Thomas Heberer umreißt die Hauptmerkmale der chinesischen Minderheitenpolitik und erklärt, wie die unterschiedlichen Ethnien in China auf diese Politik reagieren. -> Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen über und aus Asien.
Häufig wird übersehen, dass China ein Vielnationalitätenstaat ist. Die Unruhen in Tibet im Frühjahr 2008 haben verdeutlicht, dass die ethnische Situation keineswegs stabil ist. Der letzten Volkszählung von 2000 zufolge hatten die 55 „nationalen Minderheiten“ mit 105 Mio. Angehörigen einen Anteil von 8,4 Prozent an der Gesamtbevölkerung Chinas (die „Han“, die Bevölkerungsmehrheit, machten 91,6 Prozent aus). Zwar steht China keineswegs vor einem Zerfall nach sowjetischem Muster. Gleichwohl nehmen die Konflikte zwischen den Nationalitäten zu. Im Gegensatz zu den radikalpolitischen Phasen der Mao-Ära (Großer Sprung 1958-60, Kulturrevolution 1966-76) findet derzeit aber keine versuchte Zwangsassimilierung der Minderheiten statt, sondern eher das, was man als autoritär-patriarchalische Kontrolle bezeichnen könnte.
Im Folgenden soll zunächst der Einfluss von Geschichte und historischen Erfahrungen auf die Nationalitätenbeziehungen analysiert werden. Dabei geht es darum, die Ursachen von Problemen in einen größeren Zusammenhang zu stellen, um sie wirklich verstehen zu können.
Ethnische Konflikte haben historische, politische, ökonomische, kulturelle und soziale Ursachen. Ethnische Konflikte beginnen stets im Denken von Nationalitäten. Im kollektiven Gedächtnis der verschiedenen Nationalitäten manifestiert sich die historische Dimension der Konfliktfelder. Dies bezieht sich auf historische Traumata, wie die Verdrängung, Vernichtung oder Demütigung von Völkern, so z.B. in der neueren Geschichte die blutige Niederschlagung von Aufständen verschiedener Völker gegen die Verdrängungspolitik des Kaiserhofes und die Unterdrückung und Ausbeutung durch Han-Beamte. Die Miao in Guizhou etwa waren im 18. Jh. so verzweifelt, dass sie ihre Siedlungen auflösten, teilweise sogar ihre Frauen und Kinder töteten, um mit aller Kraft und letzter Konsequenz an einem Aufstand teilnehmen zu können, der in einer Niederlage mit 18.000 toten Miao endete. Ihr gesamtes fruchtbares Land wurde an Han verteilt, die Miao mussten sich tief in öde und unfruchtbare Berggebiete zurückziehen. Auch bei der blutigen Niederschlagung muslimischer Aufstände im 19. Jh. haben chinesische Truppen ein solches Gemetzel angerichtet, dass sich die Zahl der Muslime in China nahezu halbierte. Dazu kommen die Traumata der Mao-Ära: die grausame Niederschlagung von Aufständen verschiedener Ethnien in den 1950er Jahren, die Zerstörung und Schändung der Kulturgüter und religiösen Stätten, der Versuch ökonomischer, gesellschaftlicher und kultureller Gleichschaltung. Allein im Verlauf des Aufstandes von 1959 kamen 87.000 Tibeter ums Leben und 2.690 von 2.700 tibetischen Klöstern wurden in den 1960er Jahren zerstört. Durch die Kulturrevolution hat sich das Beziehungsgefüge zwischen den Nationalitäten grundlegend gewandelt.
Ins kollektive Gedächtnis eingegraben haben sich auch traditionelle Vorstellungen von Hierarchisierung wie, dass die Han schon immer „Kultur“ besessen hätten, deren Besitz sie von den anderen Völkern unterscheide, wobei das politische Ziel in der „Kultivierung“ dieser Völker bestand. Kultivierung wurde letztlich mit Sinisierung gleich gesetzt. Die indigenen Völker galten als „Barbaren“, die häufig mit Tieren verglichen wurden. Die traditionellen Vorstellungen vertrugen sich mit dem Weltbild, das Stalin in den 1930er Jahren für alle Völker entworfen hatte und dem zufolge auch die ethnischen Minderheiten Chinas den Stufen primitive, sklavenhalterische, feudalistische oder kapitalistische Gesellschaft zugeordnet wurden. Die von der KP formulierte Aufgabe jeder Nationalität bestand darin, den großen Bruder möglichst schnell einzuholen und sich seiner (sozialistischen) Zivilisation anzunähern. Der patriarchalische sozialistische Staat erhielt die Aufgabe, entsprechende Schritte einzuleiten. Er legte fest, was für die „Minderheiten“ nützlich ist und welche Sitten und Bräuche „gesund“ (oder fortschrittlich) und damit „reformierbar“ waren und welche „ungesund“ (oder rückständig) sind und abgeschafft oder reformiert werden mussten.
