Im Namen der Europäischen Union: Von der Bedeutung der Worte

Kommentar

In den letzten Tagen ist in der EU oft die Rede von einer drohenden „Flüchtlingswelle" oder „Migrationskatastrophe“. Doch die eigentliche Katastrophe ist das Versagen westlicher Regierungen bei der Rettung der Menschen aus Afghanistan, die unseren Schutz verdienen, kommentiert unsere Büroleitung in Brüssel, Eva van de Rakt.

Ursula von der Leyen and Charles Michel in Brüssel
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Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission und Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, im Februar 2021 in Brüssel.

Heinrich Böll schrieb 1965: „Wer die Sprache liebt, weiß, daß sie das menschlichste am Menschen ist und daß sie darum auch der schrecklichste Ausdruck seiner Unmenschlichkeit werden kann: Worte töten, Worte heilen (…).“[1]

Ich muss in den letzten Tagen oft an dieses Zitat denken. Erschüttert und sprachlos verfolge ich, wie unvorbereitet die USA und EU-Mitgliedstaaten die Machtübernahme der Taliban getroffen hat – mit verheerenden Folgen für alle Menschen vor Ort, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten für Demokratie, für Menschenrechte und Meinungsfreiheit in Afghanistan eingesetzt haben. Es wird mit jedem Tag offensichtlicher, dass die Sicherheitslage in Afghanistan auch durch die Fehleinschätzungen westlicher Regierungen in wenigen Tagen so gefährlich, so lebensbedrohlich geworden ist. Wie viele Menschenleben bis zum Abzug der US-Truppen gerettet werden können, ist ungewiss. Noch bis vor Kurzem wurden Schutzsuchende von EU-Mitgliedstaaten nach Afghanistan abgeschoben.

Wenn ich mir vorstelle, dass die Betroffenen nun Erklärungen von westlichen Politikerinnen und Politkern hören oder lesen müssen, die nicht ihre Sicherheit in den Mittelpunkt aller Anstrengungen stellen, sondern vor einem Anstieg der Anzahl von Geflüchteten warnen, die die Außengrenzen der EU erreichen könnten, läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. Ob direkt intentioniert oder nicht, ob in Unkenntnis oder Gleichgültigkeit gesprochen: Worte können töten.

Welche Krise?

Es ist in den letzten Tagen in der EU oft die Rede von einer drohenden „Flüchtlingswelle“, einer bevorstehenden „Migrationskatastrophe“, einer zu erwartenden „Flüchtlingskrise“. Diese entmenschlichenden Sprachbilder der Bedrohung werden häufig als vermeintlich neutrale Begriffe verwendet. 2015, so die derzeit weit verbreitete krude Botschaft und absurde Behauptung, dürfe sich nicht wiederholen. Dabei ist die eigentliche Katastrophe, dass westliche Regierungen nicht in der Lage sein werden, bis Ende August alle Menschen aus Afghanistan in Sicherheit zu bringen, die in jeder Hinsicht Anspruch auf unseren Schutz haben.

Schon 2015 hatten wir es nicht mit einer „Flüchtlingskrise“, sondern mit einer Krise europäischer Flüchtlingspolitik zu tun. Das ist eine sprachliche Präzisierung, die einen großen Unterschied macht, sowohl in der Darstellung als auch in der Wahrnehmung der damaligen Ereignisse. Man darf von demokratischen Politikerinnen und Politikern erwarten, dass sie keine Falsch- und Desinformation verbreiten, und dass sie ihre Worte sorgfältig wählen, um Polarisierungen und Eskalationen zu vermeiden. Denn ihre Worte könnten heilen.

Doch die migrationspolitische Krise hält bis heute an. Sie überschattet viele Diskurse und sägt in ihrer niederschmetternden Ausweglosigkeit an den Grundpfeilern des europäischen Projekts. Während man in Europa den Kopf schüttelt, weil sich Menschen in Afghanistan angesichts schlagartig wegbrechender internationaler Unterstützung vor Ort widerstandslos den Taliban ergaben, bekommen es führende Politikerinnen und Politiker in der EU nicht einmal auf die Reihe, europäische Werte mit klaren und unmissverständlichen Worten zu verteidigen, weil sie offensichtlich fürchten, die Gunst der Wählerschaft zu verlieren.

