1968 - Unbehagen und Inspiration

Konferenz-Reportage
Demonstration für Pressefreiheit und Demokratie, Belgrad, Juni 1968
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Demonstration für Pressefreiheit und Demokratie, Belgrad, Juni 1968

„Ist dir schon einmal aufgefallen, dass jede halbwegs ernsthafte Unterhaltung das Wort ‚Welt‘ enthält“, sagt Miki auf dem Bahnsteig des Belgrader Bahnhofs. „‘Rund um die Welt‘, ‚aus aller Welt‘, ‚weltweit‘ ... Wenn man schon lebt, sollte man das so gut wie möglich tun.“

„Weltklasse!“ fügte Bane hinzu.

„Ja. Sobald ich genügend Geld beisammen habe, steht mir die Welt offen. Ich gehe ins Ausland, mache ein Vermögen und leiste mir einen entsprechenden Lebensstandard.“

Bane ist ganz anderer Meinung. „Überlege doch mal. Wäre es nicht viel schöner, sich seine eigene Welt dort zu schaffen, wo man geboren und aufgewachsen ist, anstatt ins Ausland zu gehen. Wenn wir beide irgendwann im Altersheim sind, werden ein paar andere Kerle irgendwo in Paris am Gare de Lyon sagen: ‚Nach Belgrad gehen, das wäre jetzt das Richtige!‘“

Bane und Miki sind Protagonisten der TV-Serie „Ungepflückte Erdbeeren“. Manch einer würde diese jugoslawische TV-Serie heute als pure Nostalgie bezeichnen. Sie ging im Jahr 1975 auf Sendung und beschäftigte sich mit den 1960er Jahren, also mit einem äußerst verheißungsvollen und ereignisreichen Jahrzehnt. Paradoxerweise kamen aber die Studentenproteste von 1968, trotz ihrer großen Bedeutung, in dieser Serie kaum zur Sprache. Der Co-Autor und Regisseur der Serie Srđan Karanović sagte in einem Interview der Wochenzeitung „Vreme“, dass sieben Minuten Material aus der neunten Episode entfernt wurden, sieben Minuten, in denen der Hauptprotagonist zu einer studentischen Protestveranstaltung geht und sogar an dem berühmten Kozaračko Kolo teilnimmt, nachdem Tito öffentlich erklärt hatte, dass die Studenten Recht hätten. „Es war eine Zeit, in der niemand etwas verbot. Stattdessen hieß es ‚Ein paar Narren werden sicher etwas dagegen haben. Also haltet euch besser zurück'“, erklärte Karanović.[1][2][3]

Und tatsächlich brachte 1968 ein gewisses Unbehagen mit sich. Es war nicht leicht, sich diese Ambivalenz einzugestehen. Ein Protest gegen die Regierung auf der einen Seite, aber auch ein Protest, der die politische Richtung unterstützte, die das Parteiprogramm vorgegeben hatte. „Wir haben kein bestimmtes Programm“, war der Erklärung zu entnehmen, die vom Block der Philosophischen Fakultät herausgegeben und von den Studenten und Professoren unterzeichnet worden war. „Unser Programm ist das Programm der fortschrittlichsten Kräfte unserer Gesellschaft - das Programm des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens und die Verfassung. Wir fordern seine konsequente Umsetzung.“ Die erste Rebellion, die Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg erschütterte, stellte die augenscheinlichen Prämissen des Sozialismus nicht in Frage, wohl aber die Abweichungen vom versprochenen richtigen Weg. Der Protest führte auch zu einer großen Debatte, sowohl in der Öffentlichkeit als auch innerhalb der Partei. Interessanterweise waren viele der aktiven Teilnehmer gleichzeitig Mitglieder des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens. Alles in allem waren die Proteste eine von eher unguten Gefühlen begleitete aber dennoch subversive Angelegenheit. Im heutigen Kontext, der vom anti-totalitären Paradigma beherrscht wird, ist es immer noch schwierig, den jugoslawischen Juni-Aufstand ohne den Filter einer antisozialistischen Hysterie wahrzunehmen.[4]

Der dritte Pol

Rückblickend scheint es manchmal so, als sei kein Jahr so turbulent gewesen wie das Jahr 1968. Das Bild Europas hatte zur damaligen Zeit mindestens drei Dimensionen. Auf der einen Seite der Kampf gegen die Unterdrückung in der Sowjetunion und die Rebellion westeuropäischer Studenten gegen die Repressionen des Kapitalismus. Und zwischen diesen beiden Polen - Jugoslawien.

