Zürich auf dem Weg zur 2000-Watt-Gesellschaft

Die Bevölkerung der schweizerischen Stadt Zürich entschied in einer Volksabstimmung im Jahr 2008 mit Dreiviertelmehrheit, sich auf den Weg in eine 2000-Watt-Gesellschaft zu machen. Das ist eine Stadtentwicklungsstrategie, die auf drastischen Einsparungen von Energie und CO2 beruht. Diese Entscheidung wurde in der Zwischenzeit mehrmals bestätigt und der Weg beschritten. Ein Gespräch mit Bruno Bebié, Energiebeauftragter der Stadt Zürich, über die Herangehensweise und Etappenziele.

Podiumsdiskussion auf dem 5. Kommunalpolitischer Bundeskongress der Heinrich-Böll-Stiftung
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Bruno Bebié (2. v. li) auf dem 5. Kommunalpolitischer Bundeskongress der Heinrich-Böll-Stiftung

Sabine Drewes: Jede/r Züricher/in soll im Jahr 2050 nur 2000 Watt Dauerleistung Energie verbrauchen. Das entspricht einer Tonne CO2-Ausstoß pro Kopf und Jahr und ist so eingängig wie ambitioniert. Wo kommt die Zielformulierung her? Wie wird sie gemessen?

Bruno Bebié: Die Wissenschaftler Kesselring und Winter hielten bereits 1994 auf der Basis von ökologischen Prämissen fest, dass der damals weltweite durchschnittliche Energieverbrauch von 2000 Watt Dauerleistung auf Primärenergiestufe pro Person nicht weiter ansteigen soll. Vier Jahre später beschloss der Rat der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich in einer Strategie zur Nachhaltigkeit das Projekt “2000-Watt-Gesellschaft – Modell Schweiz“.

Der Bundesrat legte anschließend im Bericht “Strategie Nachhaltige Entwicklung“ neben dem Zielwert 2000 Watt Dauerleistung (Stufe Primärenergie) einen Zielwert von 1 Tonne CO2 pro Person und Jahr fest. 2004 belegten 10 Schweizer Wissenschaftler in einem „Weißbuch“ zur 2000-Watt-Gesellschaft, dass die Umsetzung einer 2000-Watt-Gesellschaft in Industrienationen technisch-naturwissenschaftlich möglich ist.

Die Messung der Vorgaben und der laufenden Zielerreichung erfolgt auf der Basis von Daten zum Endenergieverbrauchs der einzelnen Energieträger. Für jeden Energieträger werden aufgrund laufend aktualisierter Ökobilanzdaten mittels Primärenergiefaktoren und Treibhausgasfaktoren über den gesamten Energiebereitstellungsprozess der Primärenergiebedarf und die Treibhausgasemissionen pro Energieeinheit berechnet. Die dafür grundlegenden Daten und das Bilanzierungsprinzipien sind öffentlich. Die Bilanzierungsprinzipien sind auf die Datenverfügbarkeit verschiedenen Systemgrenzen (Privatperson, Gebäude, Areale, Städte und Gemeinden, Nationen) abgestimmt.

Die Bürger/innen der Stadt haben 2008 in einer Volksabstimmung zu drei Vierteln dem 2000-Watt-Ziel zugestimmt, und das, obwohl die damit verbundenen Maßnahmen auch Einschränkungen und ggf. höhere Energie-/Wärmepreise mit sich bringen. Wie kommt das? Ist der Beschluss langfristig bindend?

Die Stadt Zürich war mit ihrem öffentlichen Bekenntnis – und vor allem bei der Festlegung des Zeitpunkts, wann diese Ziele erreicht sein sollen - zwar Vorreiterin, sie ist aber heute in bester Gesellschaft. Verschiedene Städte und Gemeinden in der Schweiz haben die 2000-Watt-Frage vor das Volk gebracht. Sie fand mehrheitlich, aber nicht überall Zustimmung. Auch die Mehrheit der Kantone und der Bund orientieren sich heute bei ihrer Energiepolitik an den 2000-Watt-Vorgaben.

Ob und wie stark die mit der Umsetzung verbundenen Maßnahmen zu Einschränkungen bzw. höheren Gebäudekosten (bei Effizienzmaßnahmen) bzw. höheren Energiepreisen (beim Wechsel zu erneuerbaren Energien) führen, hängt von den Anwendungsfällen und den in der Schweiz bzw. in der Stadt Zürich geltenden gesetzlichen Vorgaben bzw. von Fördermaßnahmen ab.

