"Frieden ist nur ein Wort, aber eines mit großer Bedeutung"

Heinrich-Böll-Stiftung: Frau Sharifi, können Sie sich unseren Leser/innen bitte vorstellen?

Basigul Sharifi: Ehrlich gesagt bin ich ein ziemlicher Widerspruch. Mein Leben besteht aus Widersprüchen. Ich glaube, ich bin ein wenig egoistisch und sehr kopfgesteuert. Ich gehe meinen eigenen Weg. Bei uns gibt es nur wenige Menschen, die ihr Leben so gestalten können, wie sie es wollen. Ich bin alles andere als perfekt, aber ich möchte versuchen, meine eigenen Vorstellungen mit denen von Gesellschaft, Stammeskultur und Religion zu vereinbaren.

Heißt das, Ihre Gedichte und das, was sie tun und denken, drehen sich ausschließlich um ihre eigenen Sehnsüchte?

Ja. Äußerlich bin ich eine ganz normale Frau, bin aber sehr launisch. Manchmal bin ich düster gestimmt, sehe nur schwarz. Ein andermal bin ich glücklich, kümmere mich um meine Blumen – aber schlägt die Stimmung um, kann es vorkommen, dass ich sie ausreiße. Ich bin voller solcher Widersprüche.

Was arbeiten Sie?

Ich habe keine feste Arbeit. Es gibt Tage, an denen habe ich persönlich sehr viel um die Ohren. Manchmal arbeite ich und alles überschlägt sich; dann muss ich damit aufhören. Meine Arbeit wechselt. Ich habe an einem Projekt für das Dur-e Dari-Kulturhaus mitgearbeitet. Mein Leben ist durchzogen von Literatur und Poesie.

Wie verhalten sich Dichtung und Poltik zueinander?

Das ist gar kein Vergleich. Ein Dichter kann nur Politiker werden, wenn er das Schreiben aufgibt. Ich glaube allerdings, dass Dichtung und Politik zusammengehen können. In Dichtung kann man politische Ansichten ausdrücken. Gleichzeitig erinnert uns die Dichtung an die Welt menschlicher Gefühle und Werte und verhindert, dass man sich in der schmutzigen Politik verliert. Sowohl Dichter wie auch Politiker sind traurig, wenn sie alleine sind. Trotzdem - Politik und Dichtung, das ist gar kein Vergleich. Dennoch kann ein Dichter unpolitische Sachen schreiben, beispielsweise romantische Liebeslyrik, und gleichzeitig politisch aktiv sein.

Woran arbeiten Sie momentan?

Im Moment nehme ich an vielen gesellschaftlichen Veranstaltungen teil, bei denen ich Kontakte zu anderen Menschen knüpfen und herausfinden kann, mit was für Gruppen ich zusammenarbeiten möchte. Kabul ist für mich wie Fernsehen. Ich beobachte Menschen, Büros, Orte und alles, was in dieser Stadt vor sich geht.

Am bekanntesten sind Sie für Ihre Gedichte. Was hat Sie dazu angeregt, Dichterin zu werden?

In der Schule waren meine Noten gut in allem, was mit Literatur zu tun hatte. Ich habe mich dann nach und nach mit unterschiedlichen literarischen Werken beschäftigt, was natürlich meine Verbindung zu Literatur und Dichtung weiter verstärkt hat.

Wie ging es Ihnen, als Sie Ihr erstes Gedicht schrieben?

Ich war stolz auf mich. Ich habe es wieder und wieder gelesen – es schien so schön. Danach, bei späteren Gedichten, ging mir das nie wieder so.

Welches Ihrer eigenen Gedichte ist Ihr liebstes?

Das kann ich nicht sagen. Von den Gedichten, die ich im Iran geschrieben habe, mag ich Pari. Von den anderen gefällt mit Quetta und Baba. Es sind Gedichte aus unterschiedlichen Phasen meines Lebens.

Mit welchen Problemen haben Dichter in Afghanistan zu kämpfen?

Sich einen Lebensunterhalt zu verdienen! Andererseits ist es für einen Dichter gut, nicht zu bequem zu leben, denn dann verliert man seine schöpferische Begabung. Dennoch, die meisten Dichter in Afghanistan haben keine richtige Arbeit und haben es schwer. Das führt dazu, dass sie Arbeit annehmen, die es ihnen nicht erlaubt, weiter Gedichte zu schreiben.

Was ist die wichtigste Eigenschaft eines Dichters?

Das hängt davon ab, was ein Dichter ausdrücken möchte, davon, welche vielleicht heiklen und wichtigen gesellschaftlichen Themen seine Werke berühren.

 

 

 

 

Was macht einen guten Dichter aus?

Gut sind jene Dichter, deren Werke man gerne liest, die Gefühle und Vorstellungen miterleben lassen und die einen neuen Geist vermitteln.

Welches gesellschaftliche Thema macht Ihnen die größten Sorgen?