Auf dem 7. Europäischen Historischen Forum der Heinrich-Böll-Stiftung, das Mitte März dieses Jahres in Berlin stattfand, hätte ein solcher dreigeteilter Ansatz noch stärker betont werden können, da er die vereinfachende dualistische Sichtweise von Ost und West, an die wir uns in den letzten Jahrzehnten gewöhnt haben, in Frage stellt. Zum Ausgleich wurde lediglich ein eigener Workshop speziell für Jugoslawien angeboten. Die überwiegende Mehrheit der Teilnehmer an diesem Workshop kam dann auch aus dem ehemaligen Jugoslawien.

Jugoslawische Widersprüche

Was ist das Besondere am sozialistischen Jugoslawien, das eine intensivere Beschäftigung sinnvoll erscheinen lässt? Vor allem verdichteten und verschmolzen sich im damaligen Jugoslawien auf ganz eigentümliche Weise die beiden anderen Pole. Sowohl die Machthaber als auch das Volk unterstützten die französischen Studenten und das vietnamesische Volk. Der Prager Frühling traf ebenfalls auf umfassende Zustimmung und in den Medien wurde sowohl über Daniel Cohn-Bendit als auch über Alexander Dubček berichtet.

Und noch eine Sache. Seit 1948 hatte Jugoslawien, unabhängig von der den Ostblock beherrschenden Sowjetunion, seinen eigenen Weg zum Sozialismus eingeschlagen. Dieser Weg beinhaltete den Verzicht auf rigide Planung und Einführung von Selbstverwaltung, die Einrichtung von Institutionen wie Arbeiterräte und lokale Gemeindezentren, die eine Demokratisierung des wirtschaftlichen und sozialen Bereichs ermöglichen sollten. Die Fortsetzung der Reformen führte zu einer Dezentralisierung und zur schrittweisen Einführung einer Marktwirtschaft. So entwickelte sich Jugoslawien zu einem hybriden System, das häufig (und in sich widersprüchlich) als Marktsozialismus bezeichnet wurde.

Alle Revolten, die 1968 weltweit stattfanden, wurden von der jugoslawischen Führung als Indikator für die Richtigkeit des jugoslawischen Weges zum Sozialismus gedeutet.

Es reiften aber neue Generationen heran, die keine Erinnerung an die Mangelwirtschaft vor dem Zweiten Weltkrieg hatten, die andererseits aber sehr wohl mit den Verheißungen des Sozialismus vertraut waren. Im Gegensatz zu Deutschland, wo man 1968 auch die nationalsozialistische Vergangenheit der Elterngeneration zu bewältigen versuchte, nahm der Konflikt in Jugoslawien einen ganz anderen Verlauf. Die Studenten fragten sich, warum ihre Eltern den Aufbau einer umfassend egalitären und demokratischen Gesellschaft aufgegeben und sich stattdessen mit Teilerfolgen zufrieden gegeben hatten. „Die Revolution ist noch nicht abgeschlossen!“ formulierten es die Studenten ganz unverblümt.

Dragomir Olujić Oluja, der der Protestbewegung der Studenten angehörte, erhielt sofort nach der Besetzung der Philosophischen Fakultät ein Telegramm von seinem Vater. „Misch dich da nicht ein. Es gibt Leute, die dafür verantwortlich sind und die Probleme lösen werden!“, hieß es in dem Schreiben. Oluja fragte daraufhin seinen Vater, der schon 1941 in die Reihen der Partisanen eingetreten war, wie dieser damals auf ähnliche Warnungen reagiert hätte. Der Rahmen des Erreichten war eindeutig zu eng für die großen Erwartungen, die in den neuen Generationen erwacht waren.

Die wirtschaftlichen Reformen, die nach und nach eingeführt wurden, bildeten das Hauptproblem. Bereits 1950 wurden die einzelnen Teilrepubliken mit der Lenkung der Wirtschaft betraut, und ab 1958 gewannen einzelne Unternehmen, die ihre Erträge eigenständig verwalten durften, immer mehr an Bedeutung. Diese Form der Dezentralisierung trug dazu bei, den Einfluss von Marktmechanismen zu vergrößern und den Wettbewerb zwischen den Unternehmen und auch unter den einzelnen Teilrepubliken zu verschärfen. Nach der Wirtschaftsreform von 1965 nahmen diese Tendenzen nur noch weiter zu, was zu Massenentlassungen und tief greifenden gesellschaftlichen Verwerfungen führte. Die Nomenklatura verwies auf die Tatsache, dass sich Unternehmen in den Händen der Arbeiterräte befanden und deshalb weder Privat- noch Staatseigentum sondern gesellschaftliches Eigentum darstellte. Dieser Sachverhalt sollte als sichtbares Zeichen der Richtigkeit der Selbstverwaltung im Sozialismus gelten, aber die Studenten ließen sich davon nicht täuschen.