Stereotypen wie die genannten stehen einer ernsthaften Beschäftigung und Auseinandersetzung der Han über die Nicht-Han-Völker und ihre Kultur im Wege und beeinflussen bis in die Gegenwart hinein die Vorstellungen der Han von den Nicht-Han, wobei die Letzteren zugleich ein Gefühl latenter Diskriminierung und entwicklungsmäßiger Unterlegenheit entwickelt haben. Werden solche, im kollektiven Gedächtnis eingegrabene Erinnerungen nicht aufgearbeitet, dann sind intraethnische Konflikte vorprogrammiert.
Auf politischem Gebiet bestehen die Kernprobleme im Fehlen genuiner Autonomie. Trotz einer Aufwertung der ethnischen Minoritäten in der Verfassung von 1982, der Verabschiedung eines Autonomiegesetzes im Jahre 1984 und dessen Neufassung von 2001 existiert keine echte Autonomie. Bei der Verfassung und dem Autonomiegesetz handelt es sich um „weiche“ Gesetze, weil es aufgrund fehlender Rechtsinstitutionen (es existieren keine entsprechenden Verfassungs- und Verwaltungsgerichte) und der Überordnung der Partei über das Recht keine rechtlichen und politischen Instrumente zur Durchsetzung dieser Gesetze und ihrer Bestimmungen gibt. Zudem sieht das Autonomiegesetz in wichtigen Fragen wie Einwanderung von Han, Industrieansiedlung oder Schutz natürlicher Ressourcen keinerlei Mitspracherechte der betroffenen Ethnien vor.
Ökonomisch gesehen zählen die Minoritätengebiete zu den ärmsten und am wenigsten entwickelten Regionen. Zwar hat das ökonomische Defizit auch historische Ursachen und kann von daher nicht der gegenwärtigen Parteiführung angelastet werden. Gleichwohl hat eine an die Bedingungen jener Regionen nicht angepasste Entwicklungspolitik seit den 1950er Jahren die Kontinuität von Rückständigkeit begünstigt, und dies, obwohl ein Großteil dieser Gebiete aufgrund reicher Rohstoffvorkommen ein signifikantes Entwicklungspotential besitzt. Die Mehrheit der Menschen unterhalb der Armutsgrenze lebt in Minderheitengebieten, ein Fünftel der Angehörigen ethnischer Minoritäten gelten als arm. Trotz aller Wachstumsraten auch für die autonomen Gebiete haben sich die Entwicklungsunterschiede zwischen den Siedlungsgebieten ethnischer Minoritäten und den Han-Gebieten im Verlauf der Reformära vergrößert.
Verstärkte Zuwanderungen in Minoritätengebiete (von Händlern, staatlichen Institutionen oder Privatpersonen, die ohne Rücksicht auf die lokale Bevölkerung Wälder abholzen, nach Edelmetallen schürfen oder Kohle abbauen) verstärken die Unzufriedenheit in diesen Regionen, zumal auswärtige Händler, Handwerker und Arbeiter einheimische vom Markt verdrängen. Beschäftigte, die einer ethnischen Minorität angehören, werden oftmals schlechter bezahlt, verrichten minderwertigere Tätigkeiten und besitzen geringere Fortbildungschancen als Han. Die Bevorzugung von Han im Wirtschaftsleben hat nicht nur mit Fähigkeiten oder Vorurteilen zu tun, sondern muss zugleich als Ausdruck eines ethnischen Nepotismus’ begriffen werden, bei dem die Han aufgrund ihrer Dominanz und der institutionellen Abhängigkeit der Minoritäten ihre Interessen am besten durchsetzen und sich gegenseitig begünstigen können. Modernisierungsprozesse und sozialer Wandel erzeugen ein Gefühl unterschwelliger Bedrohung, weil die damit verbundene Zuwanderung von Han, die Abwanderung von Angehörigen der eigenen Ethnie, die industrielle Erschließung der Minderheitengebiete sowie die Erodierung der eigenen Kultur (Geringschätzung von eigenen Trachten, Bräuchen und Sprachen vor allem unter der Jugend) die Integration und Konsistenz der einzelnen Ethnien schwächt.
