„Wir sind nicht viel weiter als der Rest der Welt"

Interview

Der Westen hat die Menschenrechte weder erfunden, noch achtet er sie immer mehr: ein Gespräch mit dem Soziologen und Sozialphilosophen Hans Joas. Ein Text aus unserem Magazin Böll.Thema 1/2016.

Ein Globus vor einer braunen Wand auf der Human Rights geschrieben steht.

Herr Joas, Bundespräsident Gauck hat just bei seinem Staatsbesuch in China darauf hingewiesen, dass die Menschenrechte keine westliche Erfindung seien ...

... wunderbar, das freut mich.

Womöglich hat er Ihre Bücher gelesen, etwa «Die Sakralität der Person», in dem Sie eine neue Genealogie der Menschenrechte entwerfen?

Das könnte schon sein – der Bundespräsident hat mich zumindest gerade eingeladen, an einer Podiumsdiskussion mit ihm zur Migrationspolitik teilzunehmen ...

... sicher auch, um über Menschenrechte zu diskutieren. Für die einen sind sie eine zivilisatorische Errungenschaft der westlich-europäischen Aufklärung, für die anderen ein eurozentrisches, neo-koloniales Konstrukt. Sie pendeln sich irgendwo in der Mitte ein?

Nein, «in der Mitte» ist nicht die richtige Beschreibung meiner Position. Ich habe den Versuch gemacht, drei Ebenen zu unterscheiden: erstens: Menschenrechte als ein philosophisches oder religiöses Ethos, zweitens: Menschenrechte als rechtlich kodifiziert auf dem Territorium einzelner Staaten und drittens Menschenrechte als festgelegt in transnationalen Vereinbarungen. Wenn man diese Dreierunterscheidung macht, dann muss man die Frage, ob die Menschenrechte westlich sind, jeweils unterschiedlich beantworten.

Wollen wir mit Punkt eins beginnen?

Ich behaupte, dass es hinsichtlich eines religiösen oder philosophischen Ethos, in dem es um die ganze Menschheit geht und nicht nur um das Wohl des eigenen Volkes oder Staates – oder meinetwegen der eigenen Zivilisation –, Impulse in allen sogenannten Weltreligionen oder achsenzeitlichen Religionen gibt.

Auch im Buddhismus, auch im Islam ...

Ja, aber in den Kulturen, die von diesen Religionen geprägt sind, auch in den christlichen, blieb es eben oft bei einem Ethos – die jeweiligen politischen Institutionen stimmten keineswegs mit dem Geist der Menschenrechte überein.

Von Rechten im eigentlichen Sinne kann also in der Vormoderne noch keine Rede sein. Und zweitens?

Wenn man untersucht, ob und seit wann Staaten auf ihrem Territorium die Menschenrechte zum Maßstab des Rechts erklärten, dann waren das zunächst einmal zwei, nämlich Frankreich und die Vereinigten Staaten im späten 18. Jahrhundert. Von hier gingen dann Impulse auf andere aus. Es handelte sich also keineswegs um alle europäischen Staaten oder den «Westen», was immer das sein soll. Doch auch bei diesen beiden Ländern ist die Diskrepanz zur Wirklichkeit der jeweiligen Gesellschaften riesig. Wenn man USA sagt und nicht die Wirklichkeit der Sklaverei einbezieht, bewegt man sich in einer Phantasiesphäre.

Und drittens?

Wenn man an transnationale Vereinbarungen denkt, dann ist festzustellen, dass diese erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges beginnen. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte stammt aus dem Jahr 1948. In ihrem Fall bestreite ich, dass die Impulse ausschließlich aus westlichen Kulturen stammten. Ein Chinese und ein Araber spielten eine entscheidende Rolle bei der Abfassung des Textes. Auch wenn der Araber ein Christ war: Christentum und Westen sind eben nicht eins – man kann ja heute immer deutlicher sehen, dass das Christentum verstärkt wieder zu einer außereuropäischen Religion wird.

Aber wie westlich sind nun die Menschenrechte?

Wenn man diese Differenzierung in drei Ebenen vornimmt, kommt zweimal «Nein» heraus und einmal «Ja». Ein Ethos der Gemeinschaft aller Menschen findet sich in vielen Kulturen, die Rechtsgarantie zunächst nur in einzelnen westlichen Ländern, der vereinbarte transnationale Maßstab, an dem auch der Westen gemessen wird, global.

Der Westen kann sich also ausschließlich damit schmücken, die Menschenrechte erstmals kodifiziert zu haben.

Ja, das ist so. Im China oder Indien des 18 Jahrhunderts gab es eine solche Kodifizierung nicht.

Im neuen Jahrtausend werden Menschenrechte schnell im Mund geführt. So wie von Obama auf Kuba, nur wenige Kilometer von Guantanamo entfernt.

Man kann es sich leicht machen und sagen: Nichts Gutes ist vor Missbrauch gefeit. Und Heuchelei ist ein Kompliment an die Moral – so hieß es im 19. Jahrhundert. Grauenvoll, wer schon alles seine Handlungen mit dem christlichen Ethos gerechtfertigt hat. So ist es bei den Menschenrechten auch.