Vor knapp einem Jahr legte die Europäische Kommission das „Neue Migrations- und Asylpaket“ vor. Allerdings bedeutet dieser lang angekündigte Vorschlag in der Praxis keine Überwindung, sondern eine Fortsetzung und auch Verschärfung der Mängel des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Im Jargon der Europäischen Kommission spricht man immer häufiger von „Migrationsmanagement“. Worte können verschleiern.

Welche europäische Souveränität?

Der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, sprach in einer ersten Erklärung „im Namen der Europäischen Union“ nach seinem Treffen mit den Außenministerinnen und Außenministern explizit von der Gefahr „unkontrollierter irregulärer Migration“ und betonte im Schlusssatz, dass „die EU Nachbarländer Afghanistans bei der Bewältigung negativer Ausstrahlungseffekte (unterstützen wird), die von einem zunehmenden Zustrom von Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten zu erwarten sind“. Die Tatsache, dass Borrell diese Worte wählt, während zeitgleich Menschen den Flughafen in Kabul nicht erreichen oder verlassen können und um ihr Leben fürchten, zeigt vor allem eines: Die EU ist mit sich selbst beschäftigt, rechtsautoritäre Regierungschefs geben in der Migrations- und Asylpolitik seit Jahren den Ton an und treiben auch die EU-Institutionen vor sich her. Es ist absurd, dass sich der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik in einer Erklärung an die Weltöffentlichkeit wendet, um vor allem innenpolitische Signale zu senden. Es zeigt, wie himmelschreiend weit der Anspruch von der Wirklichkeit einer in den letzten Jahren immer wieder geforderten europäischen Souveränität und ernstzunehmenden globalen Rolle der EU entfernt ist.

Man darf Borrell nicht unterstellen, dass ihm die Schicksale der Betroffenen egal sind. Natürlich betonte er, dass die Evakuierung europäischer Staatsbürger und afghanischer Ortskräfte Priorität habe und forderte den „Schutz und die Förderung aller Menschenrechte, insbesondere der Menschenrechte von Frauen und Mädchen“. Es ist gegenüber den gefährdeten Menschen vor Ort allerdings respektlos und politisch unverantwortlich, zugleich vor einer „potenziellen Migrationskatastrophe“ zu warnen. Bei dem Versuch, Humanität und Entschlossenheit zu zeigen, ohne den EU-Regierungen auf den Schlips zu treten, die in ihrer politischen Kommunikation vor allem auf das Wort „Migrationsabwehr“ setzen, bleiben alle gut gemeinten Worte, bleiben Empathie und Glaubwürdigkeit leider auf der Strecke.

Eine Frage des politischen Willens

Auch der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, sprach das Thema Migration bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem spanischen Premierminister Pedro Sánchez an, während sie den „Welcome Hub“ für evakuierte afghanische Ortskräfte der EU-Delegation und deren Familien auf der spanischen Luftwaffenbasis Torrejón in Madrid besuchten: „Wir werden uns auch mit Fragen in Bezug auf Migration beschäftigen müssen. Wir sind uns darüber bewusst, dass Migrationsfragen immer ein schwieriges Thema sind, weltweit, einschließlich in der EU. Unser Ansatz, der aus dem Aufbau von Partnerschaften mit Drittländern bestehen muss, wird auch Gegenstand der Diskussionen sein, die der Europäische Rat mit der Europäischen Kommission führen wird. Dabei geht es um die Entwicklung von Strategien, um Kapazitäten für legale und geordnete Migration sicherzustellen, und darum, dieses Gleichgewicht zu finden zwischen der Integrität des europäischen Projekts, die meiner Meinung nach von zentraler Bedeutung ist, und der Fähigkeit, die europäischen Interessen zu verteidigen und Sicherheit zu gewährleisten.“

Hängen bleiben die Schlagwörter: Schwieriges Thema, Drittländer, Kapazitäten, Verteidigung europäischer Interessen und Sicherheit – auch wenn von der Leyen danach explizit auf die Notwendigkeit und moralische Pflicht der EU hinwies, in Abstimmung mit der internationalen Gemeinschaft für gefährdete und schutzbedürftige Personen Resettlement-Programme auf den Weg zu bringen.

