Traboulsi: "Syrische Revolutionäre müssen sich vor niemandem rechtfertigen"

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\"...bring Assad to justice\", aufgenommen am 1. Februrar in Kafranbel, Syrien
Syrische Protesierende verkünden auf Transparenten, was sie wollen: Gerechtigkeit für das Verschulden der Machhaber in ihrem Land.  Foto: FreedomHouse Original: Flickr Lizenz: CC BY 2.0

 

10. April 2013
Der libanesische Denker, Schriftsteller und Linksaktivist Fawwaz Traboulsi hat seine Unterstützung für die Revolutionen in der arabischen Welt deutlich zu zum Ausdruck gebracht. Er hat ihren Verlauf als Autor und Analytiker verfolgt und seine Erkenntnisse 2012 in seinem Buch „Democracy is Revolution“ zusammengetragen. Mohammad al-Attar hat ihn zum Gespräch in Beirut getroffen. Im Interview spricht er über die "Revolution der Würde", den bewaffneten Widerstand und die heikle Beziehung der zahlreichen Parteien im Libanon zur syrischen Revolution.

Während sich der zweite Jahrestag der syrischen Revolution nähert, beobachten wir einen noch nie dagewesenen Gewaltausbruch und zügelloses Verhalten von Seiten des regimenahen Militärs, welches auf eine immer stärkere Gegenreaktion durch den bewaffneten Widerstand der Opposition trifft. Dennoch scheint eine baldige militärische Lösung kaum wahrscheinlich. Die politische Lage war noch nie zuvor so komplex. Wie sehen Sie die derzeitige Situation in Syrien und ihre Entwicklungsmöglichkeiten?

Fawaz Traboulsi: Es ist überflüssig zu sagen, dass die blutige Krise in Syrien extrem komplex ist. Komplexität bedeutet jedoch nicht, dass wir nicht darüber nachdenken sollten, sie in ihre einzelnen Elemente zu zerlegen und uns auszumalen, in welche Richtungen sie sich entwickeln könnte. Das vergangene Jahr hat sich nicht wesentlich von dem vorangegangenem unterschieden, vor allem von dem Zeitpunkt an, an dem die friedlichen Proteste begannen, nach gemäßigten Reformen - im Grunde genommen, nach der Aufhebung der Notstandgesetze - zu verlangen. Die Reaktion des Regimes hat sich seit Beginn nicht verändert. Zuerst weigerte es sich, die Existenz interner Probleme, die hätten angesprochen werden müssen, anzuerkennen. Das anfängliche Vorgehen der Sicherheitskräfte war unmissverständlich und direkt. Die Notstandsgesetze wurden durch ein Anti-Terror-Gesetz ersetzt – eine Strategie, die in dem Massaker auf dem Platz am Uhrenturm in Homs ausartete und die ganz offensichtlich darauf abzielte, zu verhindern, dass sich Ereignisse wie in Tunesien, Ägypten und selbst in Jemen, wo Protestbewegungen öffentliche Plätze besetzten.

Ich glaube, dass der Traum einer Lösung mit dem Ablauf eines weiteren Jahres, in dem die Strategie einer systematischen Verwüstung durch Luftschläge nicht zum Sieg geführt hat, ausgeträumt ist. Gleichzeitig hat der bewaffnete Widerstand zwar die militärische Macht des Regimes beständig ausgehöhlt, verfügt jedoch nicht über die Waffen, um die Lage zu seinen Gunsten zu verändern. Die Politik des Westens sperrt sich immer noch, den Widerstand so auszurüsten, wie es nötig wäre, um dieses Ziel zu erreichen.

Der Begriff „syrische Revolution“, selbst „syrische Krise“, ist in der Weltpresse immer stärker durch den Begriff „Bürgerkrieg“ verdrängt worden. Damit geht eine immer stärkere Fokussierung auf die konfessionellen Aspekte des Konflikts einher, die im letzten Bericht der Vereinten Nationen im Vordergrund standen. Einer beträchtlichen Anzahl von Syrern stößt es auf, dass ihre Mühen auf solche Beschreibungen reduziert werden. Wie sehen Sie das?

