Report aus der Ägäis: Über europäisches Versagen und moralisch Gebotenes

Hintergrund

Giorgos Christides ist seit 2012 als Reporter für den ‚Spiegel‘ in Griechenland tätig. Er hat häufig für die BBC berichtet (online und Radio). Seine Artikel wurden in der Tageszeitung Ha’aretz (Israel), der portugiesischen Wochenzeitung Expresso und der tschechischen Monatszeitschrift Reporter veröffentlicht. In dieser sehr persönlichen Reportage beschreibt er eindrücklich die Situation für Geflüchtete und Schutzsuchende an Europas Küsten aus griechischer Perspektive.

Zelte eines syrischen Flüchtlingslagers in den Außenbezirken von Athen.

Im November 2020 ertrank ein sechs Jahre alter Junge aus Afghanistan vor der Küste von Samos. Zusammen mit seinem Vater und weiteren Geflüchteten hatte er sich auf einem leckgeschlagenen Schlauchboot befunden. Der tragische Tod des Kindes erregte kaum die Aufmerksamkeit der internationalen Medien oder der griechischen Öffentlichkeit. Stattdessen wurde der Vater des ertrunkenen Jungen festgenommen. Ihn erwartet eine Anklage, weil er einen Minderjährigen diesem Risiko ausgesetzt hat. Im Interview mit dem Anwalt des Vaters beschrieb dieser seinen Mandanten als einen gebrochenen Mann, der nach der Identifizierung seines toten Sohnes im Leichenschauhaus von einem Offizier der Küstenwache getragen werden musste, um seinen völligen Zusammenbruch zu vermeiden.

Vergleichen wir diese Reaktionen und die Berichterstattung über diese Tragödie mit dem Fall eines anderen Flüchtlingsjungen: Mit dem von Alan Kurdi, der im September 2015 ertrank und dessen lebloser Körper an einem türkischen Strand angeschwemmt wurde. Dieses Ereignis und das ikonische Foto des toten Kindes machten international Schlagzeilen. Es löste weltweit eine Welle von Mitgefühl für die Not von Geflüchteten auf ihrem Weg nach Europa aus. Es folgten die Besuche von bekannten Prominenten und Persönlichkeiten wie Papst Franziskus oder Angelina Jolie in Lesbos. Darüber berichtet wurde viel; erreicht wurde aber nur sehr wenig.

Von Mitgefühl zu Feindseligkeit

Der unterschiedliche Umgang mit dem Tod eines Kindes 2015 und 2020 zeigt sehr deutlich, wie stark sich die europäische Haltung zur sogenannten „Flüchtlingskrise” (oder zum Thema „Migration”, wie sie zunehmend genannt wird) gewandelt hat.

Das Thema wird nach wie vor vielerorts sehr emotional diskutiert, ob in Parlamenten oder griechischen Tavernen; es beschäftigt politische Entscheidungsträger/innen auf nationaler und europäischer Ebene; es kann immer noch zur Schicksalsfrage für Regierungen werden; es kann heftige Kriege auf Twitter auslösen; es bestimmt die öffentliche Debatte und ist selbstverständlich auch in den Medien beliebt, weil es Aufmerksamkeit erzeugt.

Allerdings gibt es zwei wesentliche Unterschiede: Zum einen existiert die Krise, mit der sich die Europäer/innen so intensiv beschäftigen, in der Realität nicht mehr. Zumindest nicht in der Form, die die Menschen mit ihr assoziieren - als ungeregelte Ankunft von Flüchtlingsströmen in Europa. 2015/2016 konnte zuletzt von einer „Flüchtlingskrise” dieser Art gesprochen werden, als täglich Tausende von Geflüchteten auf seeuntüchtigen Schlauchbooten aus der Türkei ankamen. Diese Massenbewegung wurde bereits vor langer Zeit aus Gründen unterbunden, auf die in diesem Beitrag später kurz eingegangen werden soll. Darin besteht nun das Paradox: Als Europa sich tatsächlich mit einem Massenzustrom von Migrant/innen konfrontiert sah, war seine Reaktion durch einen humanitären Ansatz gekennzeichnet, der in den Medien, auf politischer Ebene und in der Gesellschaft zum Ausdruck gebracht wurde. Geflüchtete wurden - zurecht - als Menschen wahrgenommen, die Kriege und Gewalt, vor allem der Krieg in Syrien, vertrieben hatte. Sie hatten gute Gründe für eine Flucht und für einen Anspruch auf Asyl. Europa hätte die Verantwortung gehabt, sich um sie zu kümmern.

