Diversity für mehr Teihabe und Chancengerechtigkeit

Mekonnen Mesghena ist Leiter des Bereiches Migration und Diversity in der Heinrich-Böll-Stiftung. Foto: Stephan Röhl, Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0 Original: Flickr

19. Juni 2013
Mekonnen Mesghena
Für die Heinrich-Böll-Stiftung ist das Konzept einer gleichberechtigten Zusammenarbeit zwischen Menschen verschiedenen Alters, Geschlechts, ethnischer und kultureller Herkunft, unterschiedlicher religiöser Bekenntnisse und weltanschaulicher Haltungen, sexueller Orientierung sowie sozialer Hintergrund konstitutiv. Sie gewährleistet eine offene und produktive politische Auseinandersetzung mit den Themen der Stiftung und eine lebendige Betriebskultur nach innen.

Die beiden Gemeinschaftsaufgaben „Geschlechterdemokratie“ und "Diversity " sind fester Bestandteil des Leitbildes der Heinrich Böll Stiftung. Sie finden als Querschnittaufgaben Eingang in die verschiedenen Ebenen der Projektarbeit, der Personalpolitik und der Betriebskultur. Die langfristig verankerten interkulturellen und geschlechterpolitischen Strategien werden intern wie auch im Austausch mit externen Partnerinnen und Partnern fortlaufend reflektiert und auf ihre Nachhaltigkeit hin überprüft. Diversity und Inklusion gelten nicht nur als Leitbild der Organisationsentwicklung, sondern sind auch zentrales Leitmotiv der politischen Bildungsarbeit. Teilhabe und Chancengerechtigkeit für alle Bürgerinnen und Bürger als ein eminentes Versprechen der Demokratie nehmen einen wichtigen Anteil im öffentlichen Diskurs und Meinungsbildungsprozess.

Durch die Verzahnung der Themen Migration, Geschlecht, Bildung und Chancengerechtigkeit widmet sich die Heinrich-Böll-Stiftung den Fragen nach der sozialen Teilhabe und Aufstiegschancen in Deutschland. Gerade heute ist eine Politik erforderlich, die Teilhabe und faire Aufstiegschancen ermöglicht und strukturelle Blockaden – etwa durch herkunftsbedingte Benachteiligung, Diskriminierung, Rassismus und materielle Armut – auflöst. Es geht um die Leitfrage, wie Individuen in die Lage versetzt werden können, durch eigene Anstrengungen voranzukommen, ohne daran durch strukturelle Barrieren gehindert zu werden.

Die politischen Debatten, die jahrein jahraus von verschiedenen Seiten angestoßen werden, streifen oft zwar bestehende Probleme, schwadronieren jedoch an der Lebenswirklichkeit und den tatsächlichen Themen vorbei. Statt die fehlenden Chancen und die Probleme des Ausschlusses klar und deutlich zu benennen, kreisen die Debatten um die Ethnisierung sozialer Probleme. Die zentralen Probleme Deutschlands sind die eklatant ungleich verteilten Chancen beim Zugang zur Bildung, zum Arbeitsmarkt, zur politischen Partizipation und zum angemessenen Wohnraum. Deutschland hat ein großes Teilhabeproblem. Nach den jährlichen OECD-Studien zur Bildungsgerechtigkeit und Arbeitsmarktintegration sowie anderen internationalen Studien (wie der Migrant Integration Policy Index) ist in kaum einem Industrieland der Zusammenhang zwischen Herkunft und Zugangschancen zur Bildung und zum Arbeitsmarkt so eng verknüpft wie in Deutschland.

Das Bildungssystem produziert überproportional viele „Bildungsverlierer/innen“. Bei gleichzeitig hoher Zahl an gut ausgebildeten Menschen und Qualifizierten, die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind – weil sie Diskriminierung erfahren oder ihre Qualifikationen nicht anerkannt werden. Deutschland verschenkt so enormes Potenzial und Talente.

Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels kann eine solche Untätigkeit für Wirtschaft und Gesellschaft gravierende Auswirkungen haben. Nach den statistischen Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung wird sich das Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland durch den Rückgang der Bevölkerungszahl und Alterung bis 2025 um rund 7 Mio. Personen verringern - im Durchschnitt um 390.000 pro Jahr. Die Antwort darauf kann nur eine gute Politik der Inklusion und der sozialen Mobilität sein. Dazu gehören Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik, Familienpolitik, eine weitsichtige Einwanderungspolitik sowie eine strukturwirksame Diversitypolitik.

