CEDAW in Tunesien – EnaZeda kämpft gegen sexuelle Gewalt und Diskriminierung

Hintergrund

Seit September berichten Tunesier/innen online unter dem Hashtag „EnaZeda“ oder „me too“ von Erfahrungen mit sexueller Gewalt. Mittlerweile findet der Protest auch auf der Straße statt. Trotzdem Tunesien in der arabischen Welt eine besonders progressive Gesetzgebung zum Schutz der Rechte von Frauen hat und mit der Umsetzung der CEDAW Konvention vorangeht, sieht die Realität oft anders aus.

Demonstartion gegen Gewalt gegen Frauen

Me Too ist in Tunesien angekommen. Ende September veröffentlichte eine Studentin auf Facebook Fotos eines bekannten Politikers, die zeigen, wie dieser sie auf ihrem Heimweg von der Uni mit runtergelassener Hose im Auto verfolgt und dabei masturbiert. Der Post traf den Nerv der Zeit. Unter dem Hashtag EnaZeda (tunesisches Arabisch für „ich auch“ oder „me too“) teilten kurz darauf Tausende ihre Geschichten von sexueller Belästigung und Gewalt.

Seitdem entstanden neue Netzwerke und Gruppen zu diesem Thema, online und offline. Darunter ist auch die EnaZeda Facebook Gruppe, die von der tunesischen Frauenrechtsorganisation Aswat Nisaa (auf Deutsch „Frauenstimmen“) gegründet wurde, in der bereits mehr als 26.000 Menschen mitmachen.

Vielfach wird anonym von häuslicher Gewalt oder Übergriffen im öffentlichen Nahverkehr berichtet. Erwachsene Opfer erzählen davon, wie sie seit ihrer Kindheit unter Traumata leiden, die durch sexuelle Gewalt ausgelöst wurden, über die sie seit Jahren schwiegen. Menschen aus der LGBITQ+ Community berichten von Übergriffen auf der Straße.

Für viele gleicht diese neue Offenheit einer Revolution. Aufgrund von Scham und Schuldgefühlen wollen Opfer oft nicht über das Erfahrene reden. Und wenn sie sich dazu überwinden, bleiben sexuelle und häusliche Gewalt in der eigenen Familie tabu. Opfer bleiben so ungehört und Täter unbestraft. Im schlimmsten Fall müssen beide neben- oder sogar miteinander weiterleben.

Der Protest verlagert sich aus sozialen Netzwerken in den öffentlichen Raum

Mittlerweile sitzt der eingangs erwähnte Politiker, sein Name ist Zouheir Makhlouf, für die Partei Qalb Tounes im tunesischen Parlament. Die Partei von Medienmogul Nabil Karoui ging bei den Parlamentswahlen am 6. Oktober als zweitstärkste Kraft hervor, obwohl der Parteichef bis vor kurzem noch mit dem Vorwurf von Geldwäsche und Steuerhinterziehung konfrontiert war und in U-Haft saß.

Ungestört konnte Makhlouf jedoch nicht ins Parlament einziehen. Der Protest verlagerte sich von den sozialen Netzwerken auf die Straße. Zur Vereidigung der neuen Abgeordneten am 23. November organisierten Aktivist/innen der EnaZeda Bewegung eine Demonstration vor dem Parlament bei der u.a. Parolen gerufen wurden wie „die Immunität ist für die Politik da, nicht für eure sexuellen Begierden“ und „Wer sexuell belästigt, darf keine Gesetze erlassen“. Zuletzt fertigten die Aktivist/innen Pappsilhouetten für Protest- und Sensibilisierungsaktionen an Unis an, die mit Berichten aus der Facebook Gruppe bedruckt sind. Demnächst sollen die Puppen vor den Gebäuden der regionalen Gerichte im ganzen Land aufgestellt werden.

Tunesien gilt in der MENA-Region tatsächlich als das Land mit der progressivsten Gesetzgebung für den Schutz der Rechte von Frauen. 1956 initiierte der damalige Präsident Habib Bourguiba ein Personenstandsgesetz, das die Polygamie abschaffte und Frauen das Recht gab sich scheiden zu lassen. In der gleichen Zeit wurde den Tunesierinnen das Wahlrecht zugesichert.

Auch seit den Umbrüchen 2011, durch die der Diktator Ben Ali gestürzt wurde und welche zu einer demokratischen Transformation führten, hat sich für Frauenrechte viel getan. So garantiert die neue Verfassung von 2014 „gleiche Rechte und Pflichten für Mann und Frau (…)“ – eine Errungenschaft, die nach langem Kampf mit der moderat-islamistischen Partei Ennahdha durchgesetzt werden konnte, welche zu diesem Zeitpunkt die Frau noch als „komplementär“ zum Mann im Familienleben postulierte.