Damals wurde ihnen, nachdem sie eine der griechischen Inseln erreicht hatten, von den Inselbewohner*/innen vor Ort geholfen. Im nächsten Schritt wurden sie zügig auf das Festland gebracht, von wo aus ihnen dann erlaubt wurde, ihre Reise nach Norden, dem eigentlichen Ziel ihrer Reise, fortzusetzen. Das war eine bewusst getroffene Entscheidung der damaligen griechischen Regierung vor dem Hintergrund, dass das griechische Asylsystem nicht in der Lage war, den großen Ansturm zu bewältigen und, natürlich, eine Reaktion auf die Haltung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die sie in ihrem berühmten Satz “Wir schaffen das” zum Ausdruck brachte.

Dann verschlechterte sich das politische Klima allmählich in Deutschland und Europa. Zäune und Mauern wurden errichtet. Die Balkan-Route wurde geschlossen. Und im März 2016 schloss die EU ein Abkommen mit der Türkei, das zusammengefasst werden kann als Austausch von europäischem Geld und Vergünstigungen gegen die Zusicherung der Türkei, vier Millionen Geflüchtete auf türkischem Territorium zu behalten. Nur eine sehr kleine Zahl von Regelungen aus diesem Abkommen, das heute praktisch tot ist, wurde überhaupt umgesetzt. Dafür gibt es viele Ursachen; sie darzustellen, würde aber den Umfang dieses Beitrags sprengen.

2015 begann man in Europa, Migration nicht nur als humanitäres Problem, sondern zunehmend auch als Sicherheitsproblem zu begreifen, das unter Kontrolle gehalten werden müsse, um der wirtschaftlichen Prosperität, politischen Stabilität und demografischen Zusammensetzung Europas keine verheerenden Schäden zuzufügen. Die sinkenden Ankunftszahlen überzeugten viele Menschen in Europa von der Notwendigkeit dieser Politik. Und wenn wir Erfolg ausschließlich in Zahlen messen, haben sie recht.

Betrachten wir einmal Griechenland, das Land meiner Herkunft, das Land, das ich äußerst gut kenne: Derzeit befinden sich weniger als 18.000 Geflüchtete in den fünf griechischen sogenannten Insel-Hotspots. Damit sind die fünf ägäischen Inseln unweit der anatolischen Küste gemeint, an deren Stränden die meisten Geflüchteten aus der Türkei ankommen. Setzt man diese Zahl einmal ins Verhältnis, entspricht sie weniger als 0,18 % der griechischen Bevölkerung; oder auch ungefähr 0,05 % der Tourist/innen (34 Millionen), die Griechenland 2019 besucht haben. Man könnte alle Geflüchteten von den fünf Inseln zusammen in ein Fußballstadion mittlerer Größe bringen, ohne dadurch dessen Platzkapazitäten vollständig auszuschöpfen.

Die eigentliche Krise: Werte und Gesetze in der EU

Eine Krise gibt es nach wie vor. Nur hat diese nichts mit Zahlen zu tun. Sie betrifft die europäischen Gesetze, Regelungen und Werte, die in einem nur notdürftig verschleierten Versuch, ein „zweites 2015“ zu verhindern, um so eine Gefahr für den Kontinent abzuwenden, systematisch mit Füßen getreten werden.

In Griechenland, aber längst nicht nur dort, kennt man diese Krise nur allzu gut. Sie trägt äußerst vielfältige Züge und zeigt sich beispielsweise ganz offen darin, dass ein Land, das Teil einer der reichsten Regionen dieser Welt ist, trotz der gesunkenen Zahl von ankommenden Geflüchteten noch immer im Krisenmodus arbeitet. Dieses Land ist nach wie vor nicht in der Lage, die einfachste medizinische Versorgung oder rechtlichen und humanitären Schutz für Geflüchtete bereit zu stellen.

Die Frage, die sich vernünftig denkende Menschen über die Jahre immer wieder gestellt haben, ist: Wie kann es sein, dass ein Land zwar in der Lage ist, jedes Jahr das Dreifache seiner Bevölkerung an Tourist/innen zu beherbergen, gleichzeitig nur notdürftig ausgestattete Lager bereitstellen kann, die zum Teil nicht einmal über Heizung, fließendes Wasser oder sanitäre Einrichtungen verfügen und die zur Retraumatisierung von Menschen führen, die vor Konflikten, Armut und Krieg geflohen sind? Wie kann es sein, dass es fünf Jahre nach dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise immer noch kein effektives Asylsystem gibt?

Seit Jahren stehen diese Fragen im Zentrum meiner journalistischen Arbeit. Immer wieder erhielt ich in Gesprächen hinter vorgehaltener Hand eine Antwort, die das Offensichtliche benennt: Die beklagenswerten Zustände in den Aufnahmezentren dienten als Abschreckungsmaßnahme. Andere Versuche, eine Antwort zu erhalten, führten in der Regel dazu, dass die Verantwortung endlos von einem auf den nächsten abgewälzt wurde. Als ich den Lagerleiter von Moria - vor dem Brand jahrelang eines der größten und schändlichsten Lager in Europa - fragte, wie es sein könne, dass solch grauenhafte Bedingungen existierten, gab er mir eine vernünftig klingende Antwort: Moria sei als vorübergehendes Aufnahmezentrum für eine wesentlich kleinere Zahl Geflüchteter geplant worden. Ihm fehlten die Mittel, die Bedürfnisse einer um ein Vielfaches höheren Zahl an Menschen zu erfüllen. Das liege außerhalb seiner Möglichkeiten. Wenn man dann staatliche Stellen damit konfrontiert, antworten die Beamt/innen, ja, die Bedingungen seien nicht ideal, aber bei einem so großen Zustrom seien die Lager zwangsläufig überfüllt und die Bedingungen logischerweise suboptimal. Warum werden die Menschen dann nicht auf das Festland gebracht? Weil das EU-Türkei-Abkommen das nicht zulasse, weil die EU allergisch auf Umsiedelungen reagiere, weil die EU eine Ewigkeit brauche, um Familienzusammenführungen zu gestatten.

Dann wendet man sich an Europa: Wieso sind die griechischen Einrichtungen, wieso ist das Asylsystem in Griechenland immer noch in einem derart maroden Zustand? EU-Vertreter*innen erzählen einem dann zahlreiche Horrorgeschichten über die griechische Bürokratie und die ineffiziente Verteilung der vielen Hundert Millionen Euro, die dem Land zur Verfügung gestellt wurden. Natürlich ist das nur ein Teil der Wahrheit. Unerwähnt bleibt, dass Griechenland gerade eine verheerende Finanzkrise durchgemacht hat oder dass es bei der Einstellung von Personal für die Asylverfahren (bzw. an anderer Stelle in diesem Bereich) strengen Beschränkungen unterlag.

Die Antwort griechischer Beamt/innen auf die Frage, was sie denn mit all dem europäischen Geld angefangen hätten, ist häufig: „Mit Geld lässt sich nicht alles lösen.“ Wie beispielsweise genug Dolmetscher/innen für Englisch, Farsi oder Griechisch zu finden, um die Anhörungen im Rahmen des Asylverfahrens ordentlich durchführen zu können. Oder Ärzt/innen davon zu überzeugen, ihre lukrativen Praxen zu verlassen und stattdessen auf die Inseln zu gehen, um dort die dringend benötigte medizinische Versorgung der Geflüchteten zu übernehmen. Und so weiter und so fort - eine Endlosschleife, in der Zuständigkeiten von einem zum nächsten weitergereicht werden und deren einzige Opfer am Ende die Geflüchteten sind.

Auch im Bereich der Integration hat Griechenland kläglich versagt. Kurz gesagt: Sie existiert praktisch nicht. Vor einigen Jahren kam mein damals 11-jähriger Sohn von der Schule nach Hause und erzählte von einem neuen Mitschüler. Dieser Junge kam aus dem Irak und war ein Jahr älter als die anderen Schüler/innen. Konnte er eine Vorbereitungsklasse besuchen? Fehlanzeige. Die Sprache lernen? Wieder Fehlanzeige. „Was macht er denn dann den ganzen Tag?“ fragte ich meinen Sohn. „Er sitzt einfach da und schaut mit leerem Blick zum Lehrer.“

Wenn man also bedenkt, dass es keinen ordentlichen Unterricht gibt, die griechische Sprache eine riesige Hürde darstellt, es an Jobaussichten mangelt und geeignete Einrichtungen für Minderjährige fehlen, dürfte es eigentlich niemanden mehr wundern, weshalb so viele junge Menschen aus Griechenland wegwollen. Oder dass einige Teenager, überwiegend die 16- bis 18-jährigen, es vorziehen, sich auf den Straßen Athens oder in den Zentren anderer Städte zu prostituieren, wie eine gemeinsam mit der Fotografin Olga Stefatou vom ‚Spiegel‘ gemachte Reportage dokumentierte.

Die erstaunlich große Gleichgültigkeit weiter Teile der griechischen Gesellschaft verschärft das Problem noch. Vielen Griech/innen, die zunächst große Anteilnahme zeigten, deren Bereitschaft zu helfen groß war, wird Migration mittlerweile als Waffe in den Händen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan präsentiert und auch akzeptiert: Eine Drohmittel, die er jederzeit einzusetzen bereit ist, wenn er damit droht, Europa und Griechenland eine große Zahl Geflüchteter „zu schicken“.

Diese Angst ist nicht völlig unbegründet. Im Februar erklärte die Türkei, „ihre Tore öffnen zu wollen“, worauf sich Zehntausende Geflüchteter an der Grenze in Evros sammelten - oder von den türkischen Behörden dorthin gefahren wurden - weil sie dachten, sie könnten dort die Grenze zur EU passieren. Die griechische Polizei und Frontex-Einheiten verhinderten das erfolgreich, von beiden Seiten wurde Tränengas eingesetzt, die Geflüchteten wurden durch Schüsse eingeschüchtert. Unsere Nachforschungen für den ‚Spiegel‘ haben ergeben, dass mindestens ein/e Migrant/in durch Schüsse von griechischer Seite zu Tode gekommen ist. Das Scheitern Erdogans, das Abkommen tatsächlich zu brechen, wurde in Griechenland als nationaler Sieg gefeiert. Dennoch lasten die Drohung Erdogans und sein schamloser Einsatz dieser „Drohung, die Geflüchteten zu schicken“, um Zugeständnisse von Europa zu erhalten, schwer auf der griechischen Öffentlichkeit und griechischen Politiker/innen über alle Parteien hinweg und schürt zudem Feindseligkeiten.

Dann gibt es da noch die Mythen, die erzählt werden. Viele Griech/innen beschuldigen die Geflüchteten, ihnen ihre Arbeitsplätze wegzunehmen. Andere werfen ihnen vor, überhaupt den Versuch unternommen zu haben, die Türkei, „ein sicheres Land“, zu verlassen. Dabei übersehen sie, dass die Türkei nur Syrer/innen internationalen Schutz gewährt und Griechenlands eigenes Asylsystem jedes Jahr Tausende von Asylanträgen bearbeitet. Andere fragen: „Wieso gehen sie nicht einfach zur Botschaft, um dort einen Asylantrag zu stellen?“ Sie haben nicht verstanden, dass dieser Weg versperrt ist, weil die EU den so genannten Asyltourismus verhindern möchte. Zunehmend ist in der griechischen Öffentlichkeit von „Wirtschaftsflüchtlingen“ die Rede, die keine „echten Geflüchteten“ seien (als sei es an der Öffentlichkeit, Zeitungskolumnist/innen, Minister/innen oder Fernsehmoderator/innen darüber zu entscheiden und nicht Sache der zuständigen Behörden nach individueller Einzelfallprüfung). Andere sind davon überzeugt, dass die Zahl schwerer Straftaten rasant gestiegen ist (etwas, das durch keine Statistik belegt wird, es sei denn, man zählt die vielen tausend Migrant/innen mit, die in Griechenland nur deshalb im Gefängnis sitzen, weil sie das Boot gesteuert haben, das sie hierhergebracht hat). Dann ist auch ständig von den gefährlichen Dschihadist/innen die Rede, die sich in den Lagern versteckten (obwohl nur eine verschwindend kleine Zahl der hunderttausenden von Geflüchteten bisher wegen Verbindungen zu Organisationen wie dem IS festgenommen worden sind. Außerdem wimmelt es auf den Inseln von griechischen Anti-Terror-Gruppen, Nachrichtendiensten und Beamten von Europol). Viele dieser Geschichten stammen von Griech/innen, die bisher vermutlich weder einem Geflüchteten noch eine/n Asylsuchende/n begegnet sind.

Festung Griechenland

Die Flüchtlingskrise besteht heute aber vor allem in der vollständigen Missachtung der Menschenrechte und internationalem, nationalem und EU-Recht, insbesondere, seitdem die amtierende griechische Regierung seit März eine „Null-Neuankünfte-Politik verfolgt.

Ausgelöst wurde diese durch die Ereignisse im Februar - die Grenzöffnungen durch Erdogan und die Vorfälle von Evros. In Griechenland, wo Migration vor Corona als Problem Nummer eins gesehen wurde, kommt diese Politik gut an. Auch in Europa wird eine solche Haltung von einigen geschätzt, wo Griechenland mit den Worten von Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, als das „Schutzschild Europas“ gilt. Eine konsequente Überwachung der Grenzen durch Griechenland in Kombination mit den Abfangmaßnahmen der Türkei und den Corona-Einschränkungen macht es den Geflüchteten schwer, die Strände der Ägäis überhaupt noch zu erreichen. Die Politik wirkt also. Nach Angaben der griechischen Regierung sind von März, als diese neue politische Richtung eingeschlagen wurde, bis November 2020 nur 4.344 Geflüchtete in den fünf sogenannten Hotspots auf den Inseln angekommen. Das ist ein Rückgang um 92 % im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.

Aber um welchen Preis? Recherchearbeiten von ‚Spiegel‘, ARD, Bellingcat, Lighthouse Reports und anderen Medien wie der NYT, dem Wall Street Journal oder der DW und dem Guardian haben handfeste Beweise für Zurückweisungen von Geflüchteten auf hoher See erbracht. Darüber hinaus hat der ‚Spiegel‘, gestützt auf Zeugenaussagen, verifiziertes audiovisuelles Material, interne Dokumente und Berichte von Whistleblowern, über eine direkte bzw. indirekte Beteiligung von Frontex-Einheiten an verschiedenen Zwischenfällen berichtet.

Im besten Fall hindert die griechische Küstenwache die Boote mit den Migrant/innen an Bord daran, die griechische Küste zu erreichen, indem sie ihre Boote seeuntüchtig macht oder indem sie durch gefährliche und heftige Manöver so starke Wellen verursacht, dass sie zurück in die Türkei fahren.

Im schlimmsten Fall werden Geflüchtete, die bereits griechischen Boden betreten haben, aufgegriffen, heimlich zu Häfen gebracht, wo sie, nachdem ihnen der Zugang zu einem Asylverfahren kategorisch verweigert worden ist, in Rettungsboote ohne Motor gesetzt und auf offener See sich selbst überlassen werden, bis sie von irgendjemandem aufgesammelt werden. Man darf dabei nicht vergessen, dass darunter viele Frauen und Kinder und Personen sind, die nicht schwimmen können. Ich selbst befand mich einmal in der Ägäis auf einem technisch hochmodernen, mit allem Notwendigen ausgerüsteten und von zwei erfahrenen Kapitän/innen gesteuerten Rettungsboot, dessen Manöver von militärischen Außenposten bei hellem Tageslicht überwacht wurden; und dennoch bekam ich es mit der Angst zu tun.

Kürzlich haben wir im ‚Spiegel‘ über den Fall einer Gruppe von Migrant/innen aus Afrika berichtet, denen die Überfahrt von der Türkei nach Lesbos am 28. November gelungen war. Nachdem man sie festgenommen hatte, wurden sie in der darauffolgenden Nacht illegal in die Türkei abgeschoben. Man setzte sie in ein Boot, auf dem sie hilflos auf hoher See umhertrieben, bis die türkische Küstenwache sie aufgriff.

Über das Unglück dieser Geflüchteten wäre vermutlich weder berichtet worden, noch hätte überhaupt jemand davon erfahren, wären nicht drei Dinge zusammengekommen: Die von den Migrant/innen in weiser Voraussicht aufgenommenen Fotos und Geo-Ortungsdaten, die von ihnen an NGOs geschickt wurden; der Umstand, dass es zwei Mitgliedern der Gruppe gelungen war, ihre Telefone auf der Fahrt in den Norden der Insel zu ihrer Abschiebung zu verstecken; und, vielleicht am Entscheidendsten, die glückliche Begegnung mit einem Griechen, einem Professor, der bereit war, offiziell und unter seinem Namen über eine Begegnung mit zwei Frauen zu berichten. Eine der beiden Frauen konnten wir in Izmir ausfindig machen, und er identifizierte sie eindeutig als diejenige, die er nur einige Tage zuvor auf Lesbos gesehen und fotografiert hatte.

Wie reagiert Griechenland auf diese sorgfältig recherchierten Berichte? Zunächst werden sie oft als türkische Propaganda abgetan, die den Interessen der Menschenschmuggler und den Interessen der NGOs dienen. Ganz zu schweigen von der Enthüllungslawine durch dänische Polizisten, die von mehreren Zurückweisungen berichteten oder die von der Frontex-Luftraumüberwachung aufgezeichnet wurden.

NGOs im Visier

Eine weitere Reaktion Griechenlands besteht darin, die Schlinge um die solidarischen Kräfte immer fester zuzuziehen. Im September wurden vier NGOs, darunter Mare Liberum, Alarm Phone und Josoor von der griechischen Polizei beschuldigt, einen kriminellen Ring zu bilden. Ihnen droht eine Anklage wegen Spionage und Schmuggel. Drei Monate später gibt es noch immer keine Anklage, allerdings wurden die Namen der Beteiligten von den Behörden öffentlich genannt und in den Zeitungen wurden sie als Spion/innen und Schmuggler/innen bezeichnet. Auch ohne Anklageschrift oder Gerichtsurteil ist der Sinn dieses aggressiven Vorgehens klar erkennbar: Helfer/innen sollen mundtot gemacht und eingeschüchtert und die Seerettung soll kriminalisiert werden.

Eine der Beschuldigten in dieser Spionagegeschichte kenne ich persönlich ziemlich gut. Es ist die Österreicherin Natalie Gruber. Die von ihr gegründete NGO, Josoor, ist in Griechenland überhaupt nicht aktiv; sie unterstützt Geflüchtete in der Türkei. Ihr „krimineller Akt“ besteht darin, dass Josoor und die anderen zum „Border Violence Monitoring Network“ zusammengeschlossenen Organisationen Menschenrechtsverletzungen entlang der Balkanroute und in der Ägäis dokumentieren. Natalie arbeitet Tag und Nacht, um Menschen zu helfen. Als ich sie einmal darum bat, mir jemanden zu nennen, der einem Geflüchteten auf Kreta helfen könne, half sie mir unverzüglich. Sie verdient kein Geld mit ihrem Einsatz; sie bezahlt alles aus eigener Tasche. Mit ansehen zu müssen, dass sie in eine kafkaeske Auseinandersetzung mit der griechischen Justiz verstrickt ist, die sich noch über Jahre hinziehen kann, empört mich.

Berichterstattung über Flüchtlinge: Der Preis

An dieser Stelle etwas Persönliches. Viele Kritiker/innen meiner Berichterstattung in den letzten Jahren, vor allem meine griechischen Landsleute, werfen mir vor, dass meine Arbeit das Ergebnis von mangelndem Patriotismus und einer perversen Neigung sei, mein Vaterland Ausländer/innen preisgeben zu wollen. Vor allem, oh Graus, den Deutschen gegenüber.

Dieses Argument ist so lächerlich, dass ich es sofort wieder vergessen hätte, wenn es nicht so weit verbreitet wäre. Diese Kritiker/innen haben nicht verstanden, dass die Arbeit von Journalist/innen gerade darin bestehen sollte, Geschichten ans Tageslicht zu bringen, die von offizieller Seite lieber verschwiegen werden. Was meinen „Patriotismus“ betrifft: Ich liebe mein Land und habe zwei Jahre an der türkisch-bulgarischen Grenze als Offizier gedient. Ich kenne die Komplexität der Region und bin kein Verfechter von „keinen Grenzen“. Aber sein Land zu lieben, an Grenzen zu glauben und sie zu verteidigen, bedeutet nicht, Menschenrechtsverletzungen zu billigen oder offensichtlichen Rechtsverstößen zu tolerieren. Ganz im Gegenteil.

Von einer zweiten Gruppe von Kritiker/innen wird meinen Kolleg/innen, mir und den NGOs vorgeworfen, dass wir scheinheilig seien, weil wir uns mit Themen wie Migration und Menschenrechten beschäftigten, wir uns mit dieser Arbeit gleichzeitig aber auch das Brot verdienten, das wir essen. Letzteres trifft natürlich auf mich zu. Wäre ich Journalist in einer idealen Gesellschaft, würde ich vermutlich nicht für die Medien arbeiten und im Übrigen auch nicht diesen Artikel schreiben. „Von einem Arzt kann man nicht erwarten, dass er Gesunde sympathisch findet“, schrieb Michel de Montaigne in einem seiner Essays und zitiert dabei einen griechischen Comicautor. Aber dieser Angriff, der sich gegen Journalist/innen, NGOs, internationale Organisationen und Helfer/innen richtet, ist pervers: Als wären diejenigen, die über ein Problem berichten, das Problem und nicht das Vorhandensein des Problems an sich.

Diese Art der Kritik lenkt auch den Blick von dem hohen Preis ab, den Journalist/innen für diese Art der Berichterstattung zahlen. Notleidende Kinder ohne ordentliches Essen, ohne die Möglichkeit, eine Schule zu besuchen oder ohne Perspektiven zu sehen, kann einem das Herz brechen. Das gilt auch für die Begegnungen mit schutzlosen, anständigen Menschen, die, manchmal über Jahre, in Lagern ohne fließendes Wasser oder ordentliche sanitäre Einrichtungen leben müssen. Auch die Gespräche mit schiffbrüchigen Überlebenden, die ihre Familien verloren haben, hinterlassen Spuren in der Seele. Nächtelang mit Geflüchteten, die fast nichts besitzen, in einem Zelt zu sitzen und die trotzdem das bisschen, was sie haben, jederzeit teilen (vor allem Tee, gewöhnlich mit sehr viel Zucker) lässt dich wegen deines eigenen privilegierten Status schuldig fühlen. Gleichzeitig erfüllt es dich mit Bewunderung für die Fähigkeit des Menschen, mit den schlimmsten Dingen fertig zu werden. Die Begegnung mit unbegleiteten Minderjährigen, die nichts und niemanden haben, lässt dich nächtelang keinen Schlaf mehr finden, wenn du kein dickes Fell hast. Meins ist nicht dick genug.

Wenn dich Geflüchtete, die dir im Laufe der Jahre begegnet sind, um Rat und Hilfe bitten, dir jede Woche hunderte von Nachrichten wie diese schicken: „Mein Freund, ich brauche einen Anwalt“; „Mein Sohn ist verletzt und es gibt keinen Arzt im Lager“; „Ich wurde sexuell belästigt, was soll ich tun?“, ist das ebenfalls eine ständige Quelle der Unruhe. Besonders dann, wenn du feststellen musst, dass du trotz bester Absichten nicht jedem helfen kannst.

Eines Tages, ich war gerade vom Feld in Samos, einem der schlimmsten Flüchtlingslager in Griechenland, zu meiner vierköpfigen Mittelschicht-Familie zurückgekehrt, erzählte mir mein älterer Sohn als Erstes von seinen Problemen mit seiner PS4-Konsole. Natürlich konnte er nichts dafür, aber ich wurde trotzdem wütend und schenkte mir einen Schnaps ein. Ich habe früher nie getrunken, aber nun ertappe ich mich häufiger dabei, dass ich Schmerz und Angstgefühle mit Hilfe von Alkohol vergessen möchte.

Es ist auch nicht amüsant, bedroht und physisch, online oder per E-Mail eingeschüchtert zu werden. Einer der unglaublichsten Vorfälle ereignete sich im Hafen von Thermi auf Lesbos. Ein kleines Boot mit Geflüchteten wurde von einem wütenden Mob daran gehindert, am Strand anzulegen. Der Mob ergriff anschließend Besitz von den Straßen und machte Jagd auf jede Person, die er für eine/n Journalist/in oder eine/n NGO-Mitarbeiter/in hielt. Ich wurde zwar nicht ernsthaft verletzt, hatte aber Angst - allerdings weniger Angst als die Autovermietung, bei der ich meinen Wagen geliehen hatte.

Ich kann meinen Kritiker/innen also versichern, dass ich lieber heute als morgen in ein normales Leben zurückkehren und über seelisch nicht so belastende Themen schreiben würde. Ich habe mich bereits mehrmals bei dem Gedanken ertappt, wie es wäre, die Uhren zurückzudrehen und in mein vorheriges, weniger ereignisreiches journalistisches Leben zurückzukehren - auch wenn das bedeuten würde, dass mein beruflicher Alltag schlagartig ärmer werden würde - buchstäblich und im übertragenen Sinn.

…und der Lohn

Trotz der Leiden, Frustrationen, Angriffe und Drohungen bedaure ich dennoch nicht, diese Erfahrungen gemacht zu haben, mögen sie auch von Ängsten und Sorgen überschattet sein. Wie sonst hätte ich Menschen wie M. treffen können, einen minderjährigen Waisen aus Afghanistan, der zu Hause bereits alles verloren hatte und im Brand von Moria schließlich auch noch seine Kleidung verlor und der nun in Thessaloniki auf seine Umsiedlung nach Europa wartet, während sein jüngerer Bruder „in den Diensten“ eines Menschenschmugglers steht und versucht, für die Flucht von M. zu bezahlen. Er hat keine Eltern (getötet), keine Freunde, kein Geld, nichts zu tun. Aber er ist immer positiv, es bereitet Freude, mit ihm zu sprechen. Er möchte in Europa die Schule besuchen, eine Krankenpflegerausbildung machen und in die Flüchtlingslager zurückkehren, um anderen wie ihm zu helfen. Er ist resilient und stark. Und er ist entschlossen, etwas aus seinem Leben zu machen. Er ist nicht verbittert und gibt niemandem die Schuld.

Es gibt auch gute Nachrichten. Die EU-Kommission hat eine Task Force eingesetzt, die Griechenland dabei helfen soll, ein neues Aufnahmezentrum mit Modellcharakter in Lesbos zu errichten, das Ende des Sommers bzw. im Herbst fertig sein soll. EU-Kommissarin Ylva Johansson, einige MdEP und Mitgliedstaaten stellen Griechenland und Frontex unter genaue Beobachtung, fordern eine gründliche Untersuchung der Menschenrechtsverletzungen an den Außengrenzen der EU und drängen auf ein wirksames Monitoring. Es wird über einen neuen Asylpakt gesprochen.

Was sind die nächsten Schritte?

Ich bin kein Jurist und habe keine einfachen Antworten. Ich bin aber davon überzeugt, dass es am allerwichtigsten ist, zu zeigen, dass es bei Migration um Menschen geht. Es sollte jedem bewusst sein, dass Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen und dabei ihr eigenes Leben und das ihrer nächsten Angehörigen aufs Spiel setzen, dafür schwerwiegendere Gründe haben, als das deutsche Sozialsystem auszunutzen oder sich einen BMW zu kaufen.

Europa muss seine innere Spaltung überwinden, seine Mitglieder müssen sich untereinander solidarisch verhalten. Es sollte einen Mechanismus zur gerechten Lastenverteilung etablieren, der zu einer Entlastung der Länder an den EU-Außengrenzen, wie Griechenland und Inseln wie Lesbos, Samos, Kos, Chios und Leros, beiträgt.

Europa muss dafür sorgen, dass seine üppig ausgestattete Grenzschutzagentur Frontex die Einhaltung der Menschenrechte effektiv überwacht. Hier wäre ein unabhängiges Monitoring ein wünschenswerter Schritt nach vorne.

Europa muss sichere Fluchtwege schaffen, um die Schleppernetze wirksam zu bekämpfen. Es sollte sich konstruktiv dafür einsetzen, dass die Ursachen, die verantwortlich dafür sind, dass Menschen aus ihrer Heimat fliehen, beseitigt werden.

Europa braucht belastbare und wirksame Regelungen zur Durchführung von Rückführungen, damit Menschen, die keinen internationalen Schutz benötigen, sicher in ihre Heimat zurückkehren können.

Migration wird niemals aufhören. Sie lässt sich auch nicht beenden. Das ist ein weiterer Grund dafür, dass Europa seine moralische Integrität wiederherstellen und seiner Rolle in der Welt als Hüter der Menschenrechte, der Würde des Menschen und der Rechtsstaatlichkeit erneut gerecht werden muss. Der Schutz der Rechte von Geflüchteten und Migrant/innen ist nicht nur eine rechtliche Verpflichtung, er ist moralisch geboten.