Die Nicht-Han Völker reagieren unterschiedlich auf diese Lage. Bei einigen ethnischen Gruppen wächst das Moment der Ethnizität, d.h. das Selbstbewusstsein eigener ethnischer Identität; bei einem Teil davon schlug Ethnizität in Widerstand um (wie in Tibet oder Xinjiang), verbunden mit dem Entstehen separatistischer Bewegungen. Vor allem bei einigen kleineren Nationalitäten hat sich eine Tendenz zur Resignation und der Anpassung an die Han entwickelt. Zum Teil, wie bei den nordostchinesischen kleinen Jägervölkern (Ewenken, Oroqen, Dahuren, Hezhe) haben der von den Behörden erzwungene Wandel im Wirtschaftsleben (Zwangssesshaftmachung mit erzwungener Umwandlung von Nomaden sowie Jägern und Sammlern in Ackerbauern) sowie der Kulturschock aufgrund des Verbots schamanistischer und animistischer Rituale und Praktiken diese Völker physisch und psychisch ruiniert. Nicht anders als bei anderen indigenen Völkern weltweit werden diese Gruppen durch Alkoholismus, Selbstmorde und Krankheiten dezimiert.
Der Reformprozess in China hat keineswegs zu einer Angleichung der Kulturen geführt. Der partielle Rückzug des Staates bewirkt vielmehr eine Rückkehr lokaler Kulturen. In Zeiten raschen sozialen Wandels findet eine Rückbesinnung auf die eigenen Traditionen statt, um sich selber als Gruppe zu erhalten. Die Revitalisierung von Religion gilt nicht nur für den Islam und den tibetischen und mongolischen Buddhismus, sondern auch für animistische, animatistische und schamanistische Glaubensvorstellungen und das Anwachsen von Sekten und chiliastischen Heilsbewegungen.
Zugleich nehmen kriminelle Aktivitäten in vielen Minderheitengebieten zu. Dies gilt besonders für Eigentums- und Drogendelikte, aber auch für Schwerkriminalität (wie Mord oder Raub). Bandenkriminalität ist fast überall ein signifikantes Problem. Mangelnde Beschäftigungsmöglichkeiten, Armut und Rückständigkeit in vielen Minoritätengebieten sowie mangelnder Zugang zu Bildungsmöglichkeiten zählen zu den Hauptursachen. Die wachsende Diskrepanz bei Einkommen, Lebensstandard und Lebensqualität zwischen den Han-Metropolen und den weithin ländlich geprägten Minderheitenregionen vergrößert sich immer mehr. Die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in den eigenen Siedlungsgebieten verbindet sich mit dem Verfall traditionaler Werte und einer Erodierung lokaler ethnischer Gemeinschaften. Kriminelles Verhalten scheint für viele Jugendliche überdies die einzige Möglichkeit zu sein, der Hoffnungslosigkeit und Armut durch raschen Gelderwerb zu entrinnen. Von daher muss kriminelles Verhalten zugleich als eine Art ethnischen Protestes begriffen werden.
Interessant sind auch Selbstbehauptungs- und Aufwertungsdiskurse ethnischer Minderheiten. Dazu zwei Beispiele: Yi-Wissenschaftler (die Yi in Südwestchina zählen mit über acht Millionen Angehörigen zu den großen Minderheiten Chinas) behaupten u.a. die Yi seien die direkten Nachfahren des Yuanmou-Menschen, dessen Fossilien die ältesten in Asien gefundenen darstellen. Der Fund dieser Fossilien im Siedlungsgebiet der Yi belege, dass diese nicht nur die Vorfahren der Han, sondern der gesamten „gelben Rasse“ seien, inklusive der Japaner sowie der indianischen Völker in Amerika. Zudem behaupten Yi-Wissenschaftler, die Schrift der Yi sei ca. 10.000 Jahre alt und damit die älteste Schrift der Welt, von der nicht nur die chinesische Schrift, sondern auch die Schriften in Mesopotamien, Ägypten, Indien und im antiken Mittelmeerraum abstammten. Mit einer derartigen Argumentation, die historisch nicht belegbar ist, fordern Yi-Wissenschaftler das historische Weltbild der Han heraus. Die Yi werden historisch und kulturell aufgewertet, eine signifikante Gegenposition zur han-chinesischen Deutung der Geschichte wird geschaffen, der zufolge die Han Geschichts- und Kulturgeber der anderen Völker sind und diesen gesellschaftlich und politisch stets überlegen waren. Denn der Sichtweise jener Wissenschaftler zufolge stammen die Han von den Yi ab und nicht umgekehrt. Mit dem Argument des Alters der Yi-Schrift als eine Form „chinesischer“ Schrift, wird China wiederum vor der „nationalen Schande“ bewahrt, die Schrift später als andere Zivilisationen (Babylonier, Ägypter, Hethiter, Maya) erfunden zu haben. Damit werden über die Geschichte der Yi zugleich auch China und die chinesische Kultur aufgewertet.
