Die große Mehrheit erwartet eine aktive EU-Politik

Interview

Die Studie „Selbstverständlich europäisch!? 2021“ untersucht, welche Europapolitik sich die deutschen Bürger:innen von der nächsten Bundesregierung wünschen. Zudem erhebt sie bereits im dritten Jahr das deutsche Selbstbild bezüglich Deutschlands Rolle in der EU. In diesem Interview diskutieren die Autorin und der Autor der Studie, Dr. Christine Pütz und Johannes Hillje, welche Schlüsse sich aus ihrer Untersuchung über die deutsche Europapolitik ziehen lassen und verraten, welche Fehlannahmen es über das Verhältnis der Deutschen zur EU gibt. ► Zu allen Inhalten der «Selbstverständlich europäisch?!» Studie.

Johannes Hillje und Dr. Christine Pütz - Studie "Selbstverständlich europäisch!?"

Ihr beide seid Europa-Expert:innen und führt diese Studie bereits zum dritten Mal durch. Was würdet ihr sagen, ist eine häufige Fehlannahme über das Verhältnis der Deutschen zu Europa?

Christine Pütz: Ein häufig angeführtes Motiv ist, dass die Deutschen „Zahlmeister Europas“ seien. Zumindest wird dieses Argument mit Rückgriff auf „die deutschen Steuerzahler“ immer wieder in der politischen Debatte angeführt, um zu begründen, warum die Bundesregierung bestimmte Integrationsschritte oder Politikbereiche nicht proaktiv europäisch angehen solle. Die damit begründete passive Haltung der deutschen Regierung in den letzten Jahren war der Grund, warum wir 2019 die erste Studie unternommen haben.

Die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger wünscht sich von der Bundesregierung eine aktive und kooperative Europapolitik.

Dr. Christine Pütz

Dieser Befund ist aus unserer Sicht ein Appell an die Politik, europapolitische Debatten nicht pauschal auf die verkürzten Argumentationskategorien von Ausgaben und Schuldenmachen zu reduzieren, sondern darüber zu reden, welche konkreten gesellschaftlichen Ziele wir uns setzen wollen und welche Investitionen es dafür bedarf. Dann stellt sich zwangsläufig die Frage, wie wir die notwendigen Investitionen finanzieren wollen. Deshalb brauchen wir eine sachliche Debatte über die Vor- und Nachteile einer Fiskalunion. Das pauschale Hantieren mit den Schlagwörtern „Schuldenunion“ oder „Transferunion“ bringt uns hier nicht weiter.

 

Johannes Hillje: Wir sprechen viel zu häufig pauschalisiert von „EU-Skepsis“ oder „EU-Zustimmung“. Ich glaube, die deutsche Gesellschaft ist längst über die Frage hinweg, ob wir die EU wollen oder nicht – wir wollen sie selbstverständlich. Wenn man diese kaum gewinnbringende Frage hinter sich lässt, gelangt man zu den viel wichtigeren, zu den politischen Fragen: Was soll europäische Politik und die europäischen Institutionen leisten, was nicht, und was braucht Europa dafür an Geld, Kompetenzen und so weiter, um diesen Erwartungen gerecht zu werden. Wir versuchen mit dieser Studie einen Teil dieser Fragen zu beantworten.

Welches der diesjährigen Studienergebnisse hat euch besonders überrascht? Und mit welchem Ergebnis habt ihr vielleicht bereits gerechnet?

Johannes Hillje: Es gab im letzten Jahr eine Mehrheit in Deutschland, die die gemeinsame Schuldenaufnahme für den Wiederaufbaufonds, also dem großen europäischen Investitionsprogramm zur Überwindung der Corona-Krise, unterstützt hat. Wir haben nun gemessen, dass die Gesellschaft bei der Frage gespalten ist, ob eine solche gemeinsame Schuldenaufnahme auch in Zukunft möglich sein sollte. Das Interessante daran ist, dass wir hierbei eine klassische Links-Rechts-Spaltung im Parteienspektrum feststellen konnte: Die Anhänger*innen von CDU, FDP und AfD sind gegen diese Art der Fiskalunion, bei Grünen, SPD und Linken ist eine Mehrheit dafür. Warum ist das interessant? Weil derzeit im Bundestagswahlkampf oftmals so getan wird als gebe es in der Europapolitik keinen großen Konflikt zwischen den Kanzlerkandierenden.

Ich meine: Die Zukunft der Fiskalunion ist aktuell eine der entscheidenden Fragen in der Europapolitik – und hier gibt es offenbar einen Konflikt zwischen progressivem und konservativem Lager.

Johannes Hillje

Christine Pütz: Mich hat die deutliche Mehrheit für die Ausweitung der Mehrheitsentscheidung im Europäischen Rat überrascht. Sicher spielt hierbei die Erinnerung an das letzte Jahr eine Rolle, als Ungarn und Polen über Wochen die Verhandlungen über das EU-Budget und den Wiederaufbaufonds blockierten, um die Koppelung des Haushalts an das Rechtsstaatsprinzip zu verhindern. Zudem wurde Deutschland bei der Asylpolitik als das blockierte Land wahrgenommen. Andererseits gibt es auch genügend andere Situationen, in denen auch die deutsche Regierung blockiert, z.B. bei der Fiskalunion oder bei den Emissionsgrenzwerte für die Automobilindustrie. Dieses deutliche Ergebnis zeigt: Die Bürger*innen wünschen sich eine handlungs- und entscheidungsfähige EU, die politische Ziele verfolgen und umsetzen kann.

