“Ich verbringe hier meine Zeit sehr schön” - Solidaritätsnetzwerke der Migrant*innen, urbane Politik und die Istanbul-Konvention

Analyse

Nurhayats Leben innerhalb der Grenzen von Kreuzberg-Neukölln zeigt, wie wichtig die Solidaritätsnetzwerke für die Teilhabe migrantischer und geflüchteter Frauen in Berlin am urbanen Leben sind. Eine vorbehaltlose Umsetzung der Istanbul-Konvention ist unverzichtbar.

Frauen unterschiedlicher ethnischer Herkunft

Nurhayat kommt aus der Türkei. Aus einem für seine Steppen berühmten Dorf in Mittelanatolien. Nach Berlin kam sie im Jahr 1978, im Alter von erst 12 oder 13 Jahren. Für diesen Artikel habe ich ihr den Namen Nurhayat gegeben. Dieser bedeutet lebenspendendes Licht, Helligkeit. Der Name ist Sinnbild für ihre absolute Unabhängigkeit als Frau Ende 40 im Angesicht eines Patriarchats, das jeden Bereich ihres Lebens besetzte. Ihre Kindheit, Jugend und Ehezeit waren von religiöser und emotionaler Ausbeutung und der Dominanz fester, sozialer Geschlechterrollen beherrscht. Unzählige Male dachte Nurhayat daran, aus dem ehelichen Hausstand zu fliehen. Der Hauptgrund, dass sie 30 Jahre lang keinen “geschützten Raum” finden konnte, waren die nur eingeschränkten Rechte, die Deutschland der ersten Migrant*innengeneration von Frauen und Mädchen zugestanden hat. In einer Rückschau auf 60 Jahre Arbeitsmigration zeigt sich, dass der Zugang der ersten Generation der Arbeiter*innen und von Töchtern aus migrantischen Arbeiterfamilien zu Bildung, zum Arbeitsmarkt sowie zu effektiver Strafverfolgung aufgrund geschlechtsspezifischer Gewalt eingeschränkt war. Ursache für diesen eingeschränkten Zugang ist eine Mehrfachdiskriminierung, der diese Migrant*innengeneration ausgesetzt war – und immer noch ist. Die Beispiele für die strukturelle und soziale Gewalt, die Hürden für die Teilhabe der migrantischen Frauen und Mädchen am sozialen, kulturellen und politischen Leben in Deutschland sind vielfältig. Dazu zählt die ökonomische Abhängigkeit, bedingt durch ein Abgedrängtsein in den Niedriglohnsektor, weil ihre in der Türkei erworbenen Diplome oder an den Universitäten, Schulen und Arbeitserfahrungen bei den Arbeitsämtern nicht anerkannt werden. Hinzu kommt die geschlechtsspezifische Gewalt, der sie ausgesetzt sind, und die durch Kulturalisierung legitimiert wird.

Schutz vor Gewalt und Verteidigungspraktiken und die Solidaritätsnetzwerke der Migrantinnen

Seit dem Jahr 2018 ist in Deutschland die Istanbul-Konvention in Kraft. Artikel 4 der Konvention, besagt als grundlegender Artikel, dass die Vertragsparteien sich verpflichten, alle Frauen, Mädchen und LGBTI+ ohne Unterschiede in Bezug auf deren Religion, Sprache, Race, ihr Gender und ihren Aufenthaltsstatus zu schützen. Die Konvention ist in Deutschland immer noch nicht umfassend umgesetzt, weshalb die zweite und dritte Generation der migrantischen Frauen und Mädchen ihre Kämpfe mit selbstentwickelten Methoden des Gewaltschutzes und eigenen Verteidigungspraktiken führt. Einige dieser Praktiken sind zum Beispiel, bei Stellenbewerbungen und Wohnungssuche ihre migrantischstämmigen Namen zu anonymisieren, nicht alleine zu Behörden zu gehen, Rechtsberatung von Migrant*innenvereinen in Anspruch zu nehmen oder von den Erfahrungen der migrantischen Community zu lernen. Zentral für den Erfahrungsaustausch sind Migrantinnenselbstorganisationen, die gegründet wurden, um gemeinsam gegen die ineinandergreifenden Gewaltformen zu kämpfen, noch mehr Frauen zu erreichen und gemeinsam stark zu werden. Diese Vereine wollen die Teilhabe der Frauen am Leben an dem Ort, wo sich ihr Lebensmittelpunkt befindet, also in Deutschland, stärken.  Sie arbeiten auch zu dem Verhältnis der Frauen zur Stadt: Sie wehren sich gegen das soziale und strukturelle Patriarchat, das die Migrant*innen in ihre Wohnungen und Stadtviertel einsperren will. Beispiele hierfür sind Aktivitäten in Vereinsräumen, Märsche, Aktionen, organisierte Versammlungen und Spaziergänge in unterschiedlichen Stadtvierteln.