Auf diese Weise gewinnt eine neue historische Identität der Yi Gestalt, die weltweit Einmaligkeit beanspruchen kann. Denn nicht das China der Han ist dieser Argumentation zufolge die älteste Kultur der Menschheit, mit ungebrochener Existenz und Kontinuität, sondern die Kultur der Yi. Die Behauptung, über die Jahrtausende hinweg existiert zu haben und zwar in Form einer Kontinuität nationaler Identität, ist Teil eines konstruierten kollektiven Gedächtnisses, einer erfundenen Tradition, die Geschichte und geschichtliche Ereignisse subjektiv interpretiert und auf diese Weise die kollektive Identität der Yi zu stärken sucht. Andererseits zeigt die Infragestellung des offiziellen Geschichtsbildes, dass das Selbstbewusstsein einiger Völker Chinas und damit auch deren Selbsbehauptungswille signifikant gewachsen sind. Und dies ist als Teil ethnischer Wiedererweckung innerhalb Chinas zu begreifen. (1)
Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass die chinesische Nationalitätenpolitik nach 1949 durchaus konstruktive Ansätze aufweist, die für eine künftige Nationalitätenpolitik fruchtbar gemacht werden könnten. Die Volksrepublik erkannte in den 1950er Jahren offiziell über 50 „nationale Minderheiten“ und damit erstmals deren reale Existenz an und sicherte diese Anerkennung zugleich rechtlich ab. Es wurde ein Recht auf Autonomie formuliert und in Teilbereichen gewährt. Verfassungsrechtlich gelten alle Nationalitäten als gleichberechtigt. Diskriminierung wurde gesetzlich untersagt. Auch Ansätze zur Sonderbehandlung sind erkennbar, wie beim Hochschulzugang (Angehörige ethnischer Minderheiten benötigen bei den Aufnahmeprüfungen eine geringe Punktezahl als Han), bei Geburtenplanung (zwei Kinder) oder Verwendung von Sprachen und Schriften. Ferner gibt es schriftlich fixierte sowie prozentual festgelegte Vertretungsrechte für die ethnischen Minoritäten in den Parlamenten aller Ebenen. Zwar sichert dies keine Partizipation im demokratischen Sinne, es weist aber auf ein gewisses Maß an Akzeptanz von Vertretungsrechten für Minderheiten und deren Einbeziehung in Entscheidungsprozesse hin.
Daran anknüpfend könnten die folgenden Maßnahmen zu einer Lösung der oben erwähnten Konfliktursachen beitragen:
- Anerkennung, dass es auch unter sozialistischen Bedingungen keine Interessensidentität von ethnischen Minderheiten und Staat gibt, zumal aus der Annahme einer solchen Identität der Schluss gezogen wird, es gäbe keine Konflikte und Widersprüche mehr. Die Entwicklungen auf dem Balkan und in der ehemaligen Sowjetunion haben bereits gezeigt, wie fatal eine solche Annahme ist.
- Längerfristig könnte die Schaffung eines föderativen Staates eine Lösungsmöglichkeit bieten. Ein föderalistisches System böte sich nicht nur für Tibet, Taiwan oder für die Provinzen an, sondern auch für zahlreiche andere Siedlungsgebiete von nicht-Han Völkern.
- Die Schaffung eines föderativen Systems könnte zu einer regional und ethnisch angepassteren Politik führen und damit die Zentralregierung entlasten. Föderative Strukturen tragen zugleich den Unterschieden zwischen den Kulturen und Regionen Rechnung und können deren Akzeptanz erleichtern.
- Dies wiederum würde größere Rechtssicherheit voraussetzen, d.h. die gesetzliche Absicherung kultureller, ökonomischer und sozialer Autonomie. Autonome Rechte wären vor allem auch für die indigenen, kleineren Minoritäten wichtig, um deren Überleben zu sichern. Die autonomen Verwaltungseinheiten sollten zugleich über wichtige Fragen wie Zuwanderungen, Industrieansiedlung, Landnutzung und -vergabe, die Kontrolle über natürliche Ressourcen des Gebietes oder Umwelt- und Ökologieschutz selbständig entscheiden können.
- Ein institutioneller Rahmen für die Durchführung und Durchsetzung von Autonomie ist also erforderlich. Dies verlangt u.a. ein unabhängiges Gerichtswesen: der Mehrheit müssen rechtliche Grenzen gesetzt werden. Auch die Partei dürfte dann nicht außerhalb des Rechtsrahmens stehen und der Autonomie übergeordnet bleiben. Nicht nur Einzelpersonen, sondern auch ethnischen Gemeinschaften sollte das Recht eingeräumt werden, Klage gegen Rechtsverstöße zu führen.
