Wahlen in Israel: Der Abschied von Netanyahu fällt schwer

In Israel macht sich eine Wechselstimmung bemerkbar. Doch wie realistisch ist es, dass die Regierung tatsächlich abgewählt wird?

In knapp zwei Monaten werden in Israel Wahlen abgehalten. Vieles spricht für eine neue Regierung. Für eine Mehrheit der Israelis bewegt sich das Land in die falsche Richtung. Über 60 Prozent der Befragten beklagen sich darüber, dass die Regierung die Probleme des Landes schlecht angeht. Seit Bekanntgabe der Neuwahlen kursiert der Slogan "Bloß nicht Bibi", der Ruf nach der Absetzung eines das Land spaltenden Ministerpräsidenten Netanyahu, der trotz allem im Amt bleibt.

1999 herrschte in Israel eine ähnliche Anti-Netanyahu-Stimmung, was damit endete, dass der Premier, damals in seiner ersten Amtszeit, von den Wählern einen Denkzettel verpasst bekam. Netanyahus Beliebtheitswerte lagen damals ähnlich niedrig wie heute.

Allerdings ist Israel ein Land der Widersprüche in einer Region voller Rätsel, was darauf hindeutet, dass der Ausgang der Wahlen alles andere als gewiss ist.

Soziale Parameter zweitrangig

Der erste Widerspruch liegt darin, dass die Israelis bei Umfragen mit Nachdruck betonen, wie sehr sie sich um die Probleme der Mittelschicht sorgen: Hohe Miet- und Immobilienpreise, die erstickenden Lebenshaltungskosten, niedrige Löhne und wachsende soziale Unterschiede. Seit Jahren stehen diese sozialen Themen, angeführt von der Wohnungsmisere, bei Umfragen an der Spitze. 2011 haben die sozialen Missständen eine halbe Million Israelis zu Protestkundgebungen auf die Straße getrieben. Dennoch wird das Wahlergebnis nicht von wirtschaftspolitischen Überlegungen bestimmt. Die meisten Wähler positionieren sich zunächst – links, rechts oder Mitte – in Bezug auf Sicherheitsfragen und eine Lösung bzw. Nichtlösung des Nahost-Konflikts. Erst danach entscheiden sie sich entlang wirtschaftlicher und sozialer Parameter für eine der Parteien innerhalb des von ihnen gewählten politischen Spektrums. Da allerdings sämtliche Parteien versprechen, die Wohnungskosten zu senken, soziale Gegensätze zu reduzieren und die Lebenshaltungskosten zu verringern, sind derartige Fragen letztendlich nicht wahlentscheidend. Einer im Januar von Walla News durchgeführten Umfrage zufolge macht eine Mehrheit der Israelis Netanyahu für die Wohnungsnot verantwortlich.

Verheerende Sicherheitslage

Trotzdem könnte er die Wahlen gewinnen, was in einem zweiten Widerspruch begründet ist. Netanyahu vermittelt vielen Israelis ein Gefühl der Sicherheit. Viele von ihnen glauben, dass sich ihre Sicherheitslage verschlechtert hat. Durch die drei Gaza-Kriege in den letzten sechs Jahren ist die jahrzehntelange Gelassenheit vieler Israelis merklich erschüttert worden. Die Raketen, die im letzten Sommer auf die großen Städte des Landes niedergingen, und zwar nicht nur im Süden Israels sondern weit darüber hinaus, haben viele Menschen zutiefst verunsichert. Hinzu kommt die sich zuspitzende Lage in der Westbank, die sich in Terroranschlägen in Jerusalem und Tel Aviv entlädt. Unter Netanyahu ist Israels Sicherheitslage so verheerend, wie sie seit 2005 nicht mehr gewesen ist. Dies wird von der Bevölkerung deutlich registriert. Viele Israelis, die die schlechte Sicherheitslage beklagen, sehen Netanyahu allerdings gleichzeitig als Inbegriff der Sicherheit, was letztlich für ihr Wahlverhalten ausschlaggebend ist.

"Den werden wir nicht los"

Ein dritter zentraler Widerspruch liegt in einer merkwürdigen Mischung aus Verzweiflung und Defätismus. Ausgerechnet diejenigen, die aus ihrer Kritik an Netanyahu keinen Hehl machen, setzen hinter ihre Forderung "Bloß nicht Bibi" mantraartig Sätze wie „Es gibt eben keinen anderen", „Er hat keine Konkurrenz" oder „Den werden wir nicht los". In einem Land, das seinen demokratischen Charakter unaufhörlich betont, wird auffällig oft das Wort Diktator benutzt, so unantastbar scheint Netanyahu zu sein. Viele dieser politikverdrossenen Bürger wollen nicht begreifen, dass die Wahrscheinlichkeit, Netanyahu abzusetzen steigt, wenn sich mehr und mehr Gleichgesinnte an der Wahl beteiligen würden.

Diese Widersprüche erklären, weshalb trotz offenkundiger Unzufriedenheit mit Netanyahus Likudblock die Umfragen keine definitive Wahlniederlage des Amtsinhabers vorhersagen. Umfragen deuten vielmehr auf ein Kopf-an-Kopf Rennen zwischen Likud Partei und Zionistischem Lager, einer Mitte-Links-Liste, die durch den Zusammenschluss der Arbeitspartei und einer gemäßigten, von Tzipi Livni angeführten Zentrumspartei entstanden ist. Während der letzten zwei Wochen hat das Zionistische Lager in Umfragen kontinuierlich vorne gelegen, womit allerdings nicht gesagt ist, dass es seine Führungsposition auch behaupten wird. Für Israels hyperaktive Politik und seinen Medienbetrieb sind zwei Monate eine lange Zeit.

Wahlausgang unklar

Hier ist die Ironie des Ganzen. Selbst wenn das Zionistische Lager die Wahlen gewinnen sollte, ist nicht gesagt, dass die Partei damit auch in der Lage sein wird, eine Mitte-Links-Koalition zu bilden. Angesichts der zersplitterten Parteienlandschaft ist das Wort „Wahlsieg“ ein relativer Begriff. Oft sind kleine Parteien das Zünglein an der Waage. Wähler, die alles daran gesetzt haben, „den Schurken loszuwerden", könnten sich durchaus in einer Realität wiederfinden, in der ihre (augenscheinlich) siegreiche Partei ausgerechnet mit diesen Schurken – anderen Rechtsparteien oder, was sehr wahrscheinlich ist, den ultraorthodoxen Parteien, die viele ablehnen - koaliert. Das wäre noch die positivere Option. Es wäre auch durchaus denkbar, dass das Zionistische Lager nur einen Vorsprung von ein oder zwei Mandaten erlangt, wie Umfrageergebnisse der letzten zwei Wochen nahelegen. Damit wären sie außerstande, überhaupt eine Koalition zu bilden. Tzipi Livni wird sich noch gut an das Jahr 2009 erinnern. Damals hat ihre Partei, die Kadima, einen Sitz mehr als Likud erhalten, war jedoch nicht in der Lage, die Regierung zu bilden, woraufhin Likud ans Ruder kam.

In diesem Falle würde ein grundsätzlicher Widerspruch die Politik bestimmen: Eine Stimme für Veränderung würde dazu führen, das alles beim Alten bleibt.