„Nieder mit der roten Bourgeoisie!“

„Selbstverwaltung von unten nach oben!“

„Arbeitsplätze für alle!“

Dies waren einige der Parolen, welche die Proteste im Jahr 1968 in Jugoslawien begleiteten.

Überwindung des Unbehagens

Was die Partei anbelangt, so sah sie sich mit einem Problem konfrontiert, das darin bestand, dass die Rebellion über ihre Reihen hinaus eskalierte. Polemisieren ist in Ordnung, aber es muss in einer kontrollierten Umgebung geschehen. Sobald es auf der Straße geschieht, wird die Sache ernst. Warum sollten schließlich die Bürger eines erfolgreichen sozialistischen Landes rebellieren, indem sie mehr Sozialismus forderten? Ein Paradox. In ähnlicher Weise nahmen in der Folge auch die Streiks der Arbeiter zu. Wenn wir doch Selbstverwaltungssozialismus haben, warum protestieren dann die Arbeiter?

An dieser Stelle könnten wir nochmals auf Miki und Bane vom Anfang des Textes zurückkommen. Die Krise, die die Gesellschaft erschütterte, war so tief, dass die studentische Jugend nur zwei mögliche Wege beschreiten konnte. Bei den immer schlechter werdenden Jobaussichten konnte man entweder „ins Ausland gehen, um an Geld zu kommen“ oder man konnte bleiben und den Kampf um ein besseres Leben an Ort und Stelle fortsetzen. Millionen von Jugoslawen entschieden sich für den ersten Weg und wurden zum großen Teil Gastarbeiter in Deutschland. Sie arbeiteten hart in Niedriglohnjobs, um ihren Familien in der Heimat Geld schicken zu können.[5]

Die Anderen, die geblieben waren, setzten ihren Kampf fort.

Darin liegt ein weiteres, aus dem Jahr 1968 stammendes Unbehagen begründet. Nach diesem Jahr waren Massenaufstände zunehmend durch nationale Bestrebungen geprägt. Man kann nicht sagen, dass 1968 ein Wendepunkt gewesen sei. Die Reformen, die den Wettbewerb der Teilrepubliken eingeführt und zur Auflösung der Solidarität geführt hatten, hatten bereits viel früher den Grundstein für einen nationalistischen Umbruch gelegt. Mit Sicherheit lässt sich sagen, dass 1968 wohl das letzte Beispiel einer Massenrevolution mit einem utopischen Horizont in Jugoslawien gewesen ist. Waren die Proteste von 1968 ein Erfolg in Bezug auf die Erfüllung der damals gestellten unmittelbaren Forderungen? Wahrscheinlich nicht. Aber sie bleiben als ein Erfolg in Erinnerung, insofern sie als Symbol für einen Kampf stehen, der anders war als alles, was wir in den letzten drei oder vier Jahrzehnten erlebt haben: Ein Kampf für eine mögliche andere Welt.

 

[1] Die Serie lief ursprünglich unter dem Titel „Grlom u jagode“ und war im gesamten ehemaligen Jugoslawien ein großer TV-Erfolg. Sie hatte 10 Folgen, von denen jede ein Jahr in der Zeit von 1960 bis 1969 darstellte, eine Geschichte über das Erwachsenwerden, die aus der Sicht ihres Hauptprotagonisten Bane erzählt wurde - Anmerkung des Übersetzers.

[2] Eine Art von traditionellem Reigentanz, der besonders von jugoslawischen Partisanen während des Befreiungskampfes im Zweiten Weltkrieg populär gemacht wurde - Anmerkung des Übersetzers.

[3] In einer im Fernsehen übertragenen Erklärung vom 9. Juni 1968 räumte Josip Broz Tito Fehler der kommunistischen Führung ein und unterstrich, dass die damalige Lage nicht einer internationalen Bewegung sondern vielmehr einer Vielzahl eigener Fehler zuzuschreiben war, die nun behoben werden müssten. Titos Rede markierte effektiv das Ende der Proteste. Viele Studenten führten Reigentänze auf und jubelten Tito zu -  Anmerkung des Übersetzers.

[4] „Juni-Aufstand“ (Originaltitel: „Lipanjska gibanja“) ist der Titel eines kurzen Dokumentarfilms von Želimir Žilnik aus dem Jahr 1969, der den Studentenprotest von 1968 darstellte - Anmerkung des Übersetzers.

[5] Der deutsche Begriff „Gastarbeiter“ bezieht sich hauptsächlich auf ein formales Beschäftigungsprogramm in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein bilaterales Rekrutierungsabkommen mit Jugoslawien wurde 1968 unterzeichnet und zog viele Arbeitnehmer an, die in Westdeutschland leben und arbeiten wollten - Anmerkung des Übersetzers.