 

Die Umfrage verdeutlicht, dass der Glaube daran, dass Deutschland seine Ziele eher mit als ohne die EU erreichen kann im Vergleich zu den Vorjahren leicht gesunken ist - auch wenn die Mehrheit immer noch daran festhält. Gleichzeitig ist die Zustimmung an der EU-Mitgliedschaft stabil hoch geblieben. Wie erklärt ihr euch das und welche Schlussfolgerungen zieht ihr daraus?

Christine Pütz: Wir schlussfolgern daraus, dass sie Bürgerinnen und Bürger vom Prinzip des gemeinsamen europäischen Handelns überzeugt sind. Deshalb bleibt die grundsätzliche Zustimmung zu EU stabil, auch wenn es konjunkturelle Enttäuschungen über mangelnde Handlungsfähigkeit der EU gibt wie jetzt bei der Impfstoffbeschaffung. Im Übrigen hat hier nicht nur die EU – wenn hiermit die Brüsseler Institutionen gemeint sind – Fehler gemacht, sondern genauso die nationalen Regierungen, insbesondere die deutsche, die ab Sommer 2020 die EU-Ratspräsidentschaft innehatte.

Johannes Hillje: Die Ergebnisse sind nur auf den ersten Blick widersprüchlich. Ich interpretiere es so: Die Deutschen haben ganz grundsätzlich eine positive Grundhaltung zur EU, die sich auch von Pannen in der Impftstoffpolitik nicht erschüttern lässt. Aber man wünscht sich mehr Handlungsfähigkeit von der EU – insbesondere in solchen Krisenmomenten. Zugenommen hat also nicht die Skepsis an der EU, sondern die konstruktive Kritik an der Art und Weise, wie die EU heutzutage zu Entscheidungen kommt.

Die Studie zeigt auf, dass sich die Deutschen insbesondere ein Engagement der Regierung in den Bereichen der europäischen Asylpolitik, der Rechtsstaatlichkeit, der gemeinsamen Sozialstandards und der Klimapolitik erhoffen. Wo seht ihr hier aktuell die größten Hindernisse bzw. das größte Potential?

Christine Pütz: Es fällt auf, dass die Bürgerinnen und Bürger die Themen nach oben auf die Prioritätenliste gesetzt haben, bei denen trotz dringendem Handlungsbedarf zu wenig passiert – entweder weil es starke Widerstände in der EU gibt oder weil es noch keine EU-Kompetenz dafür gibt. Die hohe Priorisierung von gemeinsamen Sozialstandards sollte Anlass sein, proaktiv Impulse und Vorschläge zu liefern. Unsere Studie zeigt zudem, dass Menschen mit niedriger formaler Bildung und ländlicher Wohnlage weniger vom Nutzen der EU überzeugt sind. Der Abbau ökonomischer Ungleichgewichte und die Bekämpfung der Stadt-Land-Spaltung in der EU muss deshalb zu den Prioritäten der nächsten Jahre gehören.

Der Nutzen der europäischen Politik muss vor Ort und für alle Teile der europäischen Gesellschaft spürbar sein.

Dr. Christine Pütz

Johannes Hillje: Das größte Hindernis sehe ich in der Migrationsfrage. Hier stockt der Verständigungs- und Entscheidungsprozess seit Jahren, auch die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ist hierbei nicht weiter gekommen. Vermutlich werden wir nicht umhinkommen, mit dem Prinzip der Koalition der Willigen entschiedener voranzugehen, um endlich die unwürdigen Zustände an den südlichen und östlichen Grenzen der EU zu beenden. Das Leiden der Menschen zu beenden, sollte Priorität haben. Auch bei der Rechtsstaatlichkeit ist die deutsche Regierung gefragt. Lange hat man sich im Kreise der Regierungen weggeduckt, auch aus fatalen Loyalitäten gegenüber konservativen und auch sozialdemokratischen Schwesterparteien. Deutschland sollte sowohl die Europäische Kommission darin unterstützen, die bestehenden Verfahren zur Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit konsequent und umgehend anzuwenden als auch ihr Gewicht bilateral gegenüber Polen und Ungarn wie auch gegenüber Bulgarien, Zypern oder Malta wegen Korruption und anderer Rechtstaatsprobleme im Land geltend zu machen.

Christine Pütz: Viel Potential steckt in der Klimapolitik. Mit dem European Green Deal hat die EU im letzten Jahr bereits ein ambitioniertes Klimaschutzprogramm auf den Weg gebracht. Dass hier ist noch Luft nach oben ist, sehen die Befragten unserer Studie aber auch. Sie nennen den Klimaschutz, bei den Bereichen, in die Deutschland gemeinsam mit seinen EU-Partnern in Zukunft mehr investieren soll, immerhin gleich an zweiter Stelle direkt nach Forschung, Bildung und Innovation. Deutschland muss hier dringend mehr liefern und den Wiederaufbaufonds als Chance für mehr Investitionen in den Klimaschutz nutzen, statt mit den neu bereitgestellten EU-Mittel längst beschlossene Programme zu finanzieren.

