Regime macht Tut.By dicht: Redaktion eingesperrt

Hintergrund

Die Schließung des wichtigsten belarusischen Online-Mediums Tut.by und die Festnahme von Mitarbeitenden sind ein neuer schwerer Schlag gegen die Pressefreiheit.

Mitarbeiter:innen Tut.by
Teaser Bild Untertitel
Mitarbeiter:innen von Tut.by - ihre T-Shirts tragen das Bild der Journalistin Katerina Borisewitsch, die bereits zuvor inhaftiert war.

Am 18. Mai 2021 verschwand das erfolgreichste Nachrichtenportal in Belarus - Tut.by - aus dem Netz. An diesem Tag drangen Mitarbeiter der staatlichen Abteilung für Finanzermittlung (DFR) in die Redaktionsräume in Minsk und in anderen Städten ein, durchsuchten Büros und Privatwohnungen, hielten die Journalist:innen und Mitarbeiter:innen bis spät nachts an ihrem Arbeitsplatz fest und nahmen am Ende 14 von ihnen fest.

Die Vorwürfe lauten u.a. Steuerhinterziehung - mittlerweile ein Standardvorwurf, wenn es dem belarusischen Staat darum geht, unliebsame Organisationen oder Personen aus dem Verkehr zu ziehen. Tut.by wurde auch früher schon Ziel von staatlichen Attacken, doch trotz massiver Repressionen, die nach den Massenprotesten in Belarus folgten, berichtete Tut.by weiterhin unabhängig und aktuell. Für die Berichterstattung rund um die Proteste galt es als eines der wichtigsten belarusischen Medien überhaupt.

Ob die Geschichte von Tut.by im Mai 2021 endet, ist offen. Während ihre Kolleg:innen weiterhin inhaftiert sind oder unter Hausarrest stehen, setzt das Team die journalistische Arbeit in den sozialen Netzwerken fort und ist entschlossen weiter zu machen. Nachdem die Hauptwebseite sowie zahlreiche Spiegelserver blockiert waren, informierte das Team auf der neueröffneten Webseite freejournalists.info über die Ereignisse rund um die Schließung, die verhafteten Kolleg:innen, die erhobenen Vorwürfe sowie ihr weiteres Vorgehen.

Die Heinrich-Böll-Stiftung und das Übersetzer:innen-Projekt „Stimmen aus Belarus“ möchten an dieser Stelle das Team von Tut.by zu Wort kommen lassen und dokumentieren in deutscher Sprache den Text von freejournalists.info mit Stand vom 28. Mai 2021.

EXKURS: Repressionen gegen Journalist:innen in Belarus

Seit Beginn der Massenproteste nach der Präsidentschaftswahl im August 2020 eskalierte die Verfolgung von Journalist:innen in Belarus. Sie wurden Opfer von Gewalt, sie wurden verhaftet und landeten im Gefängnis. Nur für das Jahr 2020 zählt die Vereinigung von belarusischen Journalist:innen (BAJ) 480 Festnahmen von Medienvertretern, 62 Fälle von Gewalt gegen Journalist:innen, 196 Presseleute wurden für mehr als 3 Tage festgenommen. Auch 2021 gehen die Repressionen weiter und mit dem Stand heute befinden sich 34 Journalist:innen in belarusischen Gefängnissen und Straflagern.


Wie belarusische Behörden das größte Online-Medium von Belarus vernichten.

Das wichtigste zur Situation und den Menschen, die davon betroffen sind

    • TUT.BY ist das größte Nachrichten- und Medienportal in Belarus mit einer Reichweite von 63 %[1] unter den belarusischen Internetnutzern. Wir berichten offen über alle wichtigen Ereignisse im Land.
    • Am 18.Mai 2021 haben die Behörden die Büroräume von TUT.BY verriegelt, nahmen alle fest, die sich darin aufhielten und sperrten den Zugang zur Webseite.
    • 15 Personen wurden verhaftet, aktive und ehemalige Mitarbeiter von TUT.BY.

Was ist passiert?

Am Morgen des 18. Mai stürmten Sicherheitskräfte die Redaktionsräume von TUT.BY in Minsk sowie die regionalen Büros in Brest, Homel, Witebsk, Mogiljow, Grodno und durchsuchten sie. Unsere Kolleg:innen, die an diesem Tag Dienst hatten, waren telefonisch nicht mehr erreichbar und wurden bis spät in die Nacht in ihren Büros eingesperrt. Später durften einige von ihnen nach Hause, wobei sie eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen mussten, andere wurden inhaftiert.

Am Morgen desselben Tages berichteten mehrere Kolleg:innen, darunter die Chefredakteurin Marina Solotowa, dass sie von Mitarbeitern des Departements für Finanzermittlungen (DFR) zu Hause aufgesucht wurden. Im Wohnhaus der Chefredakteurin von TUT.BY wurde auf ihrer Etage die Tür zum gemeinsamen Vorraum aufgebrochen. Später wurde Marina durch den Hinterausgang abgeführt, ihre technischen Geräte wurden beschlagnahmt.