Im Neubaubereich sind die von den Kantonen definierten Gebäudestandards bereits weitgehend 2000-Watt-kompatibel. Im Gebäudebestand ist der Energieträgerwechsel hin zu erneuerbaren Energien oft auch nicht mit massiven Mehrkosten verbunden, weil auf Bundesstufe 2008 eine CO2-Abgabe auf Brennstoffen eingeführt wurde, die in Abhängigkeit des Erfüllungsgrades der nationalen Treibhausgasvorgaben bis heute auf 84 CHF pro Tonne CO2- Ausstoß erhöht wurde.

Zudem werden Wärmepumpen bei Verwendung von erneuerbarem Strom mit Fördermittel der Stadt Zürich mit rund 45 CHF pro vermiedener Tonne CO2 subventioniert.  Auch der aufgrund hoher Immobilien-Mietpreise geringe Energiekostenanteil und die politische Orientierung der Stadtzürcher Bevölkerung, die in der rot-grünen Mehrheit in der städtischen Exekutive zum Ausdruck kommt, dürften für die hohe Akzeptanz der 2000-Watt-Ziele eine Rolle spielen.

Zudem wird Zürich seit Jahren als Stadt mit einer sehr hohen Lebensqualität wahrgenommen, wozu auch erneuerbare Energien, ein großzügiges Angebot des Öffentlichen Verkehrs und viele Grünräume wichtige Beiträge leisten. Unter diesen Voraussetzungen sind die Hürden für einen Ausstieg aus der 2000-Watt-Gesellschaft als hoch zu veranschlagen, weil dies eine erneute Volksabstimmung voraussetzen würde.

Themenkarte zur Differenzierung des Energiesystem-Mixes im Jahr 2050. Aus dem Planungsbericht Energieversorgung Stadt Zürich Stadtratsbeschluss 1077/2016 (Beilage 3, S. 110)

Aus der Berichterstattung zum Energiekonzept geht hervor, dass die größten Einspar- und Transformationspotenziale im Gebäudesektor und im Verkehr liegen. Das sind bekanntlich auch die härtesten Nüsse. In Deutschland kommt die energetische Gebäudemodernisierung weitaus langsamer voran als nötig, weil die Eigentümer/innen die Investitionen scheuen. Wie gehen Sie in Zürich damit um?

Die Sanierung des Gebäudebestandes ist auch bei uns eine harte Nuss. Aus diesem Grund haben wir ja 2010 mit kommunalen Mitteln auch einen zehnjährigen Forschungsschwerpunkt lanciert, der u.a. auch auf das Schwerpunktthema „Auflösung des Sanierungsstaus im Gebäudebestand“ fokussiert.

In der Schweiz herrscht seit Jahren die Meinung vor, dass die energetische Sanierungsrate im Wohnungsbereich trotz Fördermaßnahmen der öffentlichen Hand nur knapp 1% pro Jahr beträgt, was für die 2000-Watt-Vorgaben natürlich ungenügend ist. Allerdings ist die energetische Sanierungsrate schwer zu messen. Eine detaillierte Studie zur baulichen Erneuerung in der Stadt Zürich hat aufgezeigt, dass dieser Wert im Fünfjahresdurchschnitt von 1,19% p.a. (2000-2004) auf 1,95% p.a. (2011-2015) gestiegen ist.

Über die Gründe für diesen Anstieg (z.B. tiefes Zinsniveau, hohe Wohnungsnachfrage usw.) kann mehrheitlich nur spekuliert werden, aber ein zunehmend wichtiger Einflussfaktor ist statistisch belegbar: Die Bevölkerung der Stadt Zürich wächst seit einiger Zeit stark und dieser Trend soll gemäß Stadtplanung bis 2050 anhalten.

Dieses Wachstum kann in der Stadt Zürich nur mit einer inneren Verdichtung bewältigt werden. Das führt im Zusammenspiel mit bereits hohen bestehenden Ausnutzungsreserven in der Bau- und Zonenordnung bei einem Bestand von rund 200‘000 Wohnungen zu rund 1000 Ersatzneubauten-Wohnungen pro Jahr (2011-2015).

Für diese Ersatzneubauten gelten die gesetzlichen Neubauvorschriften, d.h. deren Energieverbrauch sinkt - verglichen mit dem Bestand – rund um den Faktor vier und deren Energieversorgung erfolgt i.d.R. überwiegend mit nicht-fossilen Energien.

Von derzeit 80% Wärme aus Gas und Öl zu mehr als 80% regenerativer Wärme laut Energieversorgungskonzept 2050 ist es ein recht weiter Weg. Welche Ausbauschritte hin zu weitgehend erneuerbarer Wärme verfolgen Sie? Was sind die Ausbauetappen? Wie kommen Sie bei den niedrigen Ölpreisen mit dem Ausbau regenerativer Wärme voran?

Mit der im Dezember 2016 vom Stadtrat beschlossenen neuen kommunalen Energieplanung sehen wir für die nächsten zwei Jahrzehnte einen massiven Ausbau von leitungsgebundenen Energieversorgungssystemen mit vorwiegend erneuerbaren Energien bzw. nicht-fossilen Energien vor.