Es handelt sich um eine Revolution, weil zwei unhaltbare Zustände angeklagt werden: es gibt Herrscher, die nicht länger an der Macht bleiben dürfen, und es gibt Völker, die nicht länger unter deren Herrschaft stehen können. Und bei den Herrschern handelt es sich nicht um Individuen, sondern vielmehr um ein System der Kontrolle. Zudem verbergen diese Revolutionen nicht ihre Beweggründe: Arbeitslosigkeit, Diktatur, gesellschaftliche Spaltung, die missachtete Würde der Bürger. Dem antworten sie mit den Parolen: Arbeit! Freiheit! Soziale Gerechtigkeit! Menschenwürde!

Die Revolutionen sind eine Antwort auf die ausweglose Situation, in die alle arabischen Diktaturen, ob Monarchien oder Republiken, geraten sind: Ihre Legitimität im Ausland bröckelt, und ihre Legitimität im eigenen Land ist verloren. Sie können ihrem Volk nicht länger ein grundsätzliches Maß an Dienstleistungen und die soziale Verteilung von Mitteln garantieren. Und das hat sie die Legitimität, die aus ihrer Rolle in der nationalen Befreiung und dem arabisch-israelischen Konflikt stammt, gekostet. Es handelt sich um diktatorische Regime, deren Neigung zur Unterdrückung im Gleichschritt mit der immer stärkeren Vormachtstellung globalisierender und neoliberaler Überzeugungen in der Region und der entsprechenden Kürzung von Sozialleistungen zugenommen hat. Deshalb nenne ich die Revolutionen eine „dritte Welle arabischen anti-neoliberalen Widerstandes“. Die erste Welle erfolgte in den späten 1970ern und frühen 1980ern, vor allem in den „Brotaufständen“ in Ägypten und dem Aufstieg der Heitiyeen (der „Faulenzer“ oder Arbeitslosen) in Algerien. Die zweite kam in den 1990ern und sorgte für Aufständen in Marokko, Jordanien, Tunesien und Ägypten und die Brotaufständen in den städtischen Zentren im Jemen. In der jetzigen dritten Welle, die all die Staaten umfasst, in denen es zu Revolutionen kam, stellten sich diese dem entgegen, dass Zuschüsse zu Treibstoff und Nahrungsmitteln gestrichen worden waren und die Lebenshaltungskosten anstiegen. Das war der Punkt, an dem die Antwort der Behörden diese Bewegungen dazu provozierten, radikale politische Veränderungen in Form eines Regimesturzes einzufordern.

Es war eine Revolution von Außenseitern: der ländlichen Bevölkerung, der Armen, der Randgruppen und der Bewohner der sozial benachteiligten Vororte. Hier wurzelte sie, bevor sie in die Städte und die Hauptstadt einzog. Es lässt sich nicht leugnen, dass eine große Anzahl von Bürgern aus der Mittelschicht, junge Leute und Bourgeoisie im Exil, auf vielen unterschiedlichen Wegen an dieser Bewegung teilnehmen. Es ist nur, dass die syrische Revolution weitgehend tief in der Bevölkerung verankert ist.

Wir sollten nicht vergessen, dass die meisten Syrer es vorziehen, ihre Revolution als eine „Revolution für die Würde“, nicht als Revolution der Hungrigen oder einen Aufstand aufgrund wirtschaftlicher Not zu bezeichnen.

Ich möchte zu der „Revolution der Würde“ gerne etwas anmerken. Ich verstehe absolut, dass dieser Begriff aus vier Jahrzehnten täglicher Affronts gegen die menschliche Würde im Umgang des Regimes mit der syrischen Bevölkerung erwachsen ist. Herablassende und beleidigende Bezeichnungen wie „Junge!“ oder „Esel!“ hallen bis heute nach, und auch die Libanesen litten während der Zeit des syrischen Mandats darunter. Nichtsdestoweniger möchte ich mir vorstellen, dass die Revolution der Würde siegreich war. Liegt denn das Programm der Opposition zur Lösung der Probleme des syrischen Volkes nicht schließlich im allumfassenden Konzept der Würde begründet? Stellt Arbeitslosigkeit denn nicht einen Angriff auf die Würde von Individuen und Gemeinden dar? Was ist mit der Armut und der Verelendung: Können sie gleichzeitig mit der Würde existieren? Stellt es nicht den Gipfel der Missachtung der Idee des intrinsischen Wertes jedes Menschen dar, wenn man jungen Menschen ihre Hoffnung auf die Zukunft vorenthält?