Auch bei einer anderen Mitarbeiterin von TUT.BY, Jelena Tolkatschewa, fand eine Hausdurchsuchung statt. Zwei Vertreter des Departements für Finanzermittlungen KGK, der Abteilung für Finanzkontrolle des Staatlichen Kontrollkomitees, kamen zur Journalistin des Ressorts „Geld und Macht. Sie wurde zum Verhör ins DFR mitgenommen, wobei Jelena es im letzten Moment schaffte mitzuteilen, dass sie in dem nun laufenden Verfahren als Zeugin geführt wird.

Auch andere Mitarbeiter von TUT.BY wurden von Sicherheitskräften zu Hause aufgesucht:

- Ljudmila Tschekina, Geschäftsführerin

- Irina Rybalko, stellvertretende Geschäftsführerin

- Angela Assad, Chefbuchhalterin (die Hausdurchsuchung fand bei ihr Zuhause sowie bei ihren Eltern statt)

- Maria Nowik, stellvertretende Chefbuchhalterin

- Maxim Gojko, stellvertretende Chefredakteur

- Anna Rudenko, Redakteurin

- Olga Sawkiw, Redakteurin

- Wadim Trusow, Business Analytiker

- Witalij Kalinowskij, Programmierer

- Andrej Awdejew, Manager

Unsere Kolleg:innen berichteten, dass ihre gesamte technische Ausrüstung beschlagnahmt wurde, einschließlich nicht funktionsfähiger Handys sowie Bankkarten. Die Durchsuchung fand im Rahmen des Strafverfahrens gegen die Geschäftsführerin und die Chefbuchhalterin von TUT.BY statt.

Am 19. Mai kamen die Sicherheitskräfte in die Wohnung des Chefredakteurs von "Nasha Niwa" Jegor Martinowitsch und seiner Frau, der Journalistin von TUT.BY Adaria Guschtyn. Die gesamte technische Ausrüstung aus dem Haus des Paares wurde beschlagnahmt. Jegor Martinowitsch musste eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnen, später wurde Adaria zum Verhör ins DFR vorgeladen.

Wer wurde verhaftet und wo befinden sie sich zur Zeit:

Maria Solotowa - Chefredakteurin - Untersuchungsgefängnis Nr. 1, Wolodarskogo-Str.

Olga Loiko - Chefredakteurin für Nachrichten aus dem Ressort Politik und Wirtschaft - Untersuchungsgefängnis Nr. 1, Wolodarskogo-Str.

Jelena Tolkatschewa - Journalistin des Ressorts „Geld und Macht“ - Untersuchungsgefängnis Nr. 1, Wolodarskogo-Str.

Ljudmila Tschekina - Geschäftsführerin - Untersuchungsgefängnis Nr. 1, Wolodarskogo-Str.

Alla Lapatko - Chefingenieurin - Untersuchungsgefängnis Nr. 1, Wolodarskogo-Str.

Alexander Dainenko - Stellvertretende technische Geschäftsführer - Untersuchungsgefängnis des KGB

Irina Rybalko - stellvertretende Geschäftsführerin - Untersuchungsgefängnis Nr. 1, Wolodarskogo-Str.

Angela Assad - Chefbuchhalterin - Untersuchungsgefängnis des KGB

Maria Nowik - Stellvertretende Chefbuchhalterin - Untersuchungsgefängnis Nr. 1, Wolodarskogo-Str.

Jekaterina Tkatschenko - Juristin - Hausarrest

Irina Kostjutschenko - Ex-Juristin von TUT.BY - Hausarrest

Sergei Pawalishew - Geschäftsführer Hoster.by - Hosting-Provider und Regestrator von Domains, die früher Teil des Holdings von TUT.BY waren - Untersuchungsgefängnis des KGB

Daria Danilowa - Managerin des Projekts TAM.BY, der Teil des Unternehmens TUT BY MEDIA ist - Untersuchungsgefängnis des KGB

Andrej Awdejew - Manager von Publisher Box – ein Unternehmen, dass Webseiten aus Belarus bei Generierung von Werbeeinnahmen über die Systeme von Yandex und Google unterstützt - Untersuchungsgefängnis des KGB

Julia Tschernjawskaja - Witwe von Juri Zisser, des Gründers von TUT.BY - Hausarrest


Wie lauten die erhobenen Vorwürfe?