Die wichtigsten lokal verfügbaren erneuerbaren Energien stammen aus dem Seewasser, dem gereinigten Abwasser, dem Grundwasser, dem Erdreich und von der Sonne. Diese Energien werden zentral (mit leitungsgebundenen Systemen) und auch dezentral (oft mit Wärmepumpen) genutzt werden.

Der Ausbau der leitungsgebundenen Systeme (Fernwärme und Energieverbunde) zur Nutzung erneuerbarer Energien ist angebotsseitig mit hohen Investitionsrisiken verbunden, da Anschlusstempo und  –volumen bestenfalls indirekt beeinflusst werden können. Nachfrageseitig finden Fernwärme und Energieverbunde bei Kunden und Kundinnen nur dann Akzeptanz, wenn die Bonität der Anbieter längerfristig gesichert ist.

Daher stehen als Anbieter die beiden stadteigenen Energieanbieter im Fokus, die mit Ihren Energiedienstleistungsabteilungen solche Risiken auf der Basis politisch legitimierter Beschlüsse bewusst in Kauf nehmen und auch über die notwendige Bonität verfügen.

Da die Wirtschaftsstruktur der Stadt Zürich dienstleistungslastig ist und einen zunehmenden Kältebedarf aufweist, bieten diese Energiedienstleister oft gleichzeitig Wärme- und Kälte aus erneuerbaren Energiequellen an, weil diese Angebote i.d.R. auch beim heutigen Energiepreisniveau eher wirtschaftlich sind.

Im Züricher Energiekonzept spielt Müllverbrennung eine wesentliche Rolle, die als regenerative Energie gewertet wird. Man könnte Müllverbrennung auch als Verbrennung von Erdöl nach einem kurzen Verpackungsmaterial-Zyklus betrachten. Was würden Sie darauf entgegnen?

Ich würde antworten, dass das Erdöl bei der Kunststoffproduktion in den Stoffkreislauf gelangt und die Mülldeponierung im Vergleich zur -verbrennung ja wohl keine ernsthafte Alternative ist. Persönlich bin in dieser Frage aber sehr pragmatisch: Die Vorgaben der 2000-Watt-Gesellschaft beinhalten nur Ziele für den Primärenergie-Verbrauch und die CO2-Emissionen.

Mit anderen Worten: Die Definition der Müllverbrennung als regenerative oder nicht-regenerative Energie ist für mich – wie auch bei der Abwärme aus der Kälteproduktion mit fossilem Strom – irrelevant. In der Stadt Zürich wird seit rund 90 Jahren Müll verbrannt, in der Schweiz herrscht seit Jahrzehnten ein Mülldeponieverbot und das Recycling erreicht - zumindest in der Deutschschweiz - Spitzenwerte.

Wenn unter diesen Rahmenbedingungen die Nutzung von bei der Müllverbrennung ohnehin entstehender Abwärme in Fernwärmeversorgungssystemen zu einem Ersatz fossiler Energie bei Gebäudeheizungen führt, dann ist dies in meiner Optik ein Zielbeitrag zur Umsetzung der 2000-Watt-Gesellschaft.

Einer, der zudem noch den Vorteil hoher Vorlauftemperaturen aufweist, d.h. nicht zwingend teure Gebäudehüllensanierungen bei den angeschlossenen Objekten voraussetzt und damit im Bestand von Sozialwohnungen oder bei denkmalgeschützten Gebäuden nicht-energetische Vorteile aufweist.

An den ländlichen Müllverbrennungsstandorten in der Schweiz verpufft ja heute noch ein großer Teil der Abwärme ungenutzt, weil die Nutzung von Abwärme wirtschaftlich und energetisch nur in dicht bebauten Ballungsgebieten zu rechtfertigen ist. Deshalb würde in meiner Einschätzung schweizweit für den Betrieb der städtischen Fernwärmesysteme auch ein Müllvolumen ausreichen, das massiv unter den heutigen schweizerischen Volumina liegt.

Denn selbstverständlich dürfen durch solche Fernwärmesysteme die Bemühungen zur Eindämmung des Kehrichtvolumens nicht kannibalisiert werden. Dies versuchen wir in Zürich dadurch zu gewährleisten, indem die Müllverbrennung über hohe, verursachergerechte Abfallgebühren finanziert wird, der Preis der Abwärme für die Fernwärme aber nur einen Bruchteil der fossilen Energiepreise beträgt.

Bruno Bebié, Energiebeauftragter der Stadt Zürich

Welche Schwerpunkte setzt Zürich in der Verkehrswende? Wie weit sind Sie in Bezug auf Dekarbonisierung und auf mehr Lebensqualität in Städten gekommen?