Wir sollten uns richtig verstehen. Beinhaltet der Slogan „Freiheit“ die Idee wirtschaftlicher Freiheit? Wir können davon ausgehen, dass die alternativen Eliten die Umstände, die zu der Revolution führten, nur nachbilden werden. Das haben wir in der Politik der ägyptischen Rettungsfront zu sehen bekommen, als Amr Moussa sich dafür aussprach, mit Mursi eine Vereinbarung zu treffen, um Arbeitsstreiks zu verhindern und die Rechte von Arbeitern und Gewerkschaften zu begrenzen. Sind denn aus Sicht der Menschenwürde – die unser Thema ist – Beschäftigung, ein Dach über dem Kopf, Zugang zu Trinkwasser, ein Gesundheitssystem und eine sichere Umgebung nicht Menschenrechte? Oder werden diese Bereiche in der Mehrzahl von Menschenrechts-Workshops, Prospekten, Konferenzen, Seminaren und Trainings nicht erwähnt, weil die neoliberale Ideologie sie (selbst wenn sie in der staatlichen Verantwortung gelegen hatten) gerne der Privatisierung und der Kommodifizierung und dem Kapital- und Profit-Prinzip ausgesetzt hätte?

Ich stelle fest, dass Klassenkampf heutzutage aus der Mode gekommen ist und ich kenne viele Intellektuelle – inklusive der überwältigenden Mehrheit von Linken –, die den wirtschaftlichen Faktor vernachlässigen, um sich von dem, was sie interessengeleitete Erklärungen nennen, zu distanzieren. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass ihre eigentliche Errungenschaft darin lag, zu beweisen, dass alles Geschehene entweder politisch oder kulturell, ganz zu schweigen von „geostrategisch“ und „geopolitisch“, war. Deshalb war der Imperialismus mit seinen lokalen Herrschern und den dazugehörigen Eliten der ultimative Sieger.

Wenn der syrische Präsident seinen Freunden und Besuchern erzählt, dass es ihm egal ist, ob die Vorstädte von Damaskus zerstört werden, weil er neue Städte bauen kann, um sie zu ersetzen, praktiziert er dann nicht eine Art Klassensystem – in der Tat eine klassengeleitete Vernichtung – gegen Armut und die Armen unter dem Deckmantel der Modernität und der Sauberkeit?

Die Armen auf dem Land und in der Stadt möchten Freiheit; das haben sie mit Blut und großen Opfern bewiesen – das widerspricht den Theorien, denen zufolge demokratische Impulse von der städtischen Mittelklasse ausgehen.

Bestand je die Hoffnung, einen bewaffneten Widerstand vermeiden zu können?

Die militärische Option war keine Option, sie war eine Antwort auf einen Krieg, den das Regime gegen ein gewaltfreies, aufständisches Volk führte.

Syrische Revolutionäre müssen sich vor niemandem rechtfertigen, und in Anbetracht dessen, dass dieses wunderbare Volk damit fortfährt, friedliche Demonstrationen anzustoßen, wann immer sich die Gelegenheit bietet, um seine Präsenz und seine andauernde Bereitschaft zu friedlichen Aktionen zu bekräftigen, sollten sie ihre Zeit nicht darauf verschwenden müssen, zu erklären, weshalb sie „andere Möglichkeiten vernachlässigt“ haben.

Das einzige, was einer Erklärung bedarf, ist ihre Position in Bezug auf Spenden und Unterstützung aus dem Ausland. Jeder, der erlebt hat, was syrische Bürger durchleben mussten, ist Zeuge des vollen Ausmaßes der Unterdrückung und des Abschlachtens geworden, und jeder, der dazu genötigt wurde, die Waffen aufzunehmen, würde überall nach erhältlichen Waffen suchen. Das Regime, dass sie an die Waffen gezwungen hat, zwingt sie auch, Spenden für ihr bewaffnetes Unterfangen anzunehmen. Es ist kein Geheimnis, dass bewaffnete Revolutionen finanzielle Mittel erfordern, die in keinem Verhältnis zu den Kapazitäten der betroffenen Bevölkerung stehen.