Nurhayat und ein mehr als 40-jähriges Leben in den Grenzen von Kreuzberg-Neukölln

Als die angeworbenen Menschen vor 60 Jahren, zu Zeiten des kalten Krieges, nach Berlin kamen, wurden sie vom Staat u.a. in den an Ost-Berlin angrenzenden Teilen von Kreuzberg und Neukölln angesiedelt. Mit dem Fall der Berliner Mauer wohnten sie plötzlich zentral. Trotz dieser Entwicklung ist der Radius der meisten Migrant*innen weiterhin - mit Ausnahme von Arbeit, Schule, Besuche bei Freund*innen und Verwandten oder einer Veranstaltung -, auf Kreuzberg-Neukölln begrenzt. Grund hierfür ist die Angst vor Rassismus und gesellschaftlicher und struktureller Diskriminierung, sobald sie die über Jahre aufgebauten, sicheren migrantischen Solidaritätsnetzwerke verlassen. So ist es auch kein Zufall, dass sich das Leben von Nurhayat über 40 Jahre in den Grenzen von Kreuzberg-Neukölln abgespielt hat. Nurhayat wohnte nach ihrer Ankunft in Berlin in der Nähe des Mariannenplatzes in Kreuzberg und nach ihrer Heirat zog sie an den Hermannplatz in Neukölln. Die Fabrik, in der Nurhayat bis zu ihrer Rente arbeitete, und der Migrantinnenverein, an deren Aktivitäten sie seit ihrer Berentung regelmäßig teilnimmt, liegen ebenfalls in diesen Vierteln, sodass sie kaum das Bedürfnis verspürt, auch andere Bezirke der Stadt zu besuchen. Nurhayat beobachtet seit dem Mauerfall die Gentrifizierung der beiden Viertel aus nächster Nähe:

“Niemand liebte Kreuzberg. Es waren alles Billigwohnungen. Sie mochten Kreuzberg nicht, weil es Altbauten waren und weil es hier zu viele Türken gab und Hippies und Penner. Jetzt ist es „Kotti“ geworden, wow … Und weil es jetzt Mitte geworden ist, also zentral in der Mitte der Stadt liegt, ist alles gestiegen und gestiegen. Du kannst keine Wohnung mehr finden in Kreuzberg.”

Nurhayat erinnert sich dabei an die Zeit in ihrer Einzimmerwohnung am Mariannenplatz. Sie erinnert sich an die Toilette außerhalb der Wohnung, die sie mit den Nachbarn teilen musste. In ihren Erinnerungen an diese Wohnungen und das Viertel hat die ausgrenzende Wirkung der Mauer den wichtigsten Platz:

„Sie vermittelte eine kalte Atmosphäre [die Mauer]. Wir hatten sogar Angst, dorthin zu gehen, weil wir in meiner Kindheit hörten, dass man, wenn man weglief, angeschossen würde. Die Gegend war sehr verlassen. Jetzt ist es dort völlig durcheinander, die Mauer ist weg. (…) Niemand ging an der Mauer entlang, alles heruntergekommene Altbauten, die den Krieg überlebt hatten. (...) Ich hatte wirklich Angst, wenn ich da entlang ging.“

Nurhayat liebt heute besonders das Tempelhofer Feld, - die Schnittstelle von Neukölln und Tempelhof. Das Tempelhofer Feld wurde nach der Schließung des Flughafenbetriebs im Jahre 2010 zu einem öffentlichen Raum, der mit seiner Weite und seinem Grün Nurhayat frei und in Sicherheit fühlen lässt. Als Nurhayat entdeckt, dass bei der Planung des Feldes kleine Schrebergärten entstehen, beginnt sie gemeinsam mit ihren Freundinnen, Beete zu bepflanzen. Im Frühling und Sommer verbringt Nurhayat ihre meiste Zeit hier. Sie essen gemeinsam im Garten, amüsieren sich unter Frauen oder beobachten die Menschen auf dem Feld, während sie sich unterhalten. Nurhayat mischt sich gerne unter die Menschenmassen im Kiez und sie ist der Meinung, dass ihr das Leben, das sie in den Grenzen von Kreuzberg-Neukölln aufgebaut hat, reicht:

“Langweile ich mich? Lauf mal dahin. Da auf der Brücke [Admiralbrücke] findest du die unterschiedlichsten Menschen. Nimmst dir ein Bier und schau mal dahin und mal dorthin. Dann gehst du nach Hause. Es ist so, als wärest du an der Strandpromenade gewesen. Ich verbringe hier meine Zeit sehr schön.“