Nach Angaben des staatlichen Kontrollkomitees wurde ein Strafverfahren gegen die geschäftsführenden Mitarbeiter von TUT BY MEDIA eingeleitet. Dabei geht es um den Art. 243, Abs. 2 des Strafgesetzbuchs der Republik Belarus: „Hinterziehung von Steuern und Abgaben im besonderes hohen Umfang. Der wesentliche Punkt der Anschuldigungen: Das Unternehmen habe als Resident des Hi-Tech Parks[2] (HTP) angeblich Einnahmen generiert, die bei ihrem Residentenstatus nicht gestattet sind.

In einem Bericht, der im staatlichen Fernsehsender ONT ausgestrahlt wurde, wurde TUT.BY zur Last gelegt, das Unternehmen habe „spezialisierte Software von Dritten“ verwendet. Das Unternehmen habe damit angeblich Einnahmen generiert, die für Residenten des Hi-Tech Parks nicht zulässig sind. Wir weisen hier darauf hin, dass es keinen Bereich des Onlineportals „TUT BY MEDIA gibt, der Einnahmen generiert hat, die nicht auf die eine oder andere Weise auf eigenen Softwareentwicklungen basieren würden.

Wir erinnern, „TUT BY MEDIA“ hat den Status eines Residenten des Hi-Tech Parks 2019 erhalten. Davor haben wir ein Geschäftsprojekt eingereicht, der von der Verwaltung des Hi-Tech Parks genehmigt wurde. In der ganzen Zeit haben wir der Verwaltung des Parks regelmäßig Bericht erstattet, alle Inspektionen und Audits sind erfolgreich verlaufen. Bis zum 18. Mai 2021 gab es keinerlei Fragen und Beschwerden zu den Aktivitäten des Unternehmens.

Parallel hat das Informationsministerium den Zugang zur Webseite von TUT.BY und ihren Kopien blockiert. Das Ministerium erklärt die Sperrung damit, die Generalstaatsanwaltschaft hätte Verstöße gegen das Gesetz über Massenmedien bezüglich der Veröffentlichung verbotener Informationen festgestellt.

Die Staatsanwälte behaupten, dass Publikationen des Portals Informationen des nicht registrierten Fonds BYSOL[3] enthalten würden. Dieser Fonds sammelt Gelder für Personen, die im Verlauf von Protesten von Gewalt und Repression betroffen waren und solchen, die aus politischen Gründen ihre Arbeit verloren haben. Gegen den Gründer des Fonds ist ein Strafverfahren wegen „Finanzierung von Extremismus“ eingeleitet worden.  

Auch zu anderen Bereichen des Portals ist der Zugang gesperrt worden: dem E-Mail Anbieter mail.tut.by, den Webseiten TAM.BY und REBENOK.BY sowie den mobilen Anwendungen. Gesperrt wurde auch das Projekt help.blog.tut.by über das Gelder für medizinische Behandlungen von Kindern und Erwachsenen gesammelt wurde.

Was ist unser Plan?

Unsere Aufgabe Nr. 1 ist die juristische Unterstützung unserer inhaftierten Mitarbeiter sicherzustellen.

Gleichzeitig setzt TUT.BY seine Arbeit fort: Wir berichten weiter über die wichtigsten Ereignisse im Land. Die Belarusen verfolgen unserer Berichterstattung in den sozialen Netzwerken:

Telegram: https://t.me/tutby_official

Facebook: https://www.facebook.com/tut.by

VKontakte: https://vk.com/tutby

Instagram: http://instagram.com/tutbylive

Viber: https://invite.viber.com/?g2=AQAG6KinUuRDR0lUgJ5tahe1NyPFqJnsMVyVEyeTaPMAwPRdqk%2FU%2FSwlRXFJXl65

Pressekontakt: Alexandra Puschkina - telegram @sashacanon


Übersetzt aus dem Russischen für die Heinrich-Böll-Stiftung und die „Stimmen aus Belarus“ von Wanja Müller

 

[1] Daten des Marktforschungsunternehmens gemius.com

[2] Der Belarus Hi-Tech Park (HTP) ist ein IT-Technologiepark am Rande der belarusischen Hauptstadt Minsk, dessen Gründung im Jahr 2005 auf eine Initiative von Valeri Zepkalo zurückgeht. Unternehmen, die sich hier angesiedelt haben, genießen weitreichende Steuererleichterungen und beschäftigen bis 2020 insgesamt 30.000 Personen. Infolge der politischen Krise haben einige Unternehmen ihren Sitz und Mitarbeiter ins Ausland verlegt.

[3] BYSOL ist ein Solidaritätsfond der demokratischen Bewegung in Belarus: https://bysol.org/en. Es sammelt Spendengelder in Belarus und international, unterstützt finanziell u.a. Betroffene von Gewalt und Repression sowie ihre Familien, Streikaktive in belarusischen Betrieben. Zuletzt wurde eine Spendenaktion zur Unterstützung von verfolgten belarusischen Journalist:innen gestartet: „Media Solidarity Belarus Campaign“.