Ganz allgemein die Armut. Wenn ich die Junkies unter der Pol-e Sokhta-Brücke sehe, wenn ich Kinder sehe, die für fünf Afghanis Taxifahrern Fahrgäste zuführen – das macht mich wütend. Was mir auch Sorge macht, ist die Benachteiligung von Hindus in Afghanistan.

Was sind ihre Ansichten zum Frieden?

Frieden ist nur ein Wort, aber eines mit großer Bedeutung. Ich habe nicht im Frieden gelebt, weder als Flüchtling im Iran, noch in Quetta, in Pakistan. In Afghanistan ist Frieden nur ein Wort, dessen Bedeutung kaum zu begreifen ist. Ich versuche, wenigstens in meinem Privatleben Frieden zu haben, was aber schwierig ist, denn dazu braucht es eine friedliche Gesellschaft – und das hängt von anderen ab. Ich habe nach Frieden gesucht, aber ohne Erfolg.

Können Dichter den Frieden fördern?

Wenn wir in Dichtung nichts sehen als Worte, dann ist nichts zu machen. Wenn sie aber dazu beiträgt, dass Menschen sich gesellschaftlich engagieren, kann das der Anfang einer Entwicklung hin zum Frieden sein. Ich habe mich mit Gedichten beschäftigt, die für den Frieden, die für Revolutionen geschrieben wurden. Ich denke, es sind die Dichter, die Revolutionen anführen. Ein Politiker mag zwei Stunden lang reden. Ein Dichter schreibt hingegen ein paar Strophen, und die können zu Umwälzungen führen. Die Dichter von heute können zum Frieden beitragen, indem sie einen Anfang machen und eine Bewegung ins Laufen bringen.

Wie verhält sich feministische Dichtung zum Frieden?

Feministische Dichtung bedeutet zwar immer einen Kampf, hat jedoch auch eine gelassene Seite. Frauen greifen bei ihren Kämpfen nur selten zu den Waffen. Sie reden nicht von Gewalt und Tod und ihre Gedichte sind friedvoll. Sie wünschen den Frieden und laden die Menschen dazu ein, Teil der Menschheit zu werden. Gleichheit und Gerechtigkeit, das ist Frieden. Frauen verleihen ihren Forderungen nur sehr selten mit Waffengewalt Nachdruck. Wie schöne Tauben bringt die Schönheit und Gelassenheit der Frauen den Frieden. Auch feministische Dichtung trägt zum Frieden bei.

Glauben Sie an den Feminismus?

Ja, nur nicht auf extreme Art. Es gibt viel Punkte, die sind gerechtfertigt. Aber selbst wenn man diese Ansichten nicht teilt, kann man sich nicht über sie hinwegsetzen. Unglücklicherweise gibt es bei uns unrealistische feministische Ansichten: Oft wollen wir keine Gleichheit, wir wollen den Vorrang. Echter Feminismus fordert aber Gleichheit und setzt darauf, dass sich die Menschen in ihrer Gesellschaft engagieren.

Was ist die schmeichelhafteste Bemerkung, die je über Ihr Werk gemacht wurde?

Da fallen mir folgende Kommentare ein – zum einen: „Blutgetränkte Worte aus Quetta dringen aus Basiguls Mund“. Zum anderen, als der Dichter Jibran Kawa bei einem Treffen der Vereinigung Qalam auf mich bezogen den Begriff „Cherik“ (Freischärler) benutzte.

Haben Sie ein Motto, einen Lebenssatz?

Grundlage meines Denkens ist der Satz: „free, free, free me“.

Welche drei Dinge braucht es fürs Glück?

Familie, Geld, Gesellschaft.

Sind Sie mit Ihrem Leben zufrieden?

Das hängt davon ab, ob ich das erreicht habe, was ich errreichen wollte.

Was ist das größte Geschenk, das einem andere geben können?

Achtung, Liebe und Vertrauen. Viele geben eine Menge Geld aus, ohne das je zu bekommen.

Wenn Sie in den Spiegel schauen, was empfinden Sie dann?

Ich kenne den Wert meiner Schönheit. Ein schönes Gesicht sagt aber nichts darüber, wo man in der Welt steht – und wohin man will.

Was würden Sie gerne von Ihrem Fenster aus sehen?

Ich möchte eine Stadt sehen, durch die sich viele Menschen bewegen, und ich möchte sehen, wie sie sich bewegen.

Was bedeutet für Sie Jugend?

In unserer Gesellschaft dürfen Kinder und junge Menschen nicht nach ihrer Façon leben. Wir müssen alle viel zu schnell alt werden. Selbst wenn wir jung sind, versuchen wir, uns zu benehmen wie Erwachsene. Ich möchte gerne meinem Alter entsprechend leben. Junge Menschen sollten anders denken, als die Älteren ... dann könnten sie ihre Jugend besser genießen.

Was tun Sie, um jung zu bleiben?

Ich halte das Kind in mir am Leben und versuche, geistig stets auf der Höhe der Zeit zu sein.

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Dieses Interview erschien ursprünglich am 18. August 2013 in der Zeitschrift Rah-e-Madanayat.

 

Foto: Basigul Sharifi. Von: privat, alle Rechte vorbehalten.