Zweifellos wird das Leben von Nurhayat durch das Sicherheitsgefühl, das ihr die Solidaritätsnetzwerke der Migrantinnen geben, verbessert. Unter anderem erwartet Nurhayat von der Bezirksverwaltung bezüglich der urbanen Politik mehr Räume für Frauen. Sie träumt von Kiezvereinen, in denen Frauen aus aller Welt sich gemeinsam sozialisieren können, weil sie glaubt, Menschen können nur miteinander leben, wenn sie sich kennenlernen. Es ist auch kein Zufall, dass Nurhayat für Frauen mehr Solidaritätsräume fordert. Sie fordert das, was ihr am meisten fehlte, als sie in der Gewaltspirale steckte. Sie lernte im Garten auf dem Tempelhofer Feld eine Frau kennen, die sie mit dem Migrantinnenverein bekannt machte, an dessen Aktivitäten sie nach ihrer Berentung regelmäßig teilnahm. In diesem Verein gewann sie Stärke, ließ sich von ihrem Ehemann scheiden und konnte somit der Gewalt ihres Ehemanns entfliehen. In den über 30 Jahren, die die häusliche Gewalt andauerte, habe sie fliehen wollen. Doch die unzureichenden Bedingungen der Frauenhäuser und die Gerüchte über Frauen, die dort Zuflucht suchten, verunsicherten Nurhayat und zwangen sie zu bleiben. In der gesamten Zeit hat Nurhayat nie daran gedacht, in die Türkei zurückzugehen. Sie kenne die Gesetze in Deutschland besser und fühle sich in den Solidaritätsnetzwerke der Migrantinnen in größerer Sicherheit.

Die Istanbul-Konvention und feministische Politik, die ALLE umfasst

Viele migrantische und geflüchtete Frauen mit einem Lebensmittelpunkt in Deutschland haben unabhängig davon, woher sie geografisch kommen, ähnliche Mehrfachdiskriminierungen wie Nurhayat erlebt. Nurhayat erzählt uns eigentlich die Geschichte des Kampfes um Rechte der migrantischen und geflüchteten Frauen, insbesondere von denen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, die Gelegenheits- und Minijobs haben und deren wirtschaftliche Unabhängigkeit eingeschränkt ist und die aus diesen Gründen in ihren Wohnungen und in ihrem Viertel gefangen sind. Daher wird die Umsetzung der Istanbul-Konvention, die die migrantischen und geflüchteten Frauen, die Mädchen und LGBTI+ Personen umfasst, auch im Hinblick auf die urbane Politik immer wichtiger. Für mehr Teilhabe der Migrantinnen am urbanen Leben ist Folgendes notwendig: Der Ausbau der Frauenhäuser, finanzielle Ressourcen für professionelle Mitarbeiter*innen in den Frauenhäusern, die Erfahrung mit Diversität und Genderthemen haben, mehrsprachige Beratungsangebote für Traumatisierte und für den Zugang zum Arbeitsmarkt, Kündigungsschutz und gleicher Lohn für gleiche Arbeit, um die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Frauen zu gewährleisten, und Migrantinnen einen Aufenthaltsstatus unabhängig von dem ihres Mannes zu geben. Nur so können sie vor häuslicher Gewalt geschützt werden.

Allerdings hat Deutschland bei der Ratifizierung der Istanbul-Konvention Vorbehalte zu Artikel 59 (Absatz 2 und 3) erklärt, also zu dem Recht auf einen eigenständigen Aufenthalt unabhängig vom Ehemann, und damit den Migrant*innen die Flucht aus der häuslichen Gewalt erschwert. Um einen eigenständigen Aufenthaltsstatus unabhängig vom Aufenthalt des Ehemannes erhalten zu können, sollen die von häuslicher Gewalt betroffene Frauen sich an den Härtefallkommissionen wenden. Jedoch sind die Verfahren vor diesen Kommissionen in jedem Bundesland und sogar in jeder Stadt unterschiedlich, sodass die Angst der Frauen, ihren Aufenthaltsstatus und somit ihre Kinder zu verlieren beziehungsweise keine finanziellen Mittel für den eigenen Unterhalt und den der Kinder zu haben, sehr groß ist. Dies sind einige der Gründe dafür, warum Frauen weiterhin in der Gewaltspirale leben. Die Teilhabe der Migrantinnen am sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Leben in Deutschland wird zum einen erschwert, da keine umfassenden Studien zu den konkreten Bedürfnissen der Minderheitengruppen, unabhängig von ihrem Gender und Aufenthaltsstatus, durchgeführt werden. Zum anderen wird die Teilhabe behindert, weil die Forderung nach Schutz vor Gewalt und koordinierten Verteidigungsstrategien als “Luxus” angesehen werden, und weil patriarchale, strukturelle, soziale Gewalt kulturalisiert wird. Doch wenn wir für ALLE ein gerechtes und gleichberechtigtes Leben fordern, dann brauchen wir eine feministische Politik, die ALLE umfasst.

 

>> Zur türkischen Version des Artikels auf der Webseite unsere Büros in Istanbul.