Koalitionsverhandlungen: Viel Zeit für nichts

Reichstagsgebäude mit Europa- und Deutschlandflagge
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Das Reichstagsgebäude in Berlin, Sitz des deutschen Parlaments

Die Zeiten sind schwierig, die Probleme sind groß. Man könnte also sagen: Es ist gut, dass sich die drei Parteien, die eine übergroße Koalition im Deutschen Bundestag bilden und ein Erfolg versprechendes Regierungsprogamm aushandeln wollen, sich die notwendige Zeit nehmen, um klare Festlegungen zu treffen. Die Zeit wäre gut genutzt, wenn die verhandelnden Parteien, die schwierigen Zeiten gemeinsam analysierten und die großen Probleme möglichst genau benennen würden, um sich dann darüber zu verständigen, wie sie methodisch vorgehen wollen, um eine gute Regierung zu ermöglichen. Aber genau dazu nutzen sie die Zeit nicht. Gestritten wird nur über die Innenpolitik. Insbesondere in der Europa- und Außenpolitik scheint Nachdenken ganz überflüssig zu sein. Man will sich hinter abgedroschenen Phrasen verstecken. Scheinbar legt man sich fest. Da aber nichts über das politische Gelände gesagt wird, indem man sich zu bewegen glaubt, bleiben die Festlegungen für die Katz.

Soll Westerwelle im Amt bleiben?

„Deutschland stellt sich seiner internationalen Verantwortung. Wir wollen die globale Ordnung aktiv mitgestalten. Dabei lassen wir uns von den Interessen und Werten unseres Landes leiten. Deutschland setzt sich weltweit für Frieden, Freiheit und Sicherheit, für eine gerechte Weltordnung, die Durchsetzung der Menschenrechte und die Geltung des Völkerrechts sowie für nachhaltige Entwicklung und Armutsbekämpfung ein.“

So begann der Entwurf eines Eckpunkte-Papiers aus den Koalitionsverhandlungen. Ok, ok! Wir glauben an den guten Willen. Guido Westerwelle soll also im Amt bleiben? Der Text scheint ihm auf den Leib geschrieben. Vielleicht hätte er als Vertreter der „Freiheitspartei“ Frieden und Freiheit in der Reihenfolge vertauscht. Hinreichend unbestimmt bliebe der Text auch so. Wie weit ist zum Beispiel weltweit? Freilich weiß man schon heute, dass es Friktionen geben kann zwischen den Ansprüchen, die Menschenrechte durchzusetzen, und die Geltung des Völkerrechts zu stärken. Durchsetzung der Menschenrechte (weltweit!) ist ja nicht ganz einfach, wenn die Ordnung der Staatenwelt auf der gegenseitigen Anerkennung der Souveränität ihrer Mitglieder beruht.

Merkwürdig, dass in der zitierten Passage noch gar keine Rede von den UN ist. Die UN bilden schließlich den Rahmen der globalen Weltordnung. Ihre Charta enthält die Prinzipien, an denen sich die internationale Ordnungspolitik ausrichten soll. Der Sicherheitsrat ist als Ordnungsmacht konstituiert, die der Charta der UN Geltung verschaffen soll. Dazu ist der Sicherheitsrat oft nicht in der Lage. In der westlichen Presse heißt es dann in der Regel, Russland und China hätten eine Resolution verhindert. Dass das mit dem Inhalt der Resolution etwas zu tun haben könnte, scheint der Erwähnung gar nicht wert.

Denkt man aber an den Bürgerkrieg in Syrien: Lange kam es deshalb zu keiner Einigung, weil die westlichen Mitglieder des Sicherheitsrates die Forderungen der syrischen Exilopposition sich eins zu eins zu eigen gemacht hatten: Regimewechsel, Assad muss weg! Erst nach und nach, auf Grund der tatsächlichen Entwicklung der Machtverhältnisse in Syrien und der unveränderten Abstimmungsverhältnisse im Sicherheitsrat fanden sich die westlichen Mächte bereit, die Beendigung des Bürgerkriegs auf einer Konferenz unter Beteiligung der Bürgerkriegsparteien und Einbeziehung der Nachbarstaaten anzustreben. Zuvor war immer wieder versucht worden als Bedingung vorauszusetzen, was allenfalls Ergebnis von Verhandlungen sein kann: Das Ausscheiden des bisherigen Staatsoberhaupts aus der syrischen Politik.

