Der Panzer zielte auf Kafka – Heinrich Böll in Prag im Jahr 1968

Interview

Auszug aus einem Interview mit René Böll, das Eva van de Rakt, Leiterin des Prager Büros, im Rahmen des Europäischen Geschichtsforums der Heinrich-Böll-Stiftung am 14. Mai 2018 geführt hat.

Prag 1968: Panzer mit sowjetischen Soldaten, im Hintergrund die Fassade des Nationalmuseums
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Prag 1968: Panzer mit sowjetischen Soldaten, im Hintergrund die Fassade des Nationalmuseums

Eva van de Rakt: Im August 1968 besuchte René Böll mit seinen Eltern, Annemarie und Heinrich Böll, Prag. Heinrich Böll war auf Einladung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbands nach Prag gekommen, weil er das tschechoslowakische Modell eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ kennenlernen wollte, mit dem er große Hoffnungen für ganz Europa verband.

Stattdessen wurden Heinrich, Annemarie und René Böll in der Nacht zum 21. August Zeugen der Niederschlagung des „Prager Frühlings“. In einem Interview am 24. August für die Literární listy, die Literarischen Blätter, sprach Heinrich Böll davon, dass das Modell der Hoffnung vernichtet worden war.

In seinem Essay „Der Panzer zielte auf Kafka. Vier Tage in Prag“, beschrieb Heinrich Böll eindrücklich die Erlebnisse dieser Tage und die Faszination, die von dem in seinen Worten permanenten, geschlossenen, unbewaffneten Widerstand ausging.

1968, lieber René, warst Du 20. Wie hast du die Niederschlagung des Prager Frühlings erlebt?

René Böll: Wir sind ja erst am Abend vorher nach Prag gekommen, sind abends acht, neun Uhr in Prag gewesen, am 20. August, und haben dann während der Nacht die Flugzeuge gehört, uns aber eigentlich nichts dabei gedacht. Dann kam morgens jemand zu uns, relativ früh – um sieben Uhr, war ja ungewöhnlich –, klopfte an die Tür und sagte: „Wir sind besetzt.“ Wir haben das erst gar nicht verstanden. Wir haben dann kurz danach die Schüsse gehört, und dann wussten wir auch, was passiert war. Das zeigt eines der Fotos, die ich damals gemacht habe.

Wir haben direkt am Wenzels-Platz gelebt. Ich bin dann sehr viel alleine losgezogen, um mir das anzusehen – auch zum Teil zum Schrecken meiner Eltern natürlich. Die wussten, was passieren kann in Kriegssituationen oder in diesen Situationen. Aber sie haben es toleriert, muss ich sagen.

Eva van de Rakt: Es gibt in dem Essay „Der Panzer zielte auf Kafka“ eine Stelle, die ich gerne vorlesen würde, weil sie sehr interessant ist und die Geschichte mit den Fotos sehr gut beschreibt: „Das Hus-Denkmal am Altstädter Ring trug eine Augenbinde. Ein junger Mann, offenbar Westdeutscher und kein Journalist, wurde beim Fotografieren erwischt. Ein sowjetischer Soldat kam quer über den Platz vom Hus-Denkmal her auf den jungen Mann zu, der unter den Kolonnaden stand. Der Soldat hielt ihm die Maschinenpistole vor die Brust und verlangte die Kamera. Dem sowjetischen Soldaten war nicht wohl. Uns war auch nicht wohl. Ich hätte die Kamera sofort herausgerückt, selbst bei der Chance eins zu einhunderttausend, dass er nicht schießen würde. Es hat zu schnell einer, wenn auch nur aus Überreiztheit, den schwachen Druckpunkt einer MP durchgedrückt. Ich riet dem jungen Mann, die Kamera herauszurücken. Er wollte nicht.“ – Du warst der junge Mann.

René Böll: Ja. Mein Vater wollte das nicht so persönlich auf die Familie beziehen, sondern… Die Situation hat es ja öfter gegeben. Ich war der „junge Mann“. Ich muss auch sagen: Ich war damals zwanzig. Heute würde ich es nicht mehr so machen. Heute würde ich die Kamera sofort abgeben, auch jedem anderen dazu raten. Es sind ja wirklich Leute deswegen erschossen worden. Das war’s eigentlich nicht wert. Aber ich war eben auch stur und wollte mich dieser Macht auch nicht beugen.

Ich habe ja die durchaus ungeheure Brutalität erlebt, wie die russischen Truppen vorgegangen sind. Die sind ja einfach über Autos und Busse gefahren. Ich war bei den Kämpfen am Rundfunk dabei, wo fünfzehn Leute gestorben sind. Es war ja nicht so harmlos, wie es oft dargestellt wird. Es gab Stellen, wo viele Leute gestorben sind. Auf mich ist auch geschossen worden. Ich habe das also auch miterlebt, dachte aber doch: Ich will mich dieser Macht nicht beugen! Es hat dann lange Diskussionen gegeben.

