Offener Brief zur Kampagne gegen die China-Berichterstattung der Deutschen Welle

In der Deutschen Welle ist vor kurzem eine Redakteurin der chinesischsprachigen Radioredaktion infolge ihrer vermeintlich einseitigen Beurteilung des heutigen China ihrer Leitungsfunktion enthoben worden. - Ein offener Brief von 49 Wissenschaftlern. ➤ Aktuelle Artikel, Publikationen und andere Veröffentlichungen über und aus Asien.

An den Intendanten der Deutschen Welle Herrn Erik Bettermann
An den Rundfunkrat der Deutschen Welle
An den Deutschen Bundestag

Betr.: Kampagne gegen die Chinaberichterstattung der Deutschen Welle

In der Deutschen Welle ist vor kurzem eine Redakteurin der chinesischsprachigen Radioredaktion infolge ihrer vermeintlich einseitigen Beurteilung des heutigen China ihrer Leitungsfunktion enthoben worden. Die genannte Redakteurin wurde von dieser Funktion nicht etwa wegen nachgewiesener Verfehlungen in ihrer redaktionellen Arbeit entbunden. Vielmehr wurde sie abgestraft, weil sie u.a. in öffentlichen Diskussionsrunden die Einschätzung eines der führenden deutschen Chinaberichterstatters, des Pekinger Korrespondenten der „Zeit“, wiedergegeben hatte: Dass die Überwindung der Armut für 400 Mio. Chinesen in den letzten 30 Jahren eine der größten Menschenrechtsverbesserungen der jüngeren Zeit sei. Kein Zweifel, darüber kann man streiten. Aber man muss sich darüber streiten können und dürfen, und selbstverständlich muss man solche Aussagen als Journalist zitieren dürfen.

Ein „Autorenkreis der Bundesrepublik“ hat in einem Schreiben an den Bundestag der Chinaredaktion der Deutschen Welle Werbung für den Parteistaat in China vorgeworfen. Der Autorenkreis spricht von einem „Re-Import diktatorischer Propaganda“ und fordert eine „Mitarbeiterprüfung für alle Redaktionen, die über und in totalitäre Länder einschließlich Russlands berichten“; darüber hinaus die Einsetzung eines „unabhängigen, diktaturimmunen Beobachters“, der die Sendungen kontrolliert; und schließlich die nachträgliche Prüfung der Berichterstattung der letzten fünf Jahre und eine nochmalige Stasiüberprüfung der deutschen Mitarbeiter der Deutschen Welle.

Parallel dazu haben einige chinesische Dissidenten, die Aktivisten der religiös-politischen Sekte Falun Gong sind oder mit dieser in Verbindung stehen, ebenfalls an den Bundestag geschrieben und der Deutschen Welle vorgeworfen „für die chinesische Regierung ein befreundetes Medium“ zu sein. Tatsächlich waren die chinesischen Online-Seiten des Senders in China in den letzten Jahren bis kurz vor der Olympiade ununterbrochen gesperrt. Falun Gong-Propagandisten identifizieren zugleich die vermeintlichen Wortführer der „roten Infiltration in Deutschland“: Helmut Schmidt und eine Reihe führender deutscher Chinawissenschaftler, die unter anderem auch von der Deutschen Welle mehrfach interviewt wurden und sich in den letzten Jahren um ein realitätsgerechtes Chinabild bemühten (vgl. dazu den Internetartikel „Die rote Welle in Deutschland“).

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Diese Auseinandersetzung ist Teil des Disputes über die Frage, wie man die derzeitige Entwicklung und den Aufstieg Chinas beurteilen soll. Ist China ein Schurkenstaat, der zunehmend zu einer Bedrohung nach innen und außen wird oder aber ein Land, das einem kontinuierlichen Wandlungsprozess unterliegt und sich dabei zunehmend als ein zuverlässiger Kooperationspartner in internationalen Fragen erweist? Verschiedene und zum Teil widersprüchliche Bilder charakterisieren diesen Entwicklungsprozess: Es gibt Menschenrechtsverletzungen, Korruption, Machtmissbrauch, und es gibt zugleich einen Wandel, der die Strukturen des Systems verändert und der Mehrheit der Menschen signifikante Verbesserungen bringt. Solche widersprüchlichen Entwicklungen verlangen nach einem differenzierten Urteil. Eine solche Differenzierung gab es jedoch in großen Teilen der medialen Berichterstattung in Deutschland vor und während der Olympischen Spiele nicht. Die Deutsche Welle versuchte hier gegenzusteuern. Die „Offenen Briefe“ an den Bundestag rufen zu Ausgrenzung und Zensur auf. Es werden Vorwürfe wie in Zeiten des Kalten Krieges vorgetragen („rote Infiltration“). Es sollen diejenigen Journalisten, Wissenschaftler und Politiker diskreditiert und eingeschüchtert werden, die in sorgfältig recherchierten Berichten und Analysen auf die vielfältigen und widersprüchlichen Facetten der Entwicklung Chinas hinweisen wollen und das Land eben nicht schlicht als „Schurkenstaat“ betrachten. Das angestrebte Ziel ist offenkundig die Unterbindung jeder um Differenzierung bemühten öffentlichen Kommunikation über die Entwicklung Chinas in Journalismus und Wissenschaft und die Verpflichtung aller öffentlichen Akteure dieses Bereichs auf eine pauschale negative Berichterstattung über China.