Es bleiben wenig Zweifel daran, dass die Situation in Syrien es für ausländische Kräfte zu schwierig macht, einzuschreiten. Das jedoch ist das die größte aller Ausreden, denn die Opposition wird immer patriotischer und weigert sich, in der Schuld von irgendwem zu stehen, solange sie in Wirklichkeit der Kreditgeber ist: Die Herrscher, die sie unterstützen, tun das, um zu verhindern, dass sich das Revolutionsvirus in ihren eigenen Ländern, in ihrer eigenen Bevölkerung ausbreitet. Sie werden die Revolutionen nicht aufhalten. Der Herrscher, der Proteste oder bewaffnete Revolutionen finanziert, tut das, um der Einrichtung effektiver nationaler Demokratien in diesen Ländern vorzubeugen und ein monolithisches Herrschaftsmodell in der Region zu propagieren: ein kapitalistisch auf Gewinn basierendes, konformistisch islamisches Modell (salafistisch und Muslimbruderschaft).

Ist die Revolution ein für alle Mal beendet, wenn sie sich, zumindest in einem ihrer Aspekte, in einen Bürgerkrieg verwandelt? Ist die Klassifikation als „Bürgerkrieg“ – die in den Medien mittlerweile weite Verbreitung findet Ihrer Meinung nach eine objektive Beschreibung der Realität?

Absolut nicht. Die meisten Revolutionen führen zu Bürgerkriegen, ob wir das gutheißen oder nicht. Es sollte betont werden: den Begriff Bürgerkrieg nicht zu verwenden ändert nicht den Umstand, dass zwei militarisierte Gruppen sich bekämpfen, bis eine von ihnen die andere besiegt oder beide so ermattet sind, dass sie in einer Form von Stillstand stecken bleiben.

Was mir Sorgen bereitet ist, dass die Dinge in Syrien sich in die Richtung einer konfessionellen Lösung entwickeln werden. Die meisten der involvierten ausländischen Mächte tragen, ob implizit oder offen sichtbar, zu diesem sektiererischen Narrativ bei und beeinflussen, ob es zu einer Einigung oder einer Lösung zu kommen wird. Darin besteht die große Gefahr. Die Idee des Rücktritts des Präsidenten und einer anschließenden Übergangsphase hat eher eine Debatte um die vermeintliche konfessionelle Identität des Präsidenten und des Premierministers angestoßen, als sich mit einer nationalen Konferenz und der Verbesserung der Verfassung, des politischen Systems und der Gesetze in Hinblick auf reale Probleme zu befassen. Die Saudi-Arabien-Golf-Achse hat dies nie als einen demokratischen Kampf, sondern vielmehr als ein konfessionsgebundenes Thema betrachtet: ein Krieg gegen den Iran, der in Syrien ausgefochten wird. Die Geschichte der USA baut auf Ethnizität, Minderheiten und Neoliberalismus auf. Erinnern Sie sich an die Forderungen Hillary Clintons an Präsident Mursi: Rechte für Kopten und Frauen. Die amerikanische Politik hat die Gewohnheit, Liberale mit Fantasien zu verführen und sie dann zugunsten von Islamisten fallen zu lassen, noch nicht abgelegt. Was ist mit der islamistischen Bedrohung passiert? Die amerikanische Politik benutzt diejenigen Islamisten, die autoritäre Machtstrukturen reproduzieren, und begründet dies damit, dass ein gemäßigter Islam ein Bollwerk gegen die extremistischen und dschihadistischen Formen bildet.

Das bringt mich zu der Frage eines Dilemmas, dem die Revolution entgegen sieht. Es gibt Aufrufe und Forderungen, Minderheiten zu befrieden; zur gleichen Zeit muss die Revolution voranschreiten, um ein bürgerlicher Rechtsstaat, frei von einer konfessionsgebundenen Aufteilung und all den Privilegien, die diesen Prinzipien entgegenwirken, zu werden. Gibt es da nicht einen Widerspruch?

Tatsache ist, dass ich weder gesehen noch gehört habe, wie genau die Minderheiten in Syrien einbezogen werden sollen. Es gab sicherlich integrative Slogans auf der Straße, auf der Ebene der wichtigsten politischen Kräfte war dies nicht ersichtlich. Diese politischen Gegenspieler müssen in ihrer Botschaft eindeutig sein. Zum Beispiel hat der politische Diskurs es bisher nicht geschafft, die Mehrheit der Kurden – selbst diejenigen, die der Revolution neutral gegenüberstanden – davon zu überzeugen, dass das künftige Syrien Gerechtigkeit für ihre Sache mit sich bringen wird. Fast all ihre politischen Kräfte entscheiden sich nun, Fakten zu schaffen. Es gibt einige ernsthafte Diskussionen zu dem Thema, diese beschränken sich jedoch auf intellektuelle Kreise; kurdische politische Führer und Veteranen ihrer Sache versuchen das Thema aufzuschieben, bis der „Sieg“ errungen ist und stellen es zugunsten anderer Prioritäten zurück oder beschränken sich darauf, die Benennung der kurdischen Region in Syrien als „West-Kurdistan“ zu kritisieren.