Inzwischen haben die USA gemerkt, dass ein von außen forcierter Regimewechsel aller Voraussicht nach auf die Zerstörung des Staates hinausliefe. Das aber kann im anhaltenden „Krieg gegen den Terror“ keineswegs im Interesse der USA sein. Das hätte man früher merken können.

Im Kater, immer noch erfolgstrunken

Der Westen hat nach 1989 unter dem Eindruck des Erfolgs die Selbsttäuschung der „einzig verbliebenen Supermacht“ übernommen und die eine Welt mit einer westlich dominierten Welt verwechselt. Auch wenn das im Ernst heute niemand mehr behauptet, ist der erste Reflex auf Schwierigkeiten und Krisen immer wieder der gleiche: Es wird so getan, als ob es allein auf den Westen ankäme. Wenn der sich dann mit seiner Meinung im Sicherheitsrat nicht durchsetzt, wird der schnell als handlungsunfähig und funktionslos charakterisiert.

Erinnern wir uns an den Kosovokrieg kurz nachdem die rot-grüne Koalition 1998 ins Amt gekommen war. Er sollte die blutige Unterdrückung und gewaltsame Vertreibung der Kosovaren in ihrem eigenen Land beenden. Das ging nicht ohne den Einsatz militärischer Mittel. Da es dafür kein Mandat des UN-Sicherheitsrates gab, musste das Völkerrecht ziemlich strapaziert werden. Es wurde postuliert, dass das Votum durch den Sicherheitsrat auch durch die Beschlüsse regionaler Sicherheitsorganisationen wie der NATO ersetzt werden könne. Den Warschauer Pakt gab‘s ja nicht mehr. Formal aber hätte dessen Begründung für den Einmarsch in die Tschechoslovakei CSSR 1968 genau so lauten können. Im Kosovo lag ein akuter Notfall vor. Den hatte der Sicherheitsrat schon festgestellt. Das macht einen Unterschied zur „Verteidigung des Sozialismus“ in der ČSSR. Dort ging es im Prager Frühling allen besser. Die UN musste sich mit ihm vor dem Einmarsch des Warschauer Paktes nicht befassen. Aber man sieht schon: Präzedenzfälle haben es in sich.

Intervention und Souveränität

Auf einer Diskussionsveranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung zur Bilanz der rot-grünen Regierung von 1998 bis 2005, an der neben dem Heidelberger Historiker Edgar Wolfrum der frühere SPD-Chef Franz Müntefering und die Grünen-Politikerin Renate Künast teilnahmen, wurde nochmal deutlich, wie schwer sich die Koalition damals damit getan hatte, die Entscheidung der NATO mitzutragen und sich aktiv an der Intervention zu beteiligen.

Heute so scheine ihr, meinte Renate Künast, sei die Skepsis gegenüber solchen Militäreinsätzen eher gewachsen. Und es stimmt: Gab es um die Jahrtausendwende eine ganze Reihe von Büchern, die sich für die humanitäre Intervention stark machten und gelang es später die Responsibility to Protect sogar in den Beschlüssen zur Reform der UN zu verankern, hat sich der Wind inzwischen wieder gedreht. Man muss sogar befürchten, dass die begründete Skepsis gegenüber Militäreinätzen, um umfassende Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden und (Bürger-)Kriege zu beenden, in ein generelles Disengagement in Menschenrechtsfragen umschlägt.

Aus den schlechten Erfahrungen mit militärischen Eingriffen in die Souveränität von Staaten erwächst eine Neigung, das Engagement für die Menschenrechte der staatlichen Souveränität unterzuordnen, statt die Einhaltung der Menschenrechte als Maßstab zu nehmen, an dem die Wahrnehmung von Souveränität politisch zu messen ist. In den nächsten Jahren und Jahrzehnten wird es darum gehen, das Verhältnis der in der Staatenwelt und durch die UN garantierten staatlichen Souveränität mit der Charta der UN und der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte in ein strikteres Verhältnis zu bringen. In ganz seltenen Fällen, in extremen und zugleich leicht behebbaren Notsituationen kann das nur durch eine internationale Intervention erreichbar sein. Im Großen und Ganzen wird es sich um einen längeren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Prozess gegenseitiger Beeinflussung innerhalb der Staatenwelt handeln. Den Rahmen für diese Auseinandersetzungen bieten die UN.