Zum Beispiel G.W. Bushs Einmarsch in den Irak.

Absolut – wenngleich seine Begründungen ja gewechselt haben. Menschenrechte, Massenvernichtungswaffen, Export der Demokratie – nichts davon glaube ich. Ich denke, dass man den Heuchlern den Menschenrechtsdiskurs entwinden muss.

Wie denn?

Nur weil der Begriff Demokratie schon so oft missbraucht wurde, wollen wir uns doch diesen Begriff nicht nehmen lassen, oder? Und ich glaube auch nicht, dass es schon so weit ist, dass alle Menschen auf der Welt den Begriff Menschenrechte mit egoistischen amerikanischen Interessen gleichsetzen. Zu einem realistischen Bild der Menschenrechte gehört, immer in Habachtstellung zu gehen, wenn sich jemand vollmundig auf sie beruft. Das ergibt oft ein ziemlich ernüchterndes Ergebnis. Es geht mir gerade nicht darum, den Geist der Menschenrechte zu relativieren, sondern das Selbstbewusstsein des Westens beständig in Frage zu stellen, kulturell in dieser Hinsicht und in irreversibler Weise viel weiter zu sein als der Rest der Welt.

Der Westen hat ja tatsächlich allen Grund, selbstkritisch auf seine Geschichte zu schauen. Wie kann er vor diesem Hintergrund überhaupt als Akteur auftreten, der sich für Menschenrechte starkmacht?

Wenn zwei Staaten kooperieren, und in dem einen Staat ist nach Auffassung des anderen Staates menschenrechtlich sehr viel zu verbessern, dann wird das ein Balanceakt sein – ein prinzipielles Dilemma. Ich sehe einfach nicht, dass sich das in absehbarer Zeit ändern könnte. Ich glaube aber eben auch nicht, dass es eine vernünftige Außenpolitik sein kann, nur mit solchen Staaten zusammenzuarbeiten, die den höchsten Maßstäben der Menschenrechte genügen.

Weil alle Staaten, Deutschland eingeschlossen, nicht moralisch orientiert sind, sondern von Interessen geleitet?

Es gibt keinen Interessendeterminismus, jeder Staat definiert schließlich seine Interessen und findet sie nicht einfach vor. Das gilt auch für den Westen. Wenn man das unterschlägt, heuchelt man. Vor ein paar Monaten ist mir das wieder unangenehm aufgefallen. Im Laufe der Ukraine-Krise wurde darüber debattiert, ob Deutschland mit Putins Russland angesichts der dortigen Menschenrechtslage überhaupt zusammenarbeiten könne. Zur gleichen Zeit war Vizekanzler Gabriel zu Besuch in Saudi-Arabien – und es stand außer Frage, dass man mit Saudi-Arabien kooperieren könne. Das stört mich, weil der Maßstab je nach Fall wechselt. Dabei wissen die Akteure sehr wohl, was sie tun.

Wenn wir bei Akteuren sind – auch die Religionen spielen eine Rolle in der internationalen Politik. Sind die Menschenrechte nicht durch diese bedroht?

Ich weigere mich seit Jahrzehnten, die Frage «Führt Religion zu Gewalt» mit einem simplen Ja oder Nein zu beantworten. Religion ist bekanntlich ein Sammelbegriff, daher muss die Antwort je nach Fall unterschiedlich ausfallen. Religionen handeln auch nicht, das sind immer nur Menschen. Menschen, ob religiös oder nichtreligiös, handeln zudem nie nur aus einem Motiv heraus, sondern immer aus einer komplexen Mischung von Wertorientierungen und Interessenlagen. Und es ist nur wahrscheinlich, dass Menschen Begründungen für ihr Handeln in ihren jeweiligen Weltbildern suchen, auch wenn ihre Motive aus anderen Quellen fließen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Die Palästinenser und Israel, das ist ein geradezu klassischer Fall. Die Palästinenser haben versucht, mit Mitteln des arabischen Nationalismus, des palästinensischen Nationalismus, teilweise mit Mitteln des Marxismus und teilweise mit denen des Islams zu artikulieren, was ihr Anliegen gegen Israel ist. Und eine dieser Rechtfertigungen kann ihre Kraft verlieren, weil der so begründete Widerstand erfolglos bleibt. Dann wird eine andere Gruppe mit einer anderen Fahne sich an die Spitze stellen. Muslime leiten ebenso wenig alles aus dem Koran ab wie Christen je nach der Bibel gelebt haben.

Genau so wird aber derzeit raumgreifend argumentiert.

Ja, leider. Aber genau deshalb ist die Antwort auf die Frage, ob Religion zu Gewalt und der Verletzung der Menschenrechte führt, nicht einfacher zu finden, als ich es in meinen Büchern über Religion und über Krieg versucht habe. ---

Ein Text aus unserem Magazin Böll.Thema 1/2016.