Im Hinblick darauf, dass man intern in dieser Frage uneins ist: In welcher Hinsicht übt die syrische Revolution Ihrer Ansicht nach einen Einfluss auf den Libanon aus?

Als erstes müssen wir uns, denke ich, von der Idee informeller, ontologischer Beziehungen verabschieden, und als zweites von der Vorstellung, dass Syrien als Staat und Gesellschaft zu blutig und verletzt sein wird, um die Rolle eines Vormunds für den Libanon auszufüllen, an jedem Horizont gibt es einen Silberstreif. Gleichzeitig scheint es unrealistisch zu erwarten, dass am Ende eine Seite den Libanon für sich gewinnen und eine andere ihn verlieren wird. Vergessen Sie nie, dass der Libanon ein seltsames parlamentarisches System hat, auch wenn das Wahlgesetz den Ausgang von Wahlen vorherbestimmt. Um ehrlich zu sein: Ich selbst als libanesischer Staatsbürger erachtete es nicht im Geringsten als bedeutungsvoll, dass die parlamentarische Mehrheit gestürzt wurde und die Allianz des 14. März die Allianz des 8. März ersetzte und eine neue Regierung bildete. Wir haben sie beide ausprobiert und nichts als eine Katastrophe in den grundlegendsten Menschen- und Bürgerrechten geerntet.

Was die Hisbollah und ihre Waffen betrifft, so meine ich wird dieses Thema maßgeblich von der Natur des kommenden syrischen Staates und der Politik seiner künftigen Regierungen abhängig sein. Wird die Feindseligkeit zwischen Syrien und Israel durch einen Friedensvertrag, in dem ein Teil der oder die gesamten Golan-Höhen zurückgegeben werden, beendet werden? Nehmen wir mal an, das wäre so (auch wenn dies in Anbetracht dessen, was in Syrien geschieht und der Kontrolle der Siedler über die israelische Politik höchstunwahrscheinlich ist): Die syrische Regierung wäre durch regionale wie auch internationale Parteien dazu verpflichtet, den Libanon in einen Normalisierungsprozess einzubeziehen.

Anderenfalls sehe ich keine Existenzberechtigung für eine syrische Regierung, die keine Kontrolle über ihre Armee oder deren Fähigkeit, Ressourcen für eine Konfrontation mit Israel zu entwickeln, ausübt. Läge es in einem solchen Fall nicht im Interesse Syriens, einen starken Libanon an seiner Seite zu wissen? Indes würde ich nicht sagen, dass als Antwort einer hypothetischen künftigen Regierung Syriens, die sich an der Hisbollah rächen möchte (und ich für meinen Teil glaube nicht, dass Rache Politik antreibt, selbst in der arabischen Welt), so würde ich nicht meinen, dass sie dazu in der Lage wäre. Es bleibt die Möglichkeit, Waffenlieferungen an die Hisbollah zu unterbinden, angesichts dessen, dass die Hisbollah im Libanon, in Syrien und weltweit für ihre andauernde Unterstützung für das syrische Regime weiterhin einen starken Einbruch in ihrer Popularität erleidet, was sogar ihre Rolle im anti-israelischen Widerstand beeinflusst.

Was die Waffen der Hisbollah anbelangt, erscheint mir unwahrscheinlich, dass eine Schwächung der libanesischen Verteidigungskraft im Interesse Syriens wäre. Zum ersten Mal in der Geschichte verfügt der Libanon über eine bewaffnete Macht, die es ihm erlaubt, Israel abzuschrecken. Steht das dem Interesse eines künftigen syrischen Staates entgegen? Die Hisbollah ist jetzt eine bewaffnete Macht, die ihre Waffengewalt nicht ausübt. Bis wir zu einer Lösung kommen, bei der die beiden Mächte im Land (d.h. die Armee der Hisbollah und die libanesische Armee) zu Verteidigungszwecken geeint sind, werde ich die Waffen der Hisbollah, vor allem die schweren Waffen, weiterhin als Teil des libanesischen Verteidigungsarsenals betrachten.

Diesen Punkt möchte ich gerne zu Ende bringen, indem ich sage, dass die Ankunft eines neuen Regimes in Syrien vielleicht Hoffnung und Antrieb für jene Libanesen bereithält, die lange Zeit an der possenhaften, kontraproduktiven und bedeutungslosen Teilung zwischen den Allianzen des 14. März und des 8. März, von denen beide bewiesen haben, dass sie mit demselben Maß an Korruption, Verschwendung und Unfähigkeit regieren, verzweifeln. Es gab viel Wut über die Unterstützung, die wachsende Teile der syrischen Opposition für das Lager der Allianz des 14. März hegten, was von jenen (und das beschränkt sich keineswegs auf die Kräfte der Allianz des 8. März) als Provokation aufgefasst wurde, die diesem Lager nicht angehörten. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass diese Kräfte weder an der syrischen Opposition verzweifeln und diese Sichtweise dazu nutzen werden, eine Haltung innerhalb der Opposition anzunehmen, noch dass sie sich dafür rächen werden.

In einem ihrer Artikel kritisierten sie das, was sie „die Linken, die die Diktatur unter dem Vorwand von Nationalismus unterstützen“ nannten. Glauben Sie, dass zumindest ein Teil der Linken eine historische Möglichkeit verpasst hat?

Die gewaltige Mehrheit von kommunistischen und sozialistischen Parteien in Ägypten, Tunesien und im Jemen können zu den Gegnern von Tyrannei gezählt werden. Sie wurden Teil der neuen Verteilung, sind jedoch auf der schwächeren Seite. Das Problem dieser schwächeren Seite liegt darin, dass sie mächtigen Gegnern wie den Islamisten, die über eine umfassende und ganzheitliche Weltsicht verfügen, ins Auge sehen muss. Die Linken leiden unter einer fehlenden Weitsicht: Ihre einzige Sorge besteht darin, ihre intellektuelle und politische Unabhängigkeit von ihren Freunden und Feinden zugleich zu sichern. Das ist ihr größtes Problem, ganz zu schweigen von der historischen Bedeutung der Partei – mit ihren einseitigen Dekreten, ihrem Verlangen nach Lob und ihrem doktrinären Hass auf die Demokratie als ein „bourgeoises“ System -, die die Linken heute noch kleinhält.

Dennoch behaupte ich, dass es immer noch einen Platz für die Linken gibt. Zumindest in der Theorie bleiben sie in der Lage, Nationalismus mit Demokratie und sozialer Gerechtigkeit zusammenzuführen. Die einzige Bedingung ist, dass ihre Rolle durch die Verpflichtung, das Volk an erste Stelle zu stellen, beschränkt sein sollte. Dies bedingt, sich von ihrer lehrmäßigen, avantgardistischen, elitären Einstellung dem Volk gegenüber zu lösen. Ein Erbe, das von allen kommunistischen und nationalistischen Parteien, die auf „die Macht der Worte“ aufbauen, geteilt wird.

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Fawwaz Traboulsi ist Professor für Geschichte und Politik an der Lebanese American University (LAU) in Beirut. Er veröffentlichte zu den Themen arabische Geschichte, Politik, soziale Bewegungen und Populärkultur. Er übersetzte zudem mehrere Bücher ins Arabische, darunter Werke von Edward Said, Karl Marx, John Reed, Antonio Gramsci, Isaac Deutscher, John Berger, Etel Adnan und Saidi Yusuf.

Mohammad Al Attar ist ein syrischer Bühnenautor und Theatermacher. Er studierte angewandte Theaterwissenschaft am Goldsmiths College der Universität von London. Sein Stück „Rückzug“ wurde in London, New York, New Delhi, Berlin, Tunis und Beirut aufgeführt. Sein Stück „Online“ hatte seine Premiere am Royal Court Theatre in London. Sein letztes Stück, „Und jetzt bitte direkt in die Kamera“ wurde in Berlin und Brüssel gezeigt. Al Attar veröffentlicht regelmäßig kritische Texte in unterschiedlichen arabischen Zeitungen und Magazinen.

Das Interview wurde am 20.02.2013 in Beirut geführt. Die ungekürzte Version des Interviews mit Fawwaz Traboulsi steht als PDF zum Download bereit.

 
 
 

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