- Geschichte und Kultur der einzelnen Nationalitäten sowie die Geschichte der interethnischen Beziehungen sollten neu bewertet werden und zwar in einem offenen Diskurs von Angehörigen der verschiedenen Nationalitäten. Das Konzept der Hierarchisierung von Kulturen und Gesellschaften sollte aufgegeben und es sollte anerkannt werden, dass alle Kulturen und Nationalitäten politisch, gesellschaftlich und kulturell gleichwertig sind.
- Rechte von Minderheiten, die außerhalb autonomer Verwaltungseinheiten leben, sollten abgesichert werden. Territoriale Autonomie sollte zugleich von personaler begleitet sein. Die Sicherstellung und Durchsetzung der genannten Rechte erfordert eine organisierte und legitimierte Interessensvertretung der einzelnen Nationalitäten, zumal das Recht auf Autonomie nur durch organisierte Gemeinschaften vertreten bzw. ausgeübt werden kann. Dies verlangt zunächst Vereinigungsfreiheit für die Minoritäten, d.h. soziale Gruppenbildung.
- Maßnahmen gegen die wachsende Diskriminierung von Angehörigen ethnischer Minderheiten sollten ergriffen werden. Zwar ist offene Diskriminierung gesetzlich untersagt, Diskriminierung herrscht allerdings latent und im Alltag und nimmt besorgniserregend zu.
Solche Maßnahmen träfen in China durchaus auf fruchtbaren Boden, zumal ethnische Minderheiten als solche formal anerkannt und gesetzlich respektiert werden und den Gesetzen zufolge die gleichen Rechte wie die ethnische Majorität genießen. Zudem besteht Konsens in der Notwendigkeit von Sonderbehandlung und positiver Diskriminierung. Doch wie realistisch ist überhaupt die Möglichkeit einer Umsetzung des vorgeschlagenen Maßnahmenkatalogs. Es ist eine Binsenwahrheit, dass in autoritären Staatswesen keine demokratische Nationalitätenpolitik möglich ist. Immerhin ist in den letzten Jahren eine Diskussion über umfangreichere Rechte und ein größeres Maß an Partizipation für die ethnischen Minoritäten in Gang gekommen. Die Diskussion konzentrierte sich zunächst auf das Autonomiegesetz sowie dessen Mängel.
Die Parteiführung hat nicht zuletzt aufgrund der internationalen Entwicklung erkannt, welche Brisanz Nationalitätenkonflikte in sich tragen. Neue Denkansätze sind erkennbar, jedoch nicht so weit gediehen, dass der staatliche Diskurs durch einen öffentlichen, inter-ethnischen abgelöst wird. Die Verschärfung der Konflikte wie im Frühjahr 2008 in Tibet dürfte die Frage des Konfliktmanagements daher zu einer der zentralen politischen Fragen werden lassen. (2)
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Endnoten:
(1) Dies ist ausführlich dokumentiert in: Thomas Heberer, Doing Business in Rural China. Liangshan’s New Ethnic Entrepreneurs, Seattle, London 2007, S. 186ff.
(2) Zur Nationalitätenproblematik vgl. u.a.: Dru Gladney, Dislocating China: Reflections on Muslims, Minorities, and Other Subaltern Subjects, Chicago 2004; Thomas Heberer, Doing Business in Rural China: Liangshan’s New Ethnic Entrepreneurs, Seattle 2007; Robyn R. Iredale/Naran Bilik/Guo Fei (Hg.), China’s Minorities on the Move: Selected Case Studies. Armonk, London 2003; Colin Mackerras, China’s Ethnic Minorities and Globalisation, London, New York 2003; Morris Rossabi (Hg.), Governing China’s Multiethnic Frontiers. Seattle 2004; Thomas Heberer, in: Gunter Schubert, China − Konturen einer Übergangsgesellschaft auf dem Weg in das 21. Jahrhundert, Hamburg 2001, S. 81-134.
Thomas Heberer ist Professor am Lehrstuhl für die Politik Ostasiens des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen.
Der hier abgebildete Text ist ein Auszug aus: Nationalitätenprobleme in China und die Tibetfrage, in: Der Bürger im Staat, 3-4/2008: 203-209. Hrsg.: Landeszentrale für politische Bildung Baden-Würrtemberg. Abgebildet hier mit freundlicher Genehmigung des Autors und dem Landesbildungswerk von Baden-Württemberg.