Ihr empfehlt in der Studie angesichts der Uneinigkeit der Bürgerinnen und Bürger zur gemeinsamen Schuldenaufnahme eine ehrliche Debatte über die Fiskalunion ohne gängige Zerrbilder und Mythen zu führen. Was ist damit genau gemeint?

Johannes Hillje: Dass die Debatte über gemeinsame Schulden derzeit nicht ehrlich geführt wird, konnte man zuletzt in diversen Einlassungen zum Wiederaufbaufonds erleben. Sogar ehemalige deutsche Finanzminister haben behauptet, Deutschland würde im Notfall für die Schulden aller anderen Staaten haften müssen. Ein solches Bild erzeugt Angst. Es ist aber in der Sache falsch. Richtig ist, dass Deutschland gemäß seines Anteils am EU-Haushalt haftet. Das ist keine gesamtschuldnerische Haftung. Auch der Bundesrechnungshof, der ja ein besonderes Auge auf das deutsche Steuergeld wirft, hat das mittlerweile bestätigt.

Letztlich herrscht in der Debatte ein Ungleichgewicht: Wir sprechen eindimensional von Schulden und blenden den Nutzen der damit finanzierten Investitionen aus.

Johannes Hillje

Wer klug investiert, steigert seine Wirtschaftsleistung und damit seine Einnahmen in der Zukunft und hat langfristig nicht mehr, sondern weniger Schulden.

Die Studie fokussiert sich auf die europapolitischen Erwartungen an die neue Bundesregierung. Was können zivilgesellschaftliche Akteur*innen tun, um die europäische Integration voranzubringen?

Christine Pütz: Gute Frage! Sie legt ein erweitertes Verständnis von der EU zugrunde. Die EU, das sind nicht nur die Brüsseler Institutionen, das ist ein Verbund von lebendigen Demokratien, das ist damit jede und jeder einzeln von uns. Zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure machen ihre Belange deshalb oftmals lokal, national und europäisch geltend, indem sie sich miteinander vernetzen. Dabei ist es wichtig, dass wir europäische Vernetzung auch transnational denken. Gerade für die Zivilgesellschaft, die sich vor Ort autoritären, repressiven Regierungen gegenübersieht – das ist ja leider auch gelebte Realität in der EU -  ist es enorm wichtig, zu wissen: „Wir sind nicht alleine“. Die transnationale Vernetzung ist deshalb enorm wichtig, von Berufsverbänden für Lehrer*innen, Richter*innen oder Menschenrechtsanwält*innen über Umweltschutzorganisation bis hin zu Aktivist*innen für Minderheiten wie die LGBTIQ-Szene, die in Ungarn und Polen unter enormen Druck steht. 

Wenn ihr selbst eine Sache in der deutschen Europapolitik ändern könntet, was wäre das?

Christine Pütz: Ich wünsche mir eine deutsche Europapolitik, die die EU als Gestaltungsfaktor und nicht als Kostenfaktor versteht. Wir müssen jetzt konkret darüber sprechen, wie wir unsere Zukunft gestalten und wie wir die dringenden Themen angehen wollen. Deshalb wünsche ich mir, dass die nächste Bundesregierung beherzt ans Werk geht.

Johannes Hillje: Ich würde mir wünschen, dass den unbequemen Grundsatzfragen nicht ständig aus dem Weg gegangen wird. In der Praxis operiert Europapolitik zu oft nach dem Prinzip „muddling through“. Dann kommt alle paar Jahre eine Krise, die im besten Fall eine wichtige Veränderung in einem bestimmten Bereich, zum Beispiel der Finanz- oder Gesundheitspolitik anstößt, aber das Gesamtgefüge verändert sich kaum. Es sollte eine ehrliche Debatte darüber geben, ob ein Vorangehen von einem Teil der Mitgliedsstaaten bei einzelnen Fragen nicht viel mehr Normalität als Ausnahme werden sollte. Insbesondere wenn die inneren Gegensätze größer werden, drohen immer mehr Lähmungszustände. Europa ist heute in vielen Fragen noch zu langsam und träge, vergeudet dadurch Potenziale. Wenn eine kritische Masse von Ländern etwas vorantrieben will, sollte sie das machen statt darin eine Gefahr für Europas Zusammenhalt insgesamt zu sehen.

Zuletzt wurde ein großer Integrationsfortschritt mit der Schaffung der europäischen Staatsanwaltschaft durch die sogenannte „verstärkte Zusammenarbeit“ von einem Teil der Mitgliedsstaaten erreicht. Wir brauchen mehr solcher Initiativen.

Die Fragen stellten Raphaela Hobbach - Senior Projektmanagerin im Bereich europäische Demokratie und internationaler Dialog beim Progressiven Zentrum und Meera Zaremba - Leiterin der strategischen Kommunikation des Progressiven Zentrums.