Die Frauengleichstellungspolitik und Gender Mainstreaming haben in Deutschland und in Europa insgesamt einiges in Bewegung gesetzt. Diese politischen Instrumente haben in vielen Bereichen die Repräsentanz und den Aufstieg von Frauen weiter gebracht. Trotzdem bleiben Frauen in vielen Führungspositionen - insbesondere in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik - weiterhin unterrepräsentiert. Die letzten Vorstöße der Europäischen Kommission, für Aufsichtsräte großer Konzerne ab 2020 einen Frauenanteil von 40 Prozent  vorzuschreiben, sind ein Beispiel dafür, wie groß der Handlungsbedarf ist. Allerdings die Blockade der Regierungen gegen die Initiative der Kommission und somit auch die Verhinderung weiterer Aufstiegschancen von Frauen zeigt den Stellenwert von Gleichstellungspolitik.

Es sind aber nicht alleine die Frauen, die um Teilhabe und gerechte Repräsentation kämpfen. Die Gesellschaft insgesamt ist heute viel diverser und differenzierter geworden. Die Situation von Menschen mit Migrationshintergrund in Punkto Repräsentation auf dem Arbeitsmarkt und in den Ämtern ist viel dramatischer. Vergegenwärtigt man sich, dass etwa jede/r fünfte Bundesbürger/in einen Migrationshintergrund hat, ist die Präsenz dieser Menschen in vielen Bereichen verschwindend gering. Hier haben wir mit einer eklatanten Repräsentationslücke zu tun.

Gerade auch dort, wo Repräsentation das Kernstück der Demokratie ist: In den Stadtparlamenten. Während in vielen deutschen Großstädten der Anteil von Bürger/innen mit Migrationshintergrund teilweise bei fast 50 Prozent liegt, sind nach der Studie der Heinrich-Böll-Stiftung „Vielfalt sucht Rat“ durchschnittlich gerade mal mit vier Prozent in den Stadtparlamenten vertreten. In den Medien gar nur mit zwei Prozent. Die Situation auf dem Schulhof sieht überhaupt nicht besser aus. Trotz schnell wachsender Zahl von Schüler/innen mit Migrationsbiografie und sprachlicher und kultureller Vielfalt gibt es nach Angaben des Statistischen Bundesamtes lediglich fünf Prozent Lehrer/innen, die einen Migrationshintergrund haben. Deutlich unterrepräsentiert sind Migrant/innen ebenfalls im Öffentlichen Dienst.

Mehrere Studien – zuletzt der Antidiskriminierungsstelle des Bundes mit dem anonymisierten Bewerbungsverfahren - belegen, dass Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt zum Alltag in Deutschland gehört. Betroffen sind neben Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund auch ältere Arbeitsuchende und Menschen mit körperlicher Behinderung. Es gibt zahlreiche Bemühungen bei der Wirtschaft und beim Öffentlichen Dienst, Bewerber/innen aus den genannten Gruppen zu gewinnen und einzustellen. Benötigt wird aber eine umfassende Diversitypolitik, die Diskriminierung und Aufstiegsmöglichkeiten viel stärker auf die Agenda setzt.

Statt sich in einer defizitäre Perspektive zu verfangen und gebetsmühlenartig über soziale Probleme zu beklagen, sollten Politik, Wirtschaft und öffentliche Institutionen die eigenen Gestaltungsspielräume nutzen und Chancengerechtigkeit für alle Gruppen in der Gesellschaft schaffen. Der Staat und die Kommunen müssen mit positivem Beispiel voran gehen. Sie können zumindest in ihren Zuständigkeits- und Kompetenzbereichen Diversity Management zum Leitmotiv der Organisationsentwicklung machen. Eine Politik, die Teilhabe- und Aufstiegschancen von Bürgerinnen und Bürgern aller sozialer Klassen und Gruppen fördert und mit entsprechenden strukturwirksamen Instrumenten gestaltet, ist Diversity Management par excellence.

Durch die Differenzierung und Komplexität der sozialen Zusammenhänge, stoßen die bisherigen politischen Instrumente an ihre Grenzen. Appelle allein nutzen aber  auch nicht. Über bestimmte Strecken könnte auch die Quote Abhilfe schaffen. Wenn sie uns bei der Gleichstellung von Frauen weiter gebracht hat, warum soll sie für andere Gruppe ausgeschlossen werden?

In Nordamerika und mehreren europäischen Einwanderungsländern fördert und unterstützt der Staat systematisch in vielen Schlüsselbereichen wie Bildung, Wissenschaft und Öffentlicher Dienst die Aufstiegschancen und die Repräsentation von unterschiedlichen sozialen Gruppen voranzubringen. Eine aufstiegsorientierte Diversitypolitik zielt insbesondere auf Schaffung von positiven Vorbildern (role models) und trägt zur Bekämpfung von Vorurteilen und Rassismen gegenüber Minderheiten bei. Eine solche gestaltende Politik würde Durchlässigkeit schaffen und Talente und Potenziale für Gesellschaft und Wirtschaft zugänglich machen. Sie würde uns auch viele überflüssige spalterische Debatten ersparen.

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Mekonnen Mesghena ist Leiter des Bereiches Migration und Diversity in der Heinrich-Böll-Stiftung.

Dieser Text erschien als Gastbeitrag im Newsletter 12/2013 des Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement.