Die Türkei öffnet die Tore - Griechenland schließt die Grenzen

Kommentar

Seit die Türkei die Grenze geöffnet hat, herrscht Chaos an Griechenlands Grenze. Um die Situation in den Griff zu bekommen, hat die griechische Regierung das Asylrecht nun temporär ausgesetzt - mit schwerwiegenden Folgen.

Archivbild 2015: Geflüchtete auf einem Boot vor der griechischen Küste
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Archivbild 2015

Der türkische Präsident Recep Tayip Erdogan hat die Tore zu Griechenland geöffnet – unwiderruflich, wie er verkündet. Tausende in der Türkei gestrandete Geflüchtete aus aller Herren Länder wurden mit Bussen an die Landgrenze zu Griechenland nach Edirne und an den Grenzfluss Evros gefahren, andere drängen sich an den Küsten und versuchen, mit einem von Schleppern angebotenen Boot auf dem Seeweg zu einer der nahe gelegenen griechischen Inseln zu gelangen. Die Busse wurden offenbar von der türkischen Regierung bezahlt. Die Schmuggler hingegen können sich die Hände reiben. Erdogans offizielle Legitimierung ihrer Dienste bedeutet für sie ein Konjunkturprogramm. 500 bis 600 Dollar pro Kopf erhalten sie von ihren Kunden. Das erzählen sie stolz vor laufender Kamera.

Aus griechischer Sicht reiht sich diese Aktion der türkischen Regierung ein in zahllose andere Vorfälle, mit denen die Türkei Griechenland provozieren, die bestehenden Grenzen infrage stellen und internationales Recht brechen will. Täglich wird von türkischen Militärjets der griechische Luftraum verletzt, und mit neo-osmanischer Attitude wird das Abkommen von Lausanne (1923), das die gegenwärtigen Grenzen und damit auch eine Außengrenze der EU festlegt, als für die Türkei unvorteilhaft (was es in der Tat auch ist) zurückgewiesen; griechische und zypriotische Sonderwirtschaftszonen um die Inseln werden ignoriert und in ihnen nach Gas und Öl gesucht. Das türkisch-libysche Abkommen über eine Sonderwirtschaftszone quer durch das Mittelmeer signalisiert jetzt auch noch türkische Ansprüche auf Bodenschätze südlich von Kreta. In der griechischen Öffentlichkeit und auch bei Experten herrscht seit langem die Gewissheit, dass es zu einem schweren Konflikt mit der Türkei kommen wird. Die Frage war nur wann und wo.

Der türkische Präsident hat immer wieder mit der Öffnung der Grenze gedroht, wohl wissend, dass die EU einen hohen Preis zu zahlen bereit ist, um eine massenhafte Immigration zu verhindern. Jetzt will er diesen Preis in die Höhe treiben. Dazu instrumentalisiert er schamlos die Hoffnung der Migrant/innen und Flüchtenden, die sich auf türkischem Territorium aufhalten oder von Syrien neu in die Türkei drängen.

Die EU-Türkei Abmachung (ein förmliches Abkommen ist es ja nicht) hatte in der Tat vorgesehen, dass die Türkei mit ihrer Grenzpolizei und Küstenwache die Grenzen weitgehend geschlossen hält. Das gilt jetzt nicht mehr. Aber deshalb muss Griechenland ja nicht auch seine Türen öffnen. Die Absperrung der Grenzen auf dem Land ist dabei leichter als im Meer.

Dramatische Szenen an der Grenze

Aus Sicht der griechischen Regierung, aber auch der Parteien handelt es sich bei dem türkischen Versuch, 100.000 Migrant/innen oder mehr nach Griechenland zu bringen, um eine versuchte Invasion, die das Ziel verfolgt, Griechenland zu destabilisieren und die EU als ganze vorzuführen und zu erpressen. Dem widersetzt sich die griechische Regierung mit Entschiedenheit. Sie hat die Grenzen geschlossen, was ihr Recht ist, und setzt das Asylrecht temporär aus. Sie wehrt die Menschen an der Grenze im Norden mit Stacheldraht, Tränengas und Blendgranaten ab. Einige kommen dennoch durch. Sie berichten, dass türkische Grenzpolizisten sie förmlich in den Fluss gedrängt hätten. Sie werden wegen illegalem Grenzübertritt festgenommen. Die meisten aber werden am Grenzübertritt gehindert.

Sie befinden sich jetzt im Niemandsland zwischen den Grenzen. Die Türkei lässt sie nicht mehr zurück, Griechenland lässt sie nicht rein. Sie sitzen fest, hungern, frieren und sind hilflos. Das produziert nicht nur hässliche Bilder, es ist auch hässlich. Ebenfalls hässliche Szenen spielen sich an den Küsten der Inseln ab, wo aufgebrachte Bewohner/innen die ankommenden Flüchtenden beschimpfen oder nicht an Land gehen lassen wollen. Der türkische Präsident setzt darauf, dass die EU der Macht dieser Bilder nicht lange widerstehen kann und nach kurzer Zeit auf die eine oder andere Weise nachgeben wird. Entweder mit mehr Geld oder sogar mit militärischer Unterstützung beim völkerrechtswidrigen Syrienfeldzug der Türkei - oder mit der Aufnahme einer großen Zahl von Flüchtenden und dem damit verbundenen politischen Preis. Er setzt auch darauf, dass die EU die Schließung der griechischen Grenze nicht dulden kann. Denn Griechenland kann sein Recht auf Grenzkontrolle nur durchsetzen, wenn es gleichzeitig das Asylrecht aussetzt. Diese Entscheidung hat jetzt der griechische Sicherheitsrat verkündet. Für einen Monat nimmt Griechenland an Land und auf seinen Inseln keine Asylanträge mehr entgegen. Mit einem Antrag auf Asyl konnten Flüchtende die rechtliche Verfolgung des illegalen Grenzübertritts aussetzen. Diese Möglichkeit gibt es jetzt nicht mehr. Deshalb werden illegale Immigranten/innen jetzt verurteilt und zurückgeschickt.

Die EU muss sich entscheiden

Griechenland schützt jetzt seine Grenzen und damit eine Außengrenze der EU. Die Reaktionen der EU-Mitgliedsländer auf der nördlich gelegenen Balkanroute bis nach Ungarn und Österreich bestätigen diese Entscheidung der griechischen Regierung ausdrücklich. Sie signalisieren, dass sie, im Falle eines Zusammenbruchs des griechischen Grenzregimes, ihrerseits ihre Grenzen schließen wollen. Griechenland ist in den vergangenen fünf Jahren unter SYRIZA und jetzt unter der Nea Dimokratia an der Bewältigung der Flüchtlingskrise und an dem Aufbau eines effektiven Asylsystems mit fairen und zügigen Verfahren administrativ und auch politisch gescheitert. Die Grenze jetzt zu öffnen, hieße Griechenland in ein großes Idomeni zu verwandeln, zahllose Konflikte auszulösen und tiefgreifend zu destabilisieren. Das ist vielleicht Erdogans Interesse, das kann aber keine Regierung verantworten.

In der EU ist seit Jahren viel vom „Schutz der Außengrenzen“ die Rede. Die Grenzschutzagentur FRONTEX soll aufgerüstet werden, viel High Tech soll zum Einsatz kommen. Aber der Weg der effektiven Grenzsicherung, den die griechische Regierung jetzt geht, ist nicht von der EU und auch nicht vom internationalen Recht vorgesehen.

So schreibt das UN Flüchtlingshilfswerk in seiner Stellungnahme zur Haltung der griechischen Regierung:

Neither the 1951 Convention Relating to the Status of Refugees nor EU refugee law provides any legal basis for the suspension of the reception of asylum applications. Article 78(3) of the Treaty of the Functioning of the EU (TFEU) has been evoked by the Greek Government in this regard, however this provision allows for provisional measures to be adopted by the Council, on a proposal from the Commission and in consultation with the European Parliament, in the event that one or more Member States are confronted by an emergency situation characterized by a sudden inflow of third country nationals while it cannot suspend the internationally recognized right to seek asylum and the principle of non-refoulement that are also emphasized in EU law. Persons entering irregularly on the territory of a State should also not be punished if they present themselves without delay to the authorities to seek asylum.

Die Grenzschließung ist also illegal – was das Verfahren in der EU betrifft; und sie ist eine Verletzung der Menschenrechte. Viele Akteure in Politik und Zivilgesellschaft stellen sich jetzt ausdrücklich und unmissverständlich auf die Seite der Menschenrechte. Sven Giegold und andere Grüne im Europaparlament fordern in einer Eil-Petition die sofortige Rückkehr zum Asylrecht und damit auch die Öffnung der Grenzen für Asylsuchende. Sie fordern auch europäische Solidarität mit Griechenland und die Aufnahme von in Griechenland registrierten Asylsuchenden. Wie diese europäische Hilfe tatsächlich zustande kommen soll, bleibt jedoch ungewiss. Wird die Bundesrepublik, wie gefordert wird, mit gutem Beispiel vorangehen und mehrere Tausend Geflüchtete aufnehmen? Und werden sich ihr auch mehrere andere EU-Länder anschließen?

Wahrscheinlich wird sich der Konflikt durch mehr Geld an die Türkei, und vielleicht sogar direkt an den türkischen Staatshaushalt und damit indirekt auch für die türkischen Kriegsziele in Syrien, entschärfen lassen. Nicht auszuschließen ist aber auch, dass die EU sich der Erpressung widersetzt und ein neues Verständnis vom „Schutz der Außengrenzen“ entwickelt.