Jede Regierung würde es schwer haben

„Wir stehen bereit, wenn von unserem Land Beiträge zur Lösung von Krisen und Konflikten erwartet werden. Dabei stehen für uns die Mittel der Diplomatie, der friedlichen Konfliktregulierung und der Entwicklungszusammenarbeit im Vordergrund.“

Statt zu skizzieren, was außenpolitisch auf die Regierung zukommen kann, wird in dem Eckpunkte-Papier laut „All Zeit bereit!“ gerufen. Der „Vordergrund“ wirkt ja auch harmlos. Die Schwierigkeiten werden hinter „Verlässlichkeit und Bündnistreue“ versteckt. Es heißt dann weiter:

„Die globalen Herausforderungen sind nur in internationaler Zusammenarbeit und in einem koordinierten Einsatz aller Instrumente der Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik zu bewältigen.“

Sicherheits- und Verteidigungspolitik, in denen sich die harten Entscheidungen verbergen, sind hübsch eingerahmt von Außen- und Entwicklungspolitik. Was kann also passieren? Tatsächlich ist ein Umdenken fällig und kein Versteckspielen. An Stelle einer verbal propagierten und teilweise auch militant umgesetzten „Weltinnenpolitik“ ist eine kooperative Außenpolitik in der Staatenwelt und Staatengemeinschaft gefordert. Fragen der Souveränität sind keine quantité négligeable, wenn versucht wird, Menschenrechte dauerhaft durchzusetzen. Wer, wenn nicht sich gegenseitig anerkennende souveräne Staaten, soll sie garantieren?

Die UN als Organisation der Staatenwelt kommen erst ganz hinten in dem Eckpunktepapier vor. Doch sollte sich die Außenpolitik der Bundesrepublik, sollten sich EU und NATO zum zentralen Ziel ihrer Bündnis- und Außenpolitik die Stärkung der UN machen. Wichtiger als „der Westen“ an sich ist seine Fähigkeit, vernünftig mit Russland und China als den anderen ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates umzugehen und sich mit ihnen über Fragen einer globalen Ordnungspolitik zu verständigen. Das wird natürlich nicht erleichtert, wenn durch die westliche Politik erst mal „Pflöcke“ eingeschlagen werden, also vorab einseitig Bedingungen der Verständigung formuliert werden, von denen nur noch schwer abgerückt werden kann. Die Atomverhandlungen mit dem Iran sind dafür ein anderes Beispiel.

Solange vom Iran ein prinzipieller Verzicht auf Urananreicherung verlangt wird, wofür es keine Handhabe im Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen gibt, kann der Iran einer Vereinbarung nicht zustimmen, es sei denn er fände sich bereit, die Charakterisierung als „Schurkenstaat“, der unter Sonderkuratel gestellt werden muss, zu akzeptieren. Damit kann nicht gerechnet werden. Gegenüber dem Bürgerkrieg in Syrien hat Frankreich als erster westlicher Staat eine unhaltbare Position eingenommen, indem es die Exilvertretung zur einzig legitimen Vertretung des syrischen Volkes erklärte. Als sich die Verhandlungen mit dem Iran einer Einigung näherten, scheint Frankreich in der Anreicherungsfrage auf das prinzipielle Verbot zurückgefallen zu sein, als die anderen Verhandlungspartner sich einer bedingten und kontrollierten Zulassung einer niedrigen Anreicherung und damit einer Einigung genähert hatten. Entschiedener „westlich“ zu sein als die USA mag einer schwächelnden französischen Regierung unter dem Sozialisten Hollande zur süßen Versuchung werden. Ihr nachzugeben, kann nicht nur Frankreich teuer zu stehen kommen.

Womit wird es die kommende Regierung international zu tun haben? Die EU ist institutionell gespalten in Eurozone und die anderen EU-Mitglieder, die Eurozone in kontrollierende und kontrollierte Staaten. Im Weimarer Dreieck ist die Energie- und Klimapolitik der Bundesrepublik eingeklemmt zwischen einem atomversessenen Frankreich und einem auf die Kohle eingeschworenen Polen. Der Zusammenhalt des Westens wird untergraben durch die immanente Logik des Krieges gegen den Terror, der entsprechend in der Überwachung eines jeden und einer jeden die Sicherheit aller gesucht wird. Dabei steht der Westen immer noch mitten in der mühevollen Anpassung an die neue Situation, dass der „Rest“ der Welt schneller wächst als er selbst. Westliche Diktate verbieten sich oder wirken suizidal. Die nächste Regierung wird es nicht leicht haben. Aber von diesen Problemen ist aus den Verhandlungsrunden nichts zu hören. Die Regierungsvereinbarung wird sie glatt bügeln. Nur die Innenpolitik, nur was bei den Leuten fühlbar ankommt, zählt auf unserer Insel der Seligen.