Es kamen dann viele Leute zusammen: Zigeunerfamilien, wie man damals sagte, heute sagt man Sinti und Roma. Mein Vater hat noch „Zigeuner“ geschrieben, weil das damals der übliche, nicht diffamierende Ausdruck war. Die kamen dazu. Die haben dann die Maschinenpistole weggedrückt von mir und lange diskutiert. Dann ist der russische Soldat später auch weggegangen – ohne Kamera.

Eva van de Rakt: Das ist der Grund dafür, dass wir die Bilder heute sehen können. Du hast nicht nur Situationen fotografiert, du hast auch viele Flugblätter mitgenommen. Was hat dich bei diesen Flugblättern am meisten fasziniert?

René Böll: Also einmal die Fantasie, die damit verbunden war. Es waren ja zum Teil viele handgeschriebene Flugblätter, weil die Leute keine Möglichkeit hatten zu drucken. Sie waren von vielen Künstlern gemacht. Und es war eine ungeheure Menge an Flugblättern. Die ganze Stadt war voller Flugblätter. Es waren auch sehr lustige dabei. Die Situation wurde aber immer ernster. Man merkte doch: Jetzt ist für lange Zeit dieser Frühling vorbei.

Eva van de Rakt: Ich habe es schon zu Beginn erwähnt: Heinrich Böll hat mit dem Sozialismus mit menschlichem Antlitz große Hoffnungen verbunden. Was hat diese Erfahrung in Prag bei ihm ausgelöst?

René Böll: Bei ihm hat es eine große Resignation ausgelöst. Er hat sich aber immer sehr für die Freiheit eingesetzt. Für ihn war ja die Freiheit der Menschen ganz wichtig. Das war für ihn das absolut oberste Gebot. Da gab’s gar kein Vertun. Ob das ein Pinochet in Chile war oder ein Gorbatschow oder wer auch immer oder eben Breschnew damals in Russland. Das war für ihn absolut egal. Oder ein Diktator in Afrika.

Er hat sich immer für die Freiheit der Leute ohne jeden Kompromiss eingesetzt. Und da war er ziemlich alleine in Deutschland, muss man leider sagen. Da gab es nicht so viele, die das gemacht haben. Die Linken haben gesagt: Die Mauer ist vielleicht nicht grade so gut, aber irgendwie muss man das verstehen. Es gab ja sehr merkwürdige Diskussionen. Menschenrechtsverletzungen im Osten waren nicht so schlimm wie im Westen. Das war für meinen Vater vollkommener Schwachsinn. Ist es ja auch. […]

Den eigenen Erinnerungen soll man nicht so sehr trauen. Das hat sogar mein Vater auch selber einmal geschrieben in einem Buch, das er über seine Kindheit oder Jugend geschrieben hat. Die sind natürlich gefärbt, die sind überlagert von dem, was man später gelesen, gelernt hat. Man wird auch älter. Und immerhin: Fünfzig Jahre sind auch eine sehr lange Zeit. Für mich war schon wichtig, es noch mal zu lesen.

Ich habe bei der Publikation [über den Prag-Aufenthalt 1968] erstmals die Tagebuch-Aufzeichnungen meines Vaters gelesen, die er damals vor Ort angefertigt hat. Er hat eigentlich immer kleine Notizen gemacht. Er hat in diesen Tagebuch-Aufzeichnungen natürlich keine Namen genannt, fast keine Namen, weil: Wenn man ihm diese weggenommen hätte an der Grenze, wäre das für die Leute problematisch geworden. Er hat aber schon sehr viel geschrieben, wie die Erlebnisse waren.

Auch wie sie mit mir umgegangen sind, dass sie einerseits Angst hatten, wenn ich alleine loszog. Es aber auch verstanden haben. Er wusste halt, man kann bei so einer Sache nicht im Hotel sitzen bei einem schönen Glas Wein oder wie auch immer. Das kann man einfach nicht. Da muss man dabei sein. Da will man sehen, was passiert. Und wir waren ja mitten im Geschehen. Es war ja wirklich sehr dramatisch – grade am Wenzels-Platz, wo wir ja auch damals gewohnt haben. Ich fand auch die vielen tschechischen Reaktionen interessant. Das kannte ich auch nicht alles; auch die Interviews, die er gegeben hat.

Es wurde für mich immer wieder sehr deutlich, dass für ihn – eigentlich fast als einzigen – Freiheit das Absolute ist, das Wichtigste.