Im Hinblick auf die traumatischen Erfahrungen der gerade in der EU gelandeten Ortskräfte und deren Familien ist es beschämend, dass ihre Ankunft vom Präsidenten des Europäischen Rates als „schwieriges Thema“ bezeichnet wird. Ein würdiges Willkommen sieht anders aus. Die Bewältigung der migrationspolitischen Herausforderungen und Konflikte in der EU ist zudem keine Frage von Kapazitäten, sondern eine Frage des politischen Willens.

In gemeinsamer Sache?

Michel und von der Leyen lobten den sozialdemokratischen Regierungschef Sánchez zu Recht für seine Bereitschaft, vorerst die aus Kabul ausgeflogenen afghanischen Ortskräfte der EU-Delegation und deren Familien aufzunehmen – zu Recht alleine schon deshalb, weil Spanien als ein Land mit einer EU-Außengrenze zum Mittelmeer neben Italien und Griechenland von anderen Mitgliedstaaten immer wieder bei der Aufnahme von Geflüchteten alleine gelassen wurde und wird. Klar ist aber, dass die 27 Mitgliedstaaten auch in naher Zukunft höchstwahrscheinlich nicht in der Lage sein werden, sich auf die Umverteilung der in Spanien angekommenen Schutzbedürftigen und Kontingente für die Aufnahme von Geflüchteten aus Afghanistan zu einigen.

Erschwerend kommt in diesem Zusammenhang hinzu, dass Slowenien noch bis Ende 2021 den EU-Ratsvorsitz innehaben wird. Am 22. August twitterte der rechtskonservative slowenische Ministerpräsident Janez Janša mit Fotos aus 2015, dass die EU keine „Migrationskorridore“ öffnen werde. Seine Partei SDS ist Mitglied der Fraktion der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament. Der Präsident des Europäischen Parlaments David Sassoli wies Janša richtigerweise darauf hin, dass es nicht Aufgabe des Ratsvorsitzes sei zu sagen, was die EU tun werde. Es ist peinlich, dass ein derartiger Hinweis überhaupt nötig ist. Dennoch kann Janša im Rahmen der Ratspräsidentschaft Gespräche und Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten beeinflussen, weil es zu den Aufgaben einer Ratspräsidentschaft gehört, die Tagungen des Rates zu organisieren und zu leiten sowie bei Konflikten zwischen den Mitgliedstaaten oder zwischen dem Rat und anderen EU-Institutionen Kompromisse auszuarbeiten. Die slowenische Regierung kann als derzeitige Moderatorin EU-interner Verhandlungen diese durchaus verzögern oder blockieren.    

Es wird in den nächsten Wochen und Monaten darauf ankommen, dass einzelne EU-Mitgliedstaaten mit gutem Beispiel vorangehen und den Diskurs nicht anderen überlassen – dazu gehört es, Aufnahmebereitschaft zu signalisieren und Menschen aus Afghanistan eine gesicherte Bleibeperspektive und Zukunftschancen in der EU zu bieten. Auf die zukünftige deutsche Bundesregierung kommt in diesem Kontext nun mehr als eine besondere Verantwortung zu.

Worte machen dabei einen existenziellen Unterschied. Denn Worte können töten, Worte können aber auch heilen.

 


[1] Kölner Ausgabe Bd. 14 der Heinrich Böll Werkausgabe, herausgegeben von Jochen Schubert, „Epitaph für Walter Widmer“, S. 324-325, Köln, Kiepenheuer und Witsch, 2002