In einem wirtschaftlichen Zentrum mit einer Größe wie Zürich kann das Verkehrsthema aufgrund der Pendlerströme nur mit Blickwinkel auf ein größeres Agglomerationsgebiet und mit einer übergeordneten Finanzierung durch Bund, Kanton und Stadt erfolgversprechend angegangen werden.

In der Gross-Agglomeration Zürich mit rund einer Million Einwohnern ist das öffentliche Verkehrsangebot seit 1990 massiv ausgebaut worden. Daher war 2014 das durch die regionalen S-Bahnen bewältigte ÖV-Volumen rund 2,75 mal höher als 1990, während der MIV praktisch stagniert hat.

Diese Entwicklung zeigt sich auch bei der Mobilität innerhalb des Stadtgebiets: Drei Viertel der Zürcher Wohnbevölkerung wählten als Hauptverkehrsmittel 2015 vorrangig und regelmässig den ÖV, sei es ausschließlich (47 %) oder in Kombination mit anderen Verkehrsmitteln (29 %).

Der Anteil der Kombination ÖV und Velo nimmt im betrachteten Zeitraum konstant zu. Das Velo und das Auto werden dagegen nur von etwa einem Viertel regelmässig genutzt, wobei die Velonutzung (allein oder in Kombination) in den letzten Jahren leicht zunahm. In diese Bild passt auch die Tatsache, dass rund die Hälfte der Stadtzürcher Haushalte gar kein eigenes Auto mehr besitzen.

Dazu mag teilweise auch die kommunale Verkehrspolitik beigetragen haben. Die Kapazität für den MIV ist seit langem trotz steigender Bevölkerungs- und Arbeitsplatzzahlen nicht erhöht worden. Erreicht wurde dies durch den Verzicht auf einen Ausbau des Straßenverkehrsnetzes sowie eine entsprechende restriktive Parkie­rungspolitik und eine Verkehrssteuerung.

Zürich hat einen durchschnittlichen Wohnflächenverbrauch von 39m2 pro Kopf. Das ist verglichen mit Deutschland unterdurchschnittlich. Sind dafür allein die hohen Immobilien- und Mietpreise in Zürich verantwortlich, oder steckt dahinter eine wohnungspolitische Strategie? Oder ist der Suffizienz-Gedanke in der Schweiz schon besser durchgedrungen?

2008 hat der Stadtrat von Zürich bei der Genehmigung des damaligen Masterplans Energie ein politisches Commitment zur Suffizienz als Handlungsfeld abgegeben. Trotzdem ist Suffizienz in der Schweizer Energiepolitik noch ein zartes Pflänzchen, weil sie den privaten Handlungsbereich der Bevölkerung stark tangiert und - abgesehen von Pioniergruppen - entsprechend auf Akzeptanzprobleme stößt.

Allerdings liegt die Wohnfläche pro Kopf trotz überdurchschnittlichen Einkommen der Haushalte in Zürich deutlich unter dem Schweizer Durchschnitt. Die Gründe vermutet ich teilweise bei den hohen Mietpreisen, aber auch beim vergleichsweise sehr hohen Anteil von städtischen und genossenschaftlichen Wohnungen, die oft unter den Marktpreisen, aber i.d.R. mit Belegungsquoten vermietet werden.

Was sollten Ihrer Meinung nach deutsche Kommunen von Zürich lernen?

Ob sich alle unsere in meinen Augen zentralen strategischen Maßnahmen unbesehen auf  den  deutschen Kontext übertragen lassen, kann ich nicht beurteilen. Daher will ich es folgendermaßen formulieren: Wenn folgende Ansätze in größeren deutschen Kommunen noch nicht oder nicht mehr umgesetzt sind, sollten die Entscheidungsträger diese für ihren lokalen Kontext prüfen.

Politische Verankerung der Langfrist-Ziele, - methodisches Konzept mit Anwendbarkeit auf allen relevanten energiepolitischen Ebenen, stadtweites Umsetzungsprogramm - Masterplan Energie, Engagement kommunaler Energieversorgungsunternehmen für die Transformation hin zu erneuerbaren Energien (Strom, Energiedienstleistungen/Contracting, Fernwärme ,Gas), behördenverbindliche Kommunale Energieplanung, öffentliches Monitoring der Zielerreichung.

Und eine Kommunikationsstrategie mit Integration von konkreten Umsetzungsbeispielen sollte auch nicht fehlen.

 

Bruno Bébié ist Energiebeauftragter der Stadt Zürich. In dieser Tätigkeit ist er u.a. verantwortlich für die energiepolitische Langfriststrategie, die Koordination der kommunalen Energiepolitik, die strategische Beratung von Dienstabteilungen zu Energieprojekten.