bisher nur auf lateinamerikanischer oder internationaler Ebene verwendet wird.

Das Interview führte Naiara Azevedo. Übersetzung von Wiebke Herbig.