2017 wurde schließlich ein umfangreiches Gesetz gegen Gewalt gegen Frauen (inklusive häuslicher Gewalt) verabschiedet, das z.B. eine Gefängnisstrafe von einem Jahr und eine Geldstrafe von 3000 tunesischen Dinar (ca. 900 Euro) für sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum vorsieht. Das Gesetz beinhaltet sogar einen Paragraphen zu politischer Gewalt gegen Frauen und stellt damit jedwede Form von Gewalt gegen Frauen im Rahmen ihrer Amtsausübung unter Strafe. Das ist einzigartig in der arabischen Welt. Allerdings ist diese Gesetzgebung sogar unter tunesischen Richter/innen zum Teil noch nicht bekannt.

Programme zur Sensibilisierung gegen Gewalt an Frauen sind notwendig

Und nicht nur in der Judikative gibt es Probleme. Vielen Berichten aus der EnaZeda Facebook Gruppe zufolge finden Opfer in den meist nur von Männern besetzten Polizeistationen zumeist kein Gehör, werden ausgelacht und beschuldigt sexuelle Belästigung oder andere Formen von Gewalt selbst provoziert zu haben.

Die mit dem Gesetz verbundene Schaffung weiblicher Polizeieinheiten, die in jeder Polizeistation im Land explizit als Anlaufstelle für Frauen und Opfer von sexueller Gewalt fungieren sollen, gibt es bei weitem noch nicht flächendeckend. Einer kürzlich vom Ministerium für Frauen, Kinder und Senioren veröffentlichten Studie zufolge wurden 4000 sexuelle Gewaltdelikte gegen Frauen im Zeitraum zwischen 2014 und 2019 zur Anzeige gebracht.

Das ist extrem wenig, wenn man bedenkt, dass 2017 in einer Studie des Centre de recherche, d’études, de documentation et d’information sur la femme (CREDIF), einem Forschungsinstitut desselben Ministeriums 75,4% der tunesischen Frauen angaben, im öffentlichen Raum sexueller Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. 53,3% gaben an Opfer von sexueller Gewalt in öffentlichen Verkehrsmitteln geworden zu sein. Daraufhin startete CREDIF eine Kampagne zur Sensibilisierung unter dem Hashtag #mayerkebch – er (der Belästiger) fährt nicht mit.

Ende November 2019 veröffentlichten das Frauenministerium und das Justizministerium eine neue nationale Strategie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, die auf die Umsetzung des Gesetzes von 2017 angepasst ist. Beinahe zeitgleich verkündete das Bildungsministerium die Aufnahme von Sexualkundeunterricht in den Schulplan. Bereits ab dem fünften Lebensjahr sollen tunesische Schüler/innen über ihren Körper lernen und in den folgenden Schuljahren dem Alter entsprechenden Sexualkundeunterricht erhalten, der auch in den Arabisch-, Sport- und Naturwissenschaftsunterricht integriert werden soll. Ziel ist, Kinder zeitig zu sexueller Gewalt zu sensibilisieren und zu lehren, wie sie sich selbst besser schützen können. Damit werden weitere Tabus aufgebrochen. Auch hier ist Tunesien Vorreiter.

Der Protest geht weiter, im Netz und auf der Straße

Das heißt jedoch nicht, dass der Kampf ein einfacher ist. Die Mehrheit der Abgeordneten im neuen Parlament gehört konservativen Parteien an und auch der neugewählte Präsident Kais Said gilt als sehr konservativ. Darüber hinaus beklagen zivilgesellschaftliche Organisationen, dass seit einigen Jahren sexuelle und reproduktive Rechte vom Staat schleichend eingeschränkt werden, was sich z.B. durch Kürzungen von Subventionen für die Pille oder in einer stärker moralisierenden oder religiös unterlegten Beratung bei Schwangerschaftskonflikten ausdrückt.

Und so geht der Protest online und auf der Straße für Frauenrechte und gegen Gewalt weiter. Während der UN-Aktionstage „16 Tage gegen Gewalt“ organisierte die älteste und einflussreiche tunesische Frauenrechtsorganisation Association Tunisienne des Femmes Democrates (ATFD) Protestmärsche in vier tunesischen Städten.

Die Märsche, die eigentlich als Schweigemärsche konzipiert waren, entwickelten sich zu lauten Kochtopfkonzerten, denen sich auch viele andere zivilgesellschaftliche Organisationen anschlossen. Darunter der Friedensnobelpreisträger von 2015, die Ligue Tunisienne pour la Défense des Droits de l’Homme (LTDH), Organisationen der vielfältigen tunesischen LGBTIQ+-Bewegung, sowie die Aktivist/innen von EnaZeda. Mit Besen bewaffnet wurde von den Demonstrant/innen laut gerufen „Gewalt wegkehren“ und „Revolution der Frauen“.

Am Samstag dem 14. Dezember organisierte eine Gruppe von Aktivist/innen auf dem zentralen Kasbah Platz in Tunis einen Flash Mob, bei dem das feministische Lied aus Chile „El violador eres tú! - Der Vergewaltiger bist Du!“ vor dem Regierungssitz aufgeführt wurde. Diese Proteste scheinen sich nicht zu verlangsamen und nur die Zeit wird zeigen, was ihre sozialen und politischen Auswirkungen sein werden.