Wir nehmen die o. g. Vorgänge zum Anlass, um alle Verantwortlichen in Publizistik, Politik und Wissenschaft auf diese beunruhigende Entwicklung und ihre Hintergründe aufmerksam zu machen und für die Wahrung der Grundsätze journalistischer und wissenschaftlicher Professionalität, Eigenverantwortung und Objektivität ohne jede Einschränkungen einzutreten. Insbesondere fordern wir sie auf, sich offensiv und entschieden vor die in der laufenden Kampagne zu Unrecht angegriffenen Personen zu stellen.

Erstunterzeichner am 9.10.2008

Prof. Björn Alpermann, Universität Würzburg, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Chinas
Katrin Altmeyer, Leiterin China Büro der Heinrich-Böll-Stiftung, Peking Dr. Hans-Peter Bartels, MdB
Prof. Wolfgang Behr, Universität Zürich, Ostasiatisches Seminar
Georg Blume, Autor und Journalist von „Die Zeit“ und „taz“, Peking
Prof. em. Chiao Wei, Universität Trier, Sinologie
Prof. Wolfgang Däubler, Universität Bremen, Deutsches und Europäisches Arbeitsrecht, Bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht
Prof. Herta Däubler-Gmelin, MdB, Bundesministerin der Justiz a.D.
Johnny Erling, Autor und Journalist, Peking
Dr. Klaus Fritsche, Geschäftsführer Asienstiftung Essen
Susanne Gaschke, Journalistin und Autorin Wolf Gauer, Journalist, São Paulo
Dr. Christian Göbel, Ostasienwissenschaften, Universität Duisburg-Essen
Prof. Bettina Gransow, FU Berlin, Sinologie/Chinastudien
Jari Grosse-Ruyken, Universität Bonn, Bonner Gesellschaft für China-Studien
Prof. Dieter Grunow, Universität Duisburg-Essen,Politikwissenschaft
Dr. Peter Hachenberg, Universität Düsseldorf, Geschäftsführer des Sprachenzentrums der Universität
André Hakmann, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Universität Trier, Sinologie
Dr. Hermann Halbeisen, Universität Köln, Ostasien-Studien
Prof. Volkmar Hansen, Direktor, Goethe-Museum, Düsseldorf
Klaus Harpprecht, Publizist, La Croix Valmer, Frankreich
Prof. Thomas Heberer, Universität Duisburg-Essen, Ostasienwissenschaften
Prof. Sebastian Heilmann, Universität Trier, Politik Ostasiens
Prof. Carsten Herrmann-Pillath, Academic Director Sino-German School of Governance, Frankfurt/M
Dr. Sascha Klotzbücher, Universität Wien, Sinologie
Prof. Jürgen Kocka, FU u. WZB Berlin, ehem. Präsident des Wissenschaftszentrum Berlin
Peter M. Kuhfuß, Universität Tübingen, Sinologie/Geschichte
Kristin Kupfer, freie Journalistin, Peking
Prof. Dieter Kuhn, Universität Würzburg, Sinologie
Prof. Alfons Labisch, Rektor der Universität Düsseldorf
Prof. Mechthild Leutner, Lehrstuhl Staat, Gesellschaft und Kultur des modernen China im Fach Sinologie am Ostasiatischen Seminar der FU Berlin
Prof. Dirk Linowski, Director Institute of International Business Studies, Steinbeis University, Berlin
Dr. Astrid Lipinsky, Universität Wien, Sinologie
Dr. Huiru Liu, Universität Trier, Sinologie
Albrecht von Lucke, Blätter für Deutsche und Internationale Politik, Berlin
Gisela Mahlmann, Fernsehjournalistin und ehemalige ZDF-Chinakorrespondentin, Baden-Baden
Prof. Dirk Messner, Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik, Bonn
Prof. Thomas Meyer, Universität Dortmund, Politikwissenschaft, Herausgeber/Chefredakteur Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte
Prof. Barbara Mittler, Universität Heidelberg, Sinologie
Michael Müller, MdB und Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Prof. Julian Nida-Rümelin, Universität München, Staatsminister für Kultur und Medien a.D.
Prof. Gregor S. Paul, Universität Karlsruhe und Vorsitzender der Deutschen China-Gesellschaft
Prof. Karl-Heinz Pohl, Universität Trier, Sinologie
Prof. Dr. Andrea Riemenschnitter, Universität Zürich, Moderne
Chinesische Sprache und Literatur am Ostasiatischen Seminar
Walter van Rossum, Publizist, Köln
Prof. Eberhard Sandschneider, Otto Wolff-Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Berlin
Dr. Nora Sausmikat, Asienstiftung Essen
Prof. Monika Schädler, Hochschule Bremen, Wirtschaftssinologie
Prof. Helwig Schmidt-Glintzer, Wolfenbüttel, Vorsitzender des Vorstandes der Deutschen Vereinigung für Chinastudien e.V.
Prof. Axel Schneider, Director, Modern East Asia Research Centre, Leiden University/Niederlande
Prof. Gunter Schubert, Universität Tübingen, Greater China Studies
Prof. Reimund Seidelmann, Universität Gießen, Internationale Politik, Hon. Prof. an der Renmin University, Peking,
Frank Sieren, Autor und Journalist, Peking
Dr. Tilman Spengler, Sinologe und Journalist, Ambach
Dr. Johano Strasser, Präsident des deutschen PEN-Clubs
Prof. Markus Taube, Universität Duisburg-Essen, Ostasienwissenschaften
Barbara Unmüßig, Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung, Berlin
Dr. Gudrun Wacker, Senior Fellow, Stiftung Wissenschaft und Politik, Forschungsgruppe Asien
Prof. Susanne Weigelin-Schwiedrzik, Universität Wien, Moderne Sinologie
Dr. Felix Wemheuer, Universität Wien, Sinologie
Dr. Christoph Zöpel, Staatsminister